Es ist später Nachmittag. Die herbstliche Wetterstimmung passt hervorragend zur Gemütslage. Knirschend gibt der feuchte Sand meinen nackten Füßen nach. Am Wasser entlang schlendere ich die gesamte Copacabana bis zu ihrem Ende hinauf. Es muss vor kurzer Zeit einen heftigen Sturm gegeben haben, denn am Strand liegen Algen, Schlick, Holzstücke, Unrat und sehr viele Muscheln. Der ansonsten saubere Sand ist mit all diesen Dingen regelrecht überfüllt. Nur wenige Menschen gehen gerade am Meer spazieren. Ich bleibe stehen und schaue auf das Wasser mit seinen Wellen, auf die hellen Hotels und den von grünem Baumwuchs umrahmten Zuckerhut. Seufzend verharre ich in diesem Zustand. Wieder erfasst mich schreckliche Traurigkeit.
Böse Überraschung an herbstlicher Copacabana
Langsam bücke ich mich, hebe einen Stock auf, gehe ein paar Schritte und knie mich auf den festen Sand. Flüsternd schreibe ich ein paar liebe Zeilen in den feuchten Sand der Copacabana. Mit geschlossenen Augen küsse ich ihn anschließend. Leicht benommen erhebe ich mich. Klebrige Sandkörnchen haften an meinen Lippen. Mit der Zunge fahre ich sie entlang. Sie schmecken nach dem Salz des Ozeans. Sie schmecken nach Sehnsucht, Ferne und Wehmut.
Tief in Gedanken versunken schlendere ich weiter am Strand entlang. Die heftigen Wellen des großen Sturms brachten längst verlorenes und vergessenes Geld zum Vorschein. Ich finde einige Cruzados und Cruzeiros zwischen den angespülten Algen. Münzen aus vergangenen Zeiten. Ich muss schmunzeln. Es kommt mir vor, als würden mich Meer und Strand auf den Arm nehmen. Genau an dieser Stelle hatten wir beim abendlichen Überfall eine Menge Geld verloren. Nun bekomme ich wertlose Münzen als Trost zurück. Als Andenken an diesen letzten Nachmittag sammle ich die blinkenden Geldstücke ein.
Während ich in Richtung Zuckerhut am Wasser entlanglaufe, durchwühle ich mit meinen Füßen den Schlick auf der Suche nach wertlosem Metall. Ich wette mit mir selbst, wie viele Münzen ich wohl noch finden werde.
Langsam wird mir kühl an den Beinen. Ich ziehe meine Wanderstiefel an und schlendere am Strand zurück. Es wird dämmerig und Zeit, sich zu verabschieden.
Plötzlich merke ich am Oberarm einen festen Druck.
Wer zum Teufel?
Zuerst bin ich verdutzt, dann entsetzt.
Blitzschnell drehe ich meinen Kopf.
Ich schaue in ein finsteres, bösartiges Gesicht eines jungen Brasilianers.
Verdammt, ich habe ihn überhaupt nicht kommen hören.
Erschrocken starre ich in seine kalten Augen.
»Mafia Brasileira ... dinheiro!!!«
Dabei zeigt der kräftig gebaute Mann mit krausem Haar auf eine Pistole, die vorn in seiner Hose zwischen Gürtel und Hemd steckt.
Träume ich?
Nicht möglich, oder?
Mafia Brasileira.
Diese Worte hatte ich hier schon einmal zu hören bekommen.
Schon wieder wurde ich überrumpelt.
Einfach nur Pech? Schicksal? Meine Blödheit?
»Dinheiro ... dinheiro ... rapido!!!«
Der mich festhaltende Kerl wird ungeduldig.
Ich habe kein Geld bei mir.
Zum Glück.
Aber vielleicht gefallen ihm meine Weste und meine Wanderstiefel.
Dann müsste ich wohl oder übel barfuß oder mit Sandalen nach Hause fahren.
Wie dämlich wäre das denn?
Wahrscheinlich wird er mir eh keinen Glauben schenken, wenn ich ihm zu verstehen gebe, dass ich kein Bargeld bei mir habe.
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Ich werde wütend.
Auf mich. Auf diesen Typen.
Meine Wut wird immer größer.
Diese brasilianische Drecksau!
Nicht mit mir, du dummes Schwein!
Einmal ist genug!
Wie stehen die Chancen, wenn ich mich jetzt wehre?
Ich wäge die Möglichkeiten ab, während der Typ mit dem fiesen Gesicht auf mich einredet.
Er verlangt seine Beute und packt noch fester zu.
Mein Oberarm schmerzt und wird taub.
Mich festhaltend dreht er sich kurz um und pfeift einen weiteren Kerl herbei, der sogleich zu rennen beginnt.
Nun wird es ernst.
Wirklich ernst!
Kurz entschlossen nutze ich diesen Augenblick.
So jetzt! Gib es ihm!
Ich hole mit dem Ellenbogen aus und stoße fest zu.
Ich reiße mich los.
Der Stoff meines T-Shirts knirscht.
Der Stoff reißt.
Zum Glück.
Ich renne zur Avenida Atlantica.
Der Weg dorthin ist lang.
Sehr lang.
Zweihundert, vielleicht dreihundert Meter noch.
Vielleicht täuscht das auch. Egal! Weiter!
Nur nicht umdrehen.
Ich mag nicht hören und sehen, was hinter mir passiert.
Um Gottes Willen, wenn er nun schneller ist als ich.
Los, vorwärts!
Wie besessen renne ich über den Sand.
Ich fühle mich wie ein vom Wolf gejagtes Wild.
Ein gehetztes Tier, das vor Todesangst gigantische Kräfte freisetzt.
Adrenalin strömt durch meine Adern.
Mein Herz hämmert. Jetzt bloß nicht hinfallen!
Verdammt! Es ist passiert.
Ich rutsche aus, der Sand ist zu locker.
Die Wanderstiefel sind zum Rennen gänzlich ungeeignet.
Sie sind viel zu schwer. Ich kämpfe mich wieder hoch.
Ich krabble auf allen Vieren und kriege wieder Halt.
Sand setzt sich unter meine Fingernägel.
Was passiert, wenn er mich gleich erreicht?
Ich rapple mich auf.
Eiskalt läuft es meinen Rücken hinunter.
Ich habe panische Angst.
Womöglich zielt er gerade mit seiner Waffe auf meinen Rücken!
Ich renne aus Leibeskräften zur rettenden Hauptstraße.
Über diese hinweg.
Die Nebenstraßen entlang.
Ich beachte nichts. Weiter!
Ich hetze bis zur Hospedaria, eile die Treppe hinauf und verschwinde in meinem Zimmer. Ich knalle die Tür hinter mir zu.
Das Kapitel stammt aus dem Buch "Saudade do Brasil", das 2011 auf den Markt kommt. Die Anekdote stammt aus dem Sommer 1996...
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