Schiffsabenteuer: Auf dem Solimões von Manaus nach Anori

 
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altDie Mündung des Rio Negro lag bereits einige Stunden hinter uns. Unser Schiff pflügte sich durch das Wasser des Solimões in Richtung Westen, wo die Wildnis erst richtig begann. Hinter dem Rio Negro waren die Ufer des Amazonas zu großen Teilen unberührt. Nur noch kleinere Schiffe suchten den Weg zwischen den vielen Inseln. Sämtliche Ortschaften und Dörfer waren nur auf dem Wasserweg erreichbar.
Godajás, Coari, Tefé, Fonte Boa und Tabatinga. Maraã, Tonantins und Santa Rita. Nur zwischen den Kleinstädten Benjamin Constant und Atalaia do Norte, gelegen am Dreiländereck von Brasilien, Peru und Kolumbien, führte Mitte der 90er Jahre eine Straße - die Sandpiste 32 - durch den dichten Regenwald.


Gegenüber in Tabatinga existierte sogar ein Flughafen. Ansonsten gab es im westlichen Amazonien nur den Weg über das Wasser. Davon gibt es jedoch reichlich. Tausende Flüsse im Umkreis von hunderten Kilometern führen das Wasser zum Hauptstrom des Amazonas. Nur die größten sind auf den Landkarten registriert und besitzen einen Namen. Rio Coari, Rio Xiruá, Rio Mutum, Rio Preto, Rio Marauia, Rio Cauaburi, Riozinho.

altEs ist kaum zu glauben, wie viele Flüsse ihre Bahnen durch den undurchdringlichen Urwald ziehen, und es gehört eine gute Navigation dazu, ein Boot sicher durch das Netz von Wasserläufen, Süßwasserlagunen, Seen, überschwemmten Landstrichen sowie festen und schwimmenden Inseln zu führen.
Unser Ziel war das Urwalddorf Anori, das etwa 250 Kilometer flussaufwärts an einer kleinen Ausbuchtung des Solimões lag. Niemals hätten wir von diesem Ort gehört oder wären gar mit einem Schiff dorthin gefahren, wenn es nicht der Zufall gewollt hätte, dass wir am Hafen von Manaus mit einer Frau ins Gespräch kamen, die uns einlud, mit ihrem Schiff nach Anori zu fahren, dort einen Tag zu bleiben und am Morgen darauf wieder nach Manaus zurückzukehren.
Das Schiff war ein Stück kleiner als die beiden zuvor und hatte nur wenige Leute an Bord. Dieses Mal konnten Kathrin und ich uns aussuchen, wo wir die Nächte verbringen. Auch wenn man nicht das gesamte Deck für sich allein hatte, so war es doch kein Vergleich zum Gedränge während der Fahrt nach Santarém und Manaus. Uns blieb noch eine Woche Zeit, und wir waren über diese nicht eingeplante Abwechslung sehr erfreut, zumal wir von diesem Reiseziel nie zuvor in unserem Leben etwas gehört oder gelesen hatten. Anori war in keinem Buch zu finden.

altDie Mahlzeiten wurden an Bord mit einer Messingglocke angekündigt. Eine alte Frau mit schmutzigem Kittel stellte am Heck des Schiffes das Essen auf den Tisch und die Männer und Frauen ließen nicht lange auf sich warten. Doch eines Abends fanden Kathrin und ich uns allein am gedeckten Tisch wieder. Nach dem Läuten der Glocke ließen wir uns Zeit, um den anderen den Vortritt zu lassen, doch die Holzbänke blieben leer und die Schüsseln und Teller unangetastet. Ab und zu wurden aus einiger Entfernung verstohlene Blicke auf den Tisch geworfen. Kein einziger Brasilianer setzte sich zu uns.
Der Grund wurde beim näheren Betrachten der Schüsseln schnell ersichtlich. Mittags noch gab es knuspriges Hühnchen mit Reis und Bohnen, da leckte sich jeder Brasileiro die Finger. Jetzt zum Abend stellte die alte Küchenfrau auf den Tisch, was vom Geflügeltier noch übrig blieb. Ich spreche nicht von aufbereiteten Eingeweiden oder Bürzeln. Nein, die Blechschüssel war gefüllt mit gekochten Hühnerbeinen. Durch heißes Wasser aufgedunsene Hühnerfüße. Abgebrochene Beinknochen und Krallen ragten über den Schüsselrand hinaus. Es galt, sich reichlich zu bedienen und die dürftigen Fleisch- und Hautfetzen abzunagen. Mit verschränkten Armen stand die Küchenfrau an der Reling, starrte auf das von ihr zubereitete Abendmahl und wartete vergeblich auf die Passagiere. Nach einer Stunde deckte sie wieder mit schüttelndem Kopf ab und warf die von allen verschmähten Hühnerfüße den Piranhas zum Fraß vor.

