Abenteuerlich: Eine Brockenbesteigung bei pechschwarzer Nacht

 
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altAls wir den Ortsausgang von Braunlage erreichten, dämmerte es bereits. Mehrere Schilder wiesen zu den Wanderzielen in der näheren Umgebung hin. Wurmbergschanze. Schierke. Großer Winterberg. Große Klippe. Brocken – 10,8 Kilometer. Nur nicht ausversehen auf dem falschen Weg in der Dunkelheit folgen und auf dem Wurmberg landen. Das wäre alles andere als erfreulich. Denn ein dortiger Abstieg und eine erneute Suche eines Weges zum Brocken wäre in der Nacht alles andere als einfach.


Hinter der Mattenskisprungschanze von Braunlage wurde noch einmal alles komplett umdisponiert. Statt der Wandersandalen zog ich die festen Stiefel an, ein Fleecepullover wurde übergezogen, die Machete wurde für alle Fälle außen am Rucksack befestigt, und eine kleine Taschenlampe wurde in der Hosentasche griffbereit verstaut.
Gut gerüstet und verpackt wurden die letzten zehn Kilometer in Angriff genommen. Mittlerweile war es dunkel geworden, und mit der Lampe versicherte ich mich einige Male, ob wir uns noch auf dem richtigen Weg befanden. Das System der Wegweiser schien an manchen Wegkreuzungen ein wenig doppeldeutig.
Links vom Weg befand sich das unwegsame Tal der Großen Bode. Felsen und umgestürzte Bäume ergaben im schwachen Licht ein düsteres Bild. Aus dem Nichts brach mit großem Lärm eine Gruppe Rehe aus dem Unterholz und durchquerte den steinigen Bach. Ich hoffte, bald die höheren Lagen zu erreichen, wo der aufgehende Mond den Pfad und die Umgebung in ein schwaches Licht tauchen würde. Hier unten im Bodetal machten die hohen und dicht gewachsenen Fichten eine Sicht über mehrere Meter bald unmöglich.
Zunehmend wurden die Bäume lichter und niedriger. Aus den Büschen ertönte ein zufriedenes Grunzen einer Rotte Wildschweine. Jetzt nur nicht auf eine um ihre Frischlinge besorgte Bache stoßen oder auf einen Keiler, der sein Revier mit Nachdruck verteidigen möchte. Ich verlangsamte das Tempo und ließ Karsten aufschließen, der rund hundert Meter hinter mir war.

»Hast du das gehört, da rottet sich im Gestrüpp etwas zusammen!« fragte ich Karsten, dessen Umrisse langsam in der Dunkelheit erkennbar wurden.
»Ja, ich dachte vorhin schon im Tal, das seien Wildschweine ...«
Dicht an dicht arbeiteten wir uns Meter für Meter höher. In der Ferne tauchte ein rotes Licht auf. Das musste der Brocken sein. Oder doch der Wurmberg? Der rote leuchtende Punkt erinnerte an ein Positionslicht eines Schiffs auf dem nächtlichen Meer. Der Himmel war schwarz, und noch stand der Mond tief in südlicher Richtung über den Wipfeln der Fichten. Bis Luna die Umgebung richtig erhellt, würde noch ein Weilchen vergehen.
Schwierigkeiten bereitete uns das Wegkreuz »Dreieckiger Pfahl«. Trotz eingeschalteter Taschenlampe war der richtige Abzweig nicht erkennbar. Ich warf den Lichtkegel an jeden Baum und studierte den entsprechenden Kartenausschnitt. Ein Stück zurück stand ein kleiner Bauwagen, der tagsüber von Forstarbeitern genutzt wurde. Die Tür stand offen, und im Innern war es wohlig warm. Die Hitze des Tages hatte sich im Innern bis weit in die kühlen Nachtstunden gehalten.  Zwei Holzbänke, ein kleiner Tisch, ein in der Ecke stehender Ofen und ein Regal schufen eine anheimelnde, gemütliche Atmosphäre.

