Mit ihren wurstigen Fingern zog die dicke Frau im geblümten Kleid die helle, fettige Haut von dem gekochten Hühnchen, das sie kurz zuvor an einem der vielen Stände am Moskauer Bahnhof Jaroslaw erworben hatte, ab. Die aus Aserbaidschan stammende Frau nahm das halbe Abteil ein, hatte sich schnell eingerichtet und legte ihre Utensilien unter das Bett, in die Ablagen und auf den kleinen Tisch am Fenster. Auf ihrem Schoß breitete sie ein Handtuch aus, legte sorgfältig ein paar Taschentücher und ein Klappmesser neben das besagte, fahl gekochte Hühnchen und begann, die Haut flink vom Fleisch abzuziehen.
Beim ersten Mal gab´s gepelltes Hühnchen im Abteil
Ihr ausgewachsener Sohn saß neben ihr, schaute aufmerksam zu und reichte der Mutter hin und wieder ein Stück Zellstoff, damit sie sich beim Innehalten kurz die Hände abwischen konnte.
»Essen! Macht doch bitte die Abteiltür zu...«, teilte man meinem Reisepartner und mir im barschen Ton auf Russisch mit.
Jan und ich zogen die Abteiltür hinter uns zu, ließen das Schloss einrasten und setzten uns behutsam gegenüber der aserbaidschanischen Frau und ihrem Sohn auf das Bett und schauten ihr dabei zu, wie sie das Hühnchenfleisch zerriss, sich bei dieser Tätigkeit hin und wieder einen Hautfetzen in den Mund steckte, und es auf vier ausgebreitete Servietten legte.
In wenigen Minuten würde der Zug den Bahnhof verlassen. Draußen auf dem Gang herrschte noch reger Verkehr. Die Fahrgäste hievten ihr Gepäck in die Abteile und verabschiedeten sich von ihren Bekannten und Verwandten auf dem Bahnsteig.
Jan und ich saßen in einem russischen Waggon des Zuges Nummer 4, der über Irkutsk und Ulaanbaatar nach Beijing fuhr. Unser erstes Etappenziel war Irkutsk, und die Fahrgäste kamen aus den verschiedensten Regionen der ehemaligen Sowjetunion: Turkmenistan, Kasachstan, Kirgisien, Aserbaidschan und Russland. Zudem belegten ein paar Mongolen die beiden vorderen Abteile des Waggons.
Es war unsere erste Fahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn, und bereits die Anreise mit dem Nachtzug von Berlin über Warschau und Minsk nach Moskau war spannend. Überrascht waren wir von der großen Händleraktivität mitten in der Nacht auf dem Grenzbahnhof Brest zwischen Polen und Weißrussland. Frauen mit Kopftüchern stürmten mit Einkaufsbeuteln und geflochtenen Körben die Gänge des Zuges und rissen die Abteiltüren auf. Flehend winkten ältere Frauen vom Bahnsteig aus mit Milch- und Bierflaschen. Andere priesen Gebäck oder Gemüse an. Wiederum andere zogen Zeitschriften mit anstößigen Fotos aus ihren Jacken hervor.
Die Grenze zwischen Weißrussland und Russland verschliefen wir jedoch. Eine Pass-kontrolle zwischen beiden Staaten gab es seit einem Nachbarschaftsabkommen nicht mehr. Immerhin verlangten die Weißrussen ein Transitvisum, das man vorher beim Konsulat beantragen musste.
Nach einem Tag in der russischen Hauptstadt ging es abends um 23:30 Uhr weiter mit dem Zug Nummer 4 in Richtung Irkutsk, Ulaan Baatar und Beijing. Bis kurz vor dem Bereitstellen des Zuges auf dem Bahnhof Jaroslaw, wusste niemand, von welchem Gleis die Fahrt beginnen würde. Mit verschnürten Bündeln, mit Klebeband reichlich umwickelten Paketen, prall gefüllten Taschen und einigen in letzter Minute gekauften Lebensmitteln verharrten die Reisenden am Zugang zu den Gleisen und warfen besorgte Blicke auf die Anzeigetafel.
Als der lange, dunkelgrüne Zug der Transsibirischen Eisenbahn rückwärts in den Bahnhof eingefuhr, setzten sich augenblicklich die Massen in Bewegung und suchten den Zug nach ihren entsprechenden Waggonnummern ab.
Die Prowodniks warteten bereits an den Türen, und nach einem Blick auf die Billets fanden wir uns in dem engen Viererabteil wieder, wo die beleibte Aserbaidschanerin bereits das Hühnchen tranchierte ...
Anfangs kam ich mir in unserem ungefähr 2 mal 2 Meter großen Abteil unglaublich beengt vor. Die dicke Frau tat ihr bestes, mir dieses Gefühl zu vermitteln, doch auch im leeren Zustand staunte ich anfangs über den wenigen Freiraum, den man während der vielen Tage Zugfahrt im Abteil zu haben schien.
Entgegen vieler gelesener Berichte konnte ich die Fenster auf dem Gang öffnen, was mir im Vorfeld der Reise große Sorgen bereitet hatte. Jedes zweite Fenster ließ sich bis zur Hälfte hinunterziehen, und ich war mir sicher, viele gute Aufnahmen während der Fahrt machen zu können.
Trotz der Enge fühlten Jan und ich uns in den Waggons schnell wohl. Die Gardinen und der lange rote Teppich auf dem Flur - alles strahlte eine angenehme Gemütlichkeit aus. Hinzu kam, dass die Fahrgäste schnell ihre Kleidung gewechselt hatten und in Jogginganzügen, lockeren Kleidern und Badelatschen auf dem Gang erschienen und die Abfahrt des Zuges vom Fenster aus verfolgten.
Unsere Abteiltür war mittlerweile verschlossen, und der schwarzhaarige Sohn der Aserbaidschanerin schnitt Scheiben von einem dunklen Brot ab. Gerade wurden erste zaghafte Fragen gestellt und Stücke vom fettigen Hühnchen gereicht, als mit einem heftigen Ruck die Tür geöffnet wurde, und eine junge, aufgeregte Frau hineinschaute.
Jan und ich wurden von ihr gefragt, ob wir in das Nachbarabteil wechseln könnten. Die aus Kasachstan stammende Frau gestikulierte auf dem Gang und erklärte, dass ihre kleine Tochter nur unten schlafen könne. In dem anderen Abteil hätten sie jedoch nur die beiden oberen Betten zugeteilt bekommen. Das Mädchen habe jedoch panische Angst herauszufallen.
Nach einigem Hin und Her nahmen Jan und ich unsere Rucksäcke und wechselten ins Nachbarabteil. Dort waren eine junge Turkmenin und ihre zwölfjährige Tochter unsere Mitreisenden für die vier Nächte und drei Tage andauernde Fahrt nach Irkutsk. Wir setzten uns auf das Bett gegenüber und kamen bei einer Tasse schwarzen Tee schnell ins Gespräch.
Fotos: Marco Bertram
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