Am kommenden Morgen verließ das Schiff den Lauf des Solimões, fuhr über spiegelglattes Wasser an kleinen Inseln vorbei und näherte sich den Vorboten Anoris. Auf Holzpfählen errichtete Hütten kündigten die Ortschaft an. Der dahinter liegende Wald überthronte die Häuserreihen. Wie eine dunkle Wand hob er sich von den gelben, hellgrünen und weißen Häusern ab. In Ufernähe zogen Männer mit zwei Kanus ein langes Treibnetz ein. Vorsichtig gingen sie zu Werke, denn die Kanus waren schmal. Ständig mussten sie mit ihrem Körpergewicht die Balance halten, um nicht in das braune Wasser zu stürzen.
Bei der Anfahrt machte Anori einen sehr ruhigen, abgelegenen Eindruck, doch am Hafen änderte sich das Bild. Dort war ständig etwas los. Bei den angelegten Schiffen und Booten trafen sich die Bewohner der Ortschaft. Da es nur das Wasser als Transportweg gab, kamen immer wieder Kanus und Motorboote von den umliegenden Siedlungen und Hütten an.
Alles, was man mit dem Element Wasser anstellen kann, war am Hafen Anoris zu bestaunen. Jugendliche wuschen ihre Fahrräder und Mofas im Hafenwasser. Sie fuhren dabei ganz einfach mit halsbrecherischem Tempo die betonierte Straße, die bis ins Wasser führte, hinunter. Jauchzend rasten sie immer wieder die Schräge hinunter, bis links und rechts das Wasser nur so aufspritzte und sie bis zum Hals im feuchten Element standen. Männer zogen Eimer an festgeknoteten Seilen an den Bordwänden der Schiffe hinauf und gossen anschließend die braune Brühe über die hölzernen Decksplanken.
Zu den heißen Mittagsstunden kühlten sich Kinder wie Erwachsene im Hafenwasser ab. Ein leichter Ölfilm trieb am Heck der festgemachten Schiffe.

altEin paar Meter weiter wurden Obst- und Gemüseabfälle der Einfachheit halber in den Fluss geworfen. Daran störte sich niemand. Im Gegenteil, eine Frau mit hellen Haaren, ich erfuhr zu einem späteren Zeitpunkt, dass sie aus Holland stammte, schöpfte Wasser in eine Schüssel und spülte Geschirr ab. Anschließend reinigte sie Wäsche. Stämmig wie ein Mann knetete sie die T-Shirts und Hosen der Angehörigen durch.
Ihre Tochter mit ebenso hellblonden Haaren und Sommersprossen im Gesicht saß auf einem Geländer und ließ die Beine baumeln. Die Holländerin hatte sich vor Jahren auf den Weg gen Lateinamerika gemacht, Europa hinter sich gelassen und ein neues Zuhause in den Weiten Amazoniens gesucht. Sie wählte nicht Santarém oder Manaus, von wo aus man jederzeit mit einem Flieger zurück zum alten Kontinent heimkehren könnte. Nein, sie zog das abgelegene Anori vor. Dort, wo alle zwei Tage ein Linienschiff hielt. Dort, wo das Leben alles andere als ein Kinderspiel war. Direkt am Hafen hatte sie ihre Hütte. Das Holz war grau und nicht mehr das frischeste. Europäischer Luxus in irgendeiner Form – keine Spur. Sie kniete auf dem Steg und schöpfte eine neue Schüssel voll Wasser. Es war schlechtes Wasser, denn abseits des Hauptarms gab es keine Strömung. Das brackige Wasser stand in der großen Flusslagune und konnte nicht abfließen.

Fotos: Kathrin Beutin / Marco Bertram

> zur turus-Fotostrecke: Impressionen aus Brasilien

> weitere Brasilienbilder auf www.saudade-fotos.net


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