Zu Gast in Brasilia: Fahrt durch die Außenbezirke, Knackwürste und unruhige Nächte

 
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altWir waren nicht die einzigen Personen, die Silvestre mit seinem Chevrolet Pick up mitnahm. Kathrin teilte mit einer anderen Frau den Sitz neben Silvestre im Fahrerhaus, und ich nahm neben einem fremden Mann und reichlich Frachtgut auf der Ladefläche Platz. Mit hohem Tempo ging es durch die Straßen der Innenstadt Brasilias in Richtung Außenbezirke, in denen die Wohngebiete lagen. Kühler Wind blies und wirbelte meine Haare durcheinander. Bibbernd hockte ich auf einem Gemüsesack und blickte auf die hinter uns liegenden Straßen und vorbeifahrenden Autos. Die Kälte und die hohe Geschwindigkeit ließen mich erschauern. Trotzdem war es ein aufregend schönes Erlebnis, durch die abendliche Stadt zu fahren.


Manch eine Kreuzung wurde rasant passiert, und so einige Kurven wurden im Formel 1-Stil genommen. Von Zeit zu Zeit ließ mich eine Bodendelle oder ein Schlagloch fast vom Gemüsesack fallen. Der andere Mann starrte in die Ferne und umklammerte sich mit seinen Armen. Er fror erbärmlich. Er drehte sich kurzzeitig zu mir um und versuchte gequält ein Lächeln hervorzubringen.
Die Gebäude links und rechts der Straße wurden sichtlich kleiner, die Hochhäuser der Innenstadt wichen den Reihenhäusern der Außenbezirke. Die zum Teil winzigen Vorgärten und Grundstücke waren von hohen Mauern und Zäunen umgeben. Nicht selten krönten sich windender Stacheldraht und aufgesteckte Glasscherben die über zwei Meter hohen Mauern aus Beton und Stein. Die Fenster der unteren Etagen waren vergittert und gaben dem Gesamtbild eines Ghettoantlitzes den entscheidenden Restfaktor.
Jedes Gebäude war bestmöglich gegen Einbrecher und umherziehende Räuberbanden gewappnet. Schon in Rio de Janeiro wurde ich häufig auf derlei Sicherheitsvorkehrungen aufmerksam, jedoch erschienen sie mir dort als eine logische Konsequenz in Anbetracht der vorhandenen Straßengangs. Im modernen Brasilia war ich etwas überrascht, solch eine Abschottung der Wohnhäuser anzutreffen. Bei dieser Stadt fielen mir zuvor andere Bilder ein als Mauerwerk und vergitterte Fenster sowie Sicherheitstüren aus Stahl und elektrische Schließvorrichtungen.

altAuf den Straßen spielte sich einiges ab, und so einige Straßen fuhren wir entlang. Die Fahrt auf der windigen Ladefläche kam mir vor wie eine halbe Ewigkeit. Eine Straßenkreuzung, noch eine Kreuzung, ein Abbiegen in die nächste Nebenstraße und ein nochmaliges Einbiegen um die kommende Ecke. Ampelleuchten verschwanden in der Dunkelheit, Autos fuhren dicht auf und entfernten sich wieder. Ein schwarz gekleiderter Motorradfahrer beschleunigte seine Maschine und raste an uns vorbei. Jugendliche standen auf den Bürgersteigen, sprachen miteinander und liefen in kleinen Gruppen in verschiedene Richtungen. Ein junges Pärchen schlenderte gemächlich einen Weg zu einem Haus entlang. Kinder sprangen einem Tennisball hinterher und wurden von einer Frau dazu aufgerufen, ins Haus zu kommen.
Fünf Minuten nachdem Silvestre die beiden anderen Mitfahrer abgesetzt hatte, kamen wir bei seiner Dienstwohnung an, die sich in einem hohen Gebäude befand. Dieses machte nicht gerade den freundlichsten Eindruck und wirkte kühl und abweisend. Zwei stählerne Sicherheitstüren mussten passiert werden, bevor man anschließend in einem engen Fahrstuhl, der ächzende Geräusche von sich gab, in das vierte Obergeschoss fahren konnte.
Die Wohnung war mehr als provisorisch eingerichtet worden und erinnerte an eine Junggesellenherberge. Kalter Zigarettenrauch lag in der Luft, auf einem alten Hocker stand ein tragbarer Fernseher, und mitten im Raum, der als Wohnzimmer diente, befand sich eine leuchtend rote Tiefkühltruhe. Die Ausmaße dieser Tiefkühltruhe machten einer Kühltruhe eines Schlachthofs oder einer Großküche alle Ehre. Rohes Fleisch und hunderte Würste füllten diese Truhe randvoll aus.

Eine müde, sich nicht gesund anhörende Stimme war aus dem Nachbarzimmer zu vernehmen. Sekunden später öffnete sich die Tür, und ein alter Mann, sein Gesicht wirkte völlig ausgemergelt und zeugte von viel Arbeit, wenig Schlaf, Alkohol und reichlich Zigaretten, kam in das Wohnzimmer geschlurft. Er war nur mit einer alten Sporthose bekleidet und rieb sich die Augen. Kurz schaute er uns an, murmelte ein »boa noite« und wankte wieder in das Schlafzimmer zurück.
Silvestre erklärte uns, dass er sich die Wohnung mit ihm teile, da in Brasilia die Unterkünfte äußerst teuer seien. In der Woche arbeiteten beide in der Hauptstadt, und zum Wochenende fuhren sie zu ihren Familien nach Goiânia. Dafür, dass Silvestre immerhin zwei Drittel der Woche in dieser Wohnung schlief, sah diese zutiefst ungemütlich und kläglich aus. Nur das allernötigste war in der Zweiraumwohnung auszumachen, nirgends gab es ein halbwegs häusliches Eckchen für die Ruhestunden nach getaner Arbeit.
Silvestre deutete wohl meine Blicke und erahnte die Gedanken, denn er erklärte uns, dass er nur in der Wohnung schlafen würde. Sonst nichts. Den restlichen Tag sei er unterwegs, und erst nach Mitternacht käme er nach Hause, um ins Bett zu gehen. Am Morgen darauf stehe er schon um fünf Uhr auf und gehe zur Arbeit an den Stand.

An jenem Abend tischte Silvestre noch einiges zu essen auf. Salat, heiße Knackwürstchen, Reis und deftige, schwarze Bohnen. Mit zwinkernden Augen forderte er uns auf, richtig zuzulangen, schnitt sich selber ein gutes Stück von einer Knackwurst ab und schaltete den Fernseher ein, auf dem sich bereits eine Staubschicht abgesetzt hatte.
Kauend erzählte er uns, dass sich seine Familie sicherlich freuen werde, wenn wir morgen kommen. Seine Frau werde für uns viel und sehr gut kochen. Das Thema »Essen« währte noch einige Zeit. Nach den reichlichen Käsebrötchen und Säften drehte sich mir bei den fettigen Würstchen fast mein Magen um, und ich beließ es bei etwas Reis mit Bohnen. Während Kathrin und ich noch zaghaft auf den Tellern stocherten, holte Silvestre eine Matratze, legte sie neben die Tiefkühltruhe und lächelte uns wieder einmal an.
Zum Abschluss des Abends kamen wir auf Deutschland zu sprechen. Silvestre lobte das Bier, das hochwertige Fleisch, die Politik und Hitler als Person und Staatsmann. Ich horchte beim Namen »Hitler« auf und schaute zu Kathrin, die zu protestieren anfing und ihm erzählte, wie schlecht diese Person war und welch grausame Folgen seine Diktatur in Europa hatte. Silvestre wog den Kopf hin und her und beließ es dabei. Wahrscheinlich hatte er nicht mit solch einer Reaktion gerechnet. Er stand auf, packte die restlichen Lebensmittel weg, wünschte uns eine angenehme Nacht und verschwand im Schlafzimmer. 

An Durchschlafen war trotz großer Müdigkeit nicht zu denken. Nach jeder halben Stunde sprang die Tiefkühltruhe mit dem üppigen Fleischinhalt an und brummte laut und monoton neben unseren Köpfen. Um halb vier in der Frühe löste Silvestres Mitbewohner die Tiefkühltruhe als Weckdienst ab. Der alte, hagere Mann sah im Gesicht noch grauer und fertiger aus als am Abend zuvor. Sich eine Zigarette ansteckend, humpelte er an unser Matratze vorbei in die dunkle Küche und goss sich dort ein Glas Wasser ein.
Die Rauchschwaden der übel riechenden Zigarette zogen langsam durch den Raum. Der alte Mann kehrte aus der Küche zurück, das Glas in der Hand, die Sporthose jämmerlich an seinen knochigen Hüften hängend, und bahnte sich seinen Weg zur Toilette. Noch einmal zog er an der glimmenden Kippe und verschwand im Badezimmer, die Tür hinter sich anlehnend.
Lautes Husten und Brechgeräusche waren zu vernehmen und ließen uns an den Alten in der Hospedaria in Rio de Janeiro denken. Minutenlang hallten das Würgen und Röcheln durch die nächtliche Wohnung, bis das gurgelnde Geräusch der Toilettenspülung das ekelhafte Spektakel beendete.

Illustration: Nastasja Keller

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