Fotos, Tagebuch – alles liegt fein verstaut in einer Kiste. Es ist an der Zeit, die Notizen noch einmal herauszuholen. 20 Jahre ist es nun her, als es per Anhalter von Berlin aus über Hannover, Frankfurt/Main, Karlsruhe, Metz und Paris ins belgische Waterloo bei Brüssel ging. Die Mauer war gerade gefallen, wir waren 17 Jahre alt und die Freiheit rief. Die Freiheit, sich einfach treiben zu lassen und Europa kennenzulernen. Zumindest bis nach Frankreich sollte es gehen. In der Geldbörse war Flaute, somit fielen öffentliche Verkehrsmittel weitgehend aus. Interrail? Das könnte später folgen. Erst einmal war Trampen angesagt – und das häppchenweise von Stadt zu Stadt.
Per Anhalter bis nach Waterloo
Sommer 1991. Berlin befand sich in einem sagenhaften Umbruch, besonders der Ostteil der Stadt erwachte aus einem Dornröschenschlaf. Inmitten dieser Zeit begann ich gerade eine Ausbildung in einem ehemaligen VEB. Alles ging drunter und drüber. Die POS lag bereits ein Jahr zurück. Chaos in der Berufsschule und der Lehrwerkstatt. Chaos im Kopf. Jugendliche Aufbruchstimmung. Mit Tarnjacke und BW-Stiefeln ging es morgens in die Ausbildungsklasse. Fast jeder brach äußerlich aus. Der eine machte auf links, die anderen auf rechts. Wiederum andere zogen am Wochenende los, um sich bei Auswärtsspielen des BFC Dynamo zu kloppen. Greifswald, Leipzig. Die Anekdoten gab´s am Montag brühwarm auf dem Pausenhof.
Links, rechts? Kloppe? Adrenalin und Abenteuer gern, doch lieber auf andere Weise. Die Sommerferien standen vor der Tür. Die Möglichkeiten wurden sondiert. Gemeinsam mit einem ehemaligen POS-Schulkameraden sollte es letztendlich per Anhalter gen West gehen. Süddeutschland, Frankreich, vielleicht weiter runter nach Spanien. Mal sehen, was geht. Mal sehen, was läuft. Die Rucksäcke wurden gepackt. Wie gesagt, man schrieb das Jahr 1991. Und das Konto war ziemlich leer. Es musste improvisiert werden. Wanderstiefel? Es blieb bei den BW-Stiefeln, die für stolze hundert Mark ein Jahr zuvor gekauft wurden. Thermoklamotten? Keineswegs. Jeans, Hemden, eine schwarze Lederjacke und gut war.
Ich düste nach Hannover