»Wenn wir den richtigen Abzweig nicht finden, können wir hier übernachten«, schlug ich vor.
»Und was wird dann aus dem Sonnenaufgang?«
»Was sollen wir machen? Bevor wir irgendwo herumirren und weitere Wildschweine aufschrecken, verbringe ich lieber die Nacht im warmen Bauwagen.«
»Aber der Weg zum Gipfel muss doch hier irgendwo sein. Wir sind doch bis hierher richtig gelaufen. Das rote Licht von der Wetterstation des Brockens war doch schon zu sehen. Es kann doch nicht mehr so weit sein.«
Mit diesen Worten lief er ein Stück höher und erkundschaftete die Möglichkeiten der Weggabelungen. Wir wählten die plausibelste Wegvariante und erreichten nur wenige Meter weiter bereits den Kolonnenweg. Wir befanden uns auf der richtigen Fährte. Hier in Brockennähe war der Kolonnenweg sehr uneben und zerklüftet. Zwischen den verschobenen Platten lag feiner Sand, und man musste auf der Hut sein, nicht über eine Kante zu stolpern. Ich stellte mir vor, wie zu DDR-Zeiten die Fahrzeuge der Grenztruppen in diesem Terrain vorankamen. Der aus Granitgestein bestehende Brocken lag auf dem Territorium der DDR, und der strategisch gut gelegene Gipfel des Berges wurde für militärische und geheimdienstliche Zwecke genutzt.

Nahe des Königsbergs stießen wir auf die Schienen der Dampflokbetriebenen Brockenbahn, die sich von Schierke auf die Höhenlangen des Brockens schlängelte. Parallel zur Bahnstrecke konnten wir auf einem mit Brettern und Balken befestigten Weg entlanggehen. Aus dem Dunkeln kamen uns fröhliche Leute entgegen, die sich wohl den Sonnenuntergang angeschaut hatten und nun auf den Heimweg machten. Die jüngeren, leicht angetrunkenen Männer und Frauen staunten nicht schlecht, als wir mit schwerem Gepäck in die Gegenrichtung liefen. Gern hätte ich sie mit meiner Machete erschreckt, doch ließ ich derlei Unsinn lieber bleiben.
Die letzten Meter bis zum Gipfel legten wir auf der asphaltierten Straße zurück, die ebenfalls von Schierke nach oben führte. Über 40 Kilometer steckten in uns. Von Tettenborn bei Bad Sachsa durch den halben Harz bis hoch zum Brocken. Kurz vor Mitternacht war es vollbracht. Oben erwartete uns eine eigenartige Atmosphäre. Niemand war mehr anzutreffen. Zwar brannten in den Gebäuden noch ein paar Lichter, doch draußen ließ sich niemand mehr sehen. Karsten und ich waren die einzigen, und wir drehten eine Runde. Vorbei an der ältesten Wetterschutzhütte Deutschlands aus dem 17. Jahrhundert, der großen Wetterstation und den gigantischen Antennenanlagen.

altDer Wind an den hohen Antennen erzeugte ein dumpfes, geheimnisvolles Geräusch, und der mittlerweile hoch stehende Mond erzeugte eine gespenstische, weltfremde Atmosphäre. Der karge nackte Boden mit den herausragenden Gesteinsbrocken und die Antennenaufbauten ließ die Bergspitze wie einen anderen Planeten erscheinen. Ringsherum Finsternis und ein alles überspannender Sternenhimmel.
Wir hatten riesiges Glück, denn meistens hüllen Wolken die Spitze des Brockens ein, und ein nächtlicher Regen ist auch im Sommer keine Seltenheit. Kurzerhand wurden die Schlafsäcke ausgepackt und auf zwei Bänken ausgelegt. Mit den beiden kleinen Sektflaschen wurde das freudige Ereignis begossen. Unser Bergfest unserer Wanderung fand wahrlich einen tollen Höhepunkt. Gut die Hälfte der Strecke bis zur Ostsee war geschafft. Dort im Norden lag es, das Meer, das es zu erreichen galt. Die norddeutsche Tiefebene lag vor uns, die erste Hälfte der Tour mit all den Erhebungen hinter uns.
Wir stellten die Wecker der Handys, damit wir die ersten Phasen des Sonnenaufgangs nicht verpassen, und rollten uns in die Schlafsäcke ein. Bis vier Uhr blieben uns noch gut dreieinhalb Stunden.
Bereits gegen halb vier wurden wir allerdings unsanft geweckt. Es war stockfinster, und Hochnebel verdeckte die Sterne. Eine große, lärmende Gruppe traf auf dem Brocken ein.
»Kiek mal, da pennen zwei!«
»Das ist fies, die wollten wohl die ersten sein, Mist!«
Mit der weltfernen Ruhe war es vorbei. Innerhalb von Sekunden glich die Kuppe des Brockens nicht mehr einer Raumstation auf einem fernen Planeten sondern einem Ferienlager irgendwo am Rande einer Großstadt. Immer mehr Frauen, Männer und Kinder trafen ein und ließen sich direkt neben uns auf den anderen Bänken nieder. Nicht einer kam auf die Idee, dass wir weiterschlafen möchten. Allesamt, egal, ob 14 oder 35, benahmen sich wie pubertierende Gören. Männer um die 35 berichteten den 17jährigen Mädels ausschweifend von ihren letzten Bergtouren und gaben unglaublich spannende Erlebnisberichte zum Besten.

altGemeinsam wartete man auf den Sonnenaufgang. Das prollige Gelaber der Männer und das Gackern der jungen Frauen machten die interessante Atmosphäre zunichte. Recht bedient verkroch ich mich noch tiefer in den Schlafsack und versuchte die Anwesenheit der Leute zu ignorieren. 15 Minuten später gab ich auf, stand auf und bereitete die Fotokamera vor.
Im Osten hinter Wernigerode hellte sich langsam der Horizont auf. Eine zarte Röte bildete sich als schwacher Streifen am Himmel. Ein Mann im mittleren Alter stellte sich auf einen Holztisch, band sich ein Tuch um die Stirn und blickte auf das Geschehen am frühmorgendlichen Himmelszelt. Wie die Japaner nach dem nächtlichen Aufstieg auf den Fujiyama betete der Mann die Sonne an, um bei den jungen Frauen Eindruck zu schinden. Wie man aus den Gesprächen hören konnte, kamen sie mit Bussen und Autos den Brocken hinauf, stellten die Fahrzeuge auf einen etwas tiefer liegenden Parkplatz und liefen die restlichen paar hundert Meter zu Fuß hinauf.
Manch einer aus der Gruppe tat jedoch so, als wenn der Berg mit größten Anstrengungen und unter allergrößten Strapazen von seinem Fuße aus bezwungen wurde. Untereinander prahlte man, dass man bereits um zwei Uhr, ach was, um ein Uhr aufgestanden sei.

Ein wenig trüb und verklärt ging die Sonne hinter diesigen Wolken auf. Die Kameras klackten, Blitze verloren sich im weiten Raum. Ein Jubel, ein Aufschrei, und schon machte sich der Mob auf den Heimweg. Nur einzelne Leute blieben am Geländer stehen und warteten auf den weiteren Verlauf des Sonnenaufgangs. Die große Masse saß bereits wieder in den Bussen, als die Sonne hinter einer Wolkenschicht ein weiteres, viel schöneres Mal aufging. Über dem am Horizont befindlichen Streifen erhob sich die rote Scheibe klar und deutlich. Wernigerode und das Vorland des Harzes lagen nun in einem hübschen Morgenlicht.

> zur turus-Fotostrecke: Harz / Reiseland Deutschland

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