Wo einst der Kaffee gedieh - Von Rio nach Itatiaia

 
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altMit kontinuierlicher Geschwindigkeit fuhr der Reisebus der Viação cidade do Aco LTDA auf der Schnellstraße in Richtung São Paulo. Ziel war die kleine Stadt Itatiaia im gleichnamigen Nationalpark, der sich in der Serra da Mantiqueira befindet. Die ersten Bergkuppen des parallel zur Küste verlaufenden Gebirges waren bereits in einiger Entfernung zu sehen.
Wir saßen in der ersten Reihe und ich lehnte meinen Kopf an Kathrins Schulter und schaute auf die an uns vorbeiziehenden Landschaften. Vorbei ging es an abgelegenen Ortschaften, Rinderweiden, brach liegenden Industrieflächen, kleinen Obstplantagen und Bauernhöfen. Graslandschaften schlossen sich zu beiden Seiten der Fernstraße an. Knöchrige Bäume und trockene Palmen mit gelben Blättern fristeten an der Böschung ihr Dasein.
 


altHielt der Reisebus auf einem staubigen Parkplatz, eilten sogleich Leute in schlichter Kleidung zum Bus und versuchten, Cola, Wasser und Kokosnüsse zu verkaufen. Dabei winkten sie mit den Büchsen und riefen den Businsassen die Angebote zu. Der Busfahrer war sehr bemüht, die Verkäufer fernzuhalten, und achtete darauf, dass niemand von ihnen das Fahrzeug betrat. Wenige Minuten später setzte sich der Bus wieder in Bewegung und ließ die armen Gestalten mit den Colabüchsen und Kokosnüssen auf dem staubigen Parkplatz hinter sich. Vorwurfsvoll erhoben diese ihre Arme und schimpften.
Nur wenige Stunden zuvor nahmen Kathrin und ich unser letztes Frühstück im Copacabana Chalet zu uns. In der Küche trafen wir noch einmal all die überaus netten Leute der Hospedaria. Lucia bot uns lächelnd einen kräftigen süßen Cafezinho an. Wir flaxten, fertigten noch ein paar Fotos an und unterhielten uns mit den Mitarbeitern der Herberge. Jeder fragte uns nach den Etappenzielen unserer Brasilienreise und gab diverse Ratschläge.
»Ah, Amazonien. Dort müsst ihr aufpassen, dort gibt es viele Moskitos!«
»Ja, der Itatiaia-Nationalpark ist sehr schön, aber es regnet oft!«
»Schlangen gibt es nicht so viele, aber viele Spinnen!«
In der Küche und auf dem Flur folgten Umarmungen, freundschaftliche Küsse und feste Versprechungen unsererseits, später einmal wieder im Copacabana Chalet vorbeizuschauen.

Mit einem Linienbus fuhren wir zum städtischen Fernbusbahnhof. Von dort aus ging es mit dem Überlandbus in Richtung Itatiaia. Einst hatte Brasilien einige Eisenbahnlinien, später wurden jedoch viele Strecken stillgelegt, und der Bus wurde Verkehrsmittel Nummer eins im Land.
Am Busbahnhof stand neben einem Hydranten ein uralter Mann mit einer ebenso uralten Zuckerrohrpresse. Man hätte meinen können, portugiesische Kolonialherren hatten sie einst in grauer Vorzeit ins Land gebracht. Frisch geschnittenes Zuckerrohr wurde zerquetscht, um somit die süße Flüssigkeit aus den langen Stangen zu gewinnen. Der ausgepresste mit Schwebstoffen duchsetzte Saft wurde in zerbeulten Blechbechern aufgefangen und den durstigen Passanten für nur wenige Centavos angeboten. Aus dem geöffneten Hydranten sprudelte Wasser, floss die Straße entlang und verschwand im nächsten Gully. Der alte Mann befüllte einen Eimer und spülte die Blechbecher ab. Anschließend schob er die nächsten Zuckerrohrstangen in die rumpelnde und knackende Presse.

altAuf der Fahrt nach Itatiaia konnten wir an einigen Stellen mit eigenen Augen sehen, wo Zuckerrohr von den ansässigen Farmern angebaut wurde. Der Bus hielt in jeder kleinen Ortschaft und immer mehr Leute stiegen mit ihrem Gepäck aus. In einem Dorf nahe der Serra da Mantiqueira hielt der Bus am Straßenrand und der Motor wurde abgestellt. Die verbliebenen Fahrgäste und der Fahrer traten ins Freie. Nur Kathrin und ich blieben auf unseren Plätzen und schauten verwundert auf die Uhr. Sollte dies Gott verlassene Kaff etwa Itatiaia sein?
Der Busfahrer verschwand in einem Gebäude und die Leute zogen auf den sandigen Straßen davon. Bald waren sämtliche Leute verschwunden und gespenstische Stille legte sich über die kleine Ortschaft. Gnadenlos brannte die Sonne. Kein Windhauch wehte. Überall lag Staub. Die Straßen waren voller Staub und an den Häuserwänden haftete Staub.
Als nach zehn Minuten der Fahrer immer noch nicht zurückkam, nahmen wir unsere Rucksäcke stiegen aus. Nicht einmal ein Straßenköter war zu sehen. Der Ort wirkte wie ausgestorben. Das Szenario wirkte wie in einem schlechten Italo-Western. Gut möglich, dass jeden Moment eine Horde Banditen einreiten würde.
Während Kathrin und ich ratlos auf dem Bürgersteig verharrten, kehrte der Busfahrer aus dem Gebäude zurück und fragte erstaunt, ob wir denn nicht noch weiter nach Itatiaia reisen. Wir befanden uns in Resende, und wir waren in der Tat die einzigen Fahrgäste, die ins 15 Kilometer entfernte Itatiaia fuhren.
Es ging noch ein Stück die Schnellstraße Rio de Janeiro - São Paulo entlang, und in Itatiaia angekommen wurden wir auf einem Parkplatz rausgelassen. Hier sah es weitaus besser aus und die Berge des Nationalparks schienen bereits zum Greifen nahe.
Am Rande der Kleinstadt machten wir eine Herberge ausfindig, die inmitten von exotischen Bäumen und einer hübschen Teichanlage gelegen war. Eine gesprächsfreudige Frau wies uns ein Zimmer in einem netten Holzhäuschen zu und anschließend streckten wir nichts ahnend auf eine Wiese die Beine aus. Ein paar Nachbarskinder machten sich einen Spaß daraus, uns mit kleinen Steinen zu bewerfen. Haarscharf verfehlte ein Wurfgeschoss meinen Kopf. Feixend und lachend rannten die Bengels daraufhin davon.
Später am Abend belebten ungewöhnlich viele Jugendliche die Innenstadt von Itatiaia. Vor den zahlreichen Bars wurde eiskaltes Bier aus Flaschen getrunken und lebhaft geplaudert und gelacht. Kathrin war stets Blickfang. Mit ihren blonden Haaren und blauen Augen war sie für die jungen Brasilianer immer und überall eine Attraktion.

Auf dem Grundstück einer Villa mit Vorbau wurde ein Fest gefeiert. Die weißen Säulen der Veranda gaben dem Ganzen ein gehobenes koloniales Erscheinungsbild. An den Bäumen wurden farbenfrohe und Girlanden befestigt. Samba, Bossa Nova und Tropicalismo sorgte für eine fröhlich ausgelassene Stimmung. Junge Frauen und Männer amüsierten sich prächtig, und ihr fröhliches Lachen schallte die Straße entlang. In einem großen Raum der Villa wurde munter getanzt, kalte Getränke und lecker dekorierte Schnittchen wurde den Gästen auf glänzenden Tabletts serviert. Freundlich forderte man uns auf, sich zu bedienen und mitzufeiern.
Auf einer einsamen Straße ging es nachts zurück zur Herberge, vorbei an einem spärlich beleuchteten Bolzplatz. Von den vier aufgestellten Laternen funktionierte nur eine einzige. In fast dunkler Umgebung sah man die kleinen Gestalten nur schemenhaft dem Ball hinterher flitzen. Scheppernd donnerte der Ball gegen den zerbeulten Metallzaun und Kinderschreie hallten in der lauen Nacht.
Eine winzige aus Backsteinen und Holz erbaute Kirche stand am Wegesrand. Auf einem verwitterten Brett waren die handgemalten Buchstaben »Jesus Christo e o Senhor« zu lesen. Schwach schimmerten die roten Buchstaben im Licht der vereinzelten Laternen und des aufgehenden Mondes.
Im Garten der Herberge legten Kathrin und ich uns auf eine Decke und blickten zu den Sternen. Es war bereits spät und kein Kind bewarf uns mehr mit Steinen. Klar und deutlich war das Cruzeiro do Sul inmitten der restlichen Sternen zu erkennen und von Zeit zu Zeit irrte eine Sternschnuppe durch die nächtliche Atmosphäre. Bedrohlich hoben sich die dunklen Umrisse der Gebirgskette vom Sternenhimmel ab. Ich dachte an die kommenden Nächte, die wir in diesen Bergen verbringen würden, und überlegte, ob viele wilde Tiere in den düsteren Wäldern des Nachts auf die Jagd gehen.

altAuf unserer Tour sollte es nie langweilig werden. Es war wie in einem Horrorfilm. Mitten in der Nacht krachten die Tür und die verschlossenen Fensterläden unseres Zimmers. Wie besessen trat jemand scheppernd dagegen, so dass fast das Holz zersplitterte. In Sekundenschnelle hellwach starrten wir entsetzt auf die wackelnden Fensterläden. Sollten Einbrecher etwa versuchen einzusteigen und uns mit gezückten Messern und Pistolen ausrauben?
Das Hämmern und Donnernd verstummte kurze Zeit später, stattdessen ertönte draußen fröhliches Gelächter. Unsere Panik legte sich. Laute Musik erklang. Durch einen Spalt blinzelte ich auf das Geschehen vor dem Haus. Drei Männer und zwei Frauen hatten sich vor dem Haus niedergelassen und hörten nun Musik, tranken Wein aus Flaschen und alberten herum. Wie sich später herausstellte handelte es sich um die Bewohner des Nachbarzimmers, die angetrunken heimgekehrt waren und nun ausgiebig weiter feierten. Sie kamen aus São Paulo und verbrachten ihre Ferien in Itatiaia. Erst in der Morgendämmerung verstummten Musik und Gelächter.

> zur turus-Fotostrecke: Impressionen aus Brasilien

> zur privaten Webseite des Autors Marco Bertram

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