Um mit dem Rad vom serbischen Dimitrovgrad (Caribrod) ins bulgarische Dragoman zu gelangen, hätte man die Fernstraße E80 nutzen müssen. Doch bereits der Blick auf diese E80 bei Pirot genügte, um zum Entschluss zu kommen, lieber die Bahn für die Grenzüberquerung zu nutzen. Die in der Landkarte rot eingezeichnete Fernstraße war sehr von LKW befahren und führte hin und wieder durch einen Tunnel. Zwischen Serbien und Bulgarien verkehren an dieser Stelle nicht viele Züge. Im Prinzip blieb nur die Möglichkeit, den zweimal am Tag verkehrenden Fernzug nach Sofia und Istanbul zu nehmen.
Dimitrovgrad - Dragoman: Mit der Bahn von Serbien nach Bulgarien
Regionalzüge existierten zum Zeitpunkt der Reise im Herbst 2006 nicht, und da der eine Zug in Richtung Sofia mitten in der Nacht in Dimitrovgrad hielt, wählten wir die andere Zugverbindung am Nachmittag.
Vor der kurzen Überfahrt nach Bulgarien wuschen wir mit in einem 5-Liter-Bottich gekauften Wasser die Fahrräder und zogen uns auf dem Bahnhofvorplatz um. Fast sämtliche Lehmspuren verschwanden von Reifen, Rahmen und Kette, und auch wir sahen nach dem Umkleiden wieder recht manierlich aus.
Der Fernzug von Wien nach Istanbul hatte Verspätung, was unter den Wartenden auf dem kleinen Bahnhof für reichlich Unruhe sorgte. Frauen belagerten den kleinen Fahrkartenschalter und verlangten genaue Auskunft. Als endlich der Zug in Dimitrovgrad einrollte, wurde der Zug regelrecht gestürmt. Es schien, als halte der Zug nur für wenige Sekunden. Ohne Rücksicht auf Verluste wurde der Zug geentert. Karsten und ich stiegen mit den Fahrrädern als letzte in den Waggon ein. Die Räder stellten wir quer in den Bereich zwischen Tür und Toilette. Platz für solch einen sperrigen Gegenstand war in diesem Fernzug keineswegs vorgesehen, und somit quittierten die anderen Fahrgäste unsere Fahrradmitnahme mit bösen Blicken und ärgerlichen Worten.
Die serbischen Grenzbeamten sahen mit einem Lächeln über die den Gang versperrenden Fahrräder hinweg und zwängten sich mit ihren sauberen Uniformen vorsichtig am Lenker vorbei. Die darauf folgenden bulgarischen Kollegen waren dagegen mürrischer und forderten mehr Platz zum Gehen ein.
Die Strecke von Dimitrovgrad nach Dragoman beträgt eigentlich nur rund 15 Kilometer, doch die Fahrzeit betrug über zwei Stunden. Grund war der lange Halt an dem kleinen bulgarischen Grenzbahnhof bei Kalotina. Wofür die serbischen Grenzbeamten etwa 20 Minuten benötigten, nahm bei den Bulgaren fast zwei Stunden in Anspruch. Sämtliche Pässe wurden eingesammelt und in eine Baracke gebracht. Verkleidungen auf dem Gang und in den Abteilen wurden abgeschraubt, in fast jeder Ecke wurde nach Schmuggelware gesucht. Die Serben nutzten für diese Suche kleine Digitalkameras, die Bulgaren mussten noch mit kleinen Spiegeln bei der Suche nach möglichem illegalem Gut auskommen. Bei den bulgarischen Grenzbeamten war kaum eine Spur von Freundlichkeit zu spüren. Mürrisch verrichteten sie in aller Seelenruhe ihre Arbeit und ließen recht deutlich erkennen, wer Chef an der Grenze war.
Mit gemischtem Gefühl schauten Karsten und ich aus dem Fenster und mussten erkennen, dass die Dämmerung langsam aber stetig einbrach, die rötliche Sonne verschwand hinter den Bergen, und die Suche nach einem Zimmer müssten wir in Dragoman wohl im Dunkeln antreten.
Als der Zug endlich seine Fahrt in Richtung Dragoman, Sofia und Istanbul fortsetzte, wirkten die vorbeiziehenden Wälder bereits düster und unheimlich. Bei der Ankunft in Dragoman war es dann komplett finster.
Das Aussteigen auf dem Bahnhof von Dragoman war ein Fall für sich. Obwohl wir den anderen aussteigewilligen Reisenden mehrmals versicherten, dass auch wir mit den sperrigen Rädern aussteigen würden, gerieten die bulgarischen Frauen und Männer bereits weit vor dem Halt des Zuges in Panik und schoben und drängelten sich an uns vorbei und verstopften somit endgültig den Türbereich.
»Da, isto Dimitrovgrad ...«, ließ ich wiederholt unser Fahrtziel verlauten, doch es half nicht, der Mob geriet beim Halt des Zuges in Wallung. Dem nicht genug, wurden wir auf dem Bahnsteig mehrmals gefragt, ob wir denn nicht nach Sofia wollen. Dies sei Dragoman. Wir müssten wieder einsteigen, um nach Sofia weiterzufahren. Genervt ergriffen wir erst einmal die Flucht und verließen das Bahnhofsgelände. Erst als dort Ruhe eingekehrt war, fuhren wir zurück, um uns nach einem Hotel oder einer Pension zu erkundigen. Für den Fall der Fälle wollten wir zudem auskundschaften, ob es möglich wäre in dem kleinen Wartesaal zu nächtigen.
Der erste Eindruck von Dragoman war alles andere als vielversprechend. Die Bahnhofsgegend wirkte dunkel und verlassen. Spärlich warfen einzelne Laternen ihr Licht auf die Straßen, von Gaststätten und Unterkünften war keine Spur. In einer Tankstelle nahe der Fernstraße nach Sofia fragten wir nach einem Hotel.
Ja, es gebe welche, lautete die Antwort. Immer die Straße weiter bis nach Sofia. Dies seien nur 75 Kilometer. Auf unseren Einwand, wir seien mit dem Fahrrad unterwegs, zuckte man nur mit den Schultern. Nein, hier in Dragoman gebe es nichts.
In einem Bahnhofsbüro fragte ich auf mehr als gebrochenem Bulgarisch nach einer örtlichen Übernachtungsmöglichkeit. Die drei Frauen in dem Büro amüsierten sich köstlich über meine phantastischen Sprachkenntnisse, doch sie waren bereit, uns zu helfen, berieten sich, telefonierten und wussten Rat. Die jüngste der drei Frauen skizzierte auf einem Blatt Papier den Weg zu einem Hotel und wies uns auf dem Bahnhofsvorplatz die Richtung.
Tatsächlich gab es in Dragoman ein kleines Hotel, und zwar nur wenige hunderte Meter von der Tankstelle entfernt, in der wir kurz zuvor gefragt hatten. Quasi in Sichtweite befand sich an der Schnellstraße nach Sofia rechte Hand ein Haus, das sich gerade in der Umbauphase befand und ein paar Zimmer beherbergte. Für zehn Euro pro Person durften wir in einem schlichten Zimmer übernachten. Es war sogar möglich, von dem jungen Vermieter Cola, Wasser und Bier abzukaufen. Der Abend oder vielmehr die Nacht war gerettet. Statt auf dem unheimlichen Bahnhof in dem kalten, unbeleuchteten Wartesaal die Nacht verbringen zu müssen konnten wir die Beine ausstrecken und in aller Ruhe ausschlafen. Dies war auch nötig, denn die kommende Etappe bis Kjustendil versprach anstrengend genug zu werden.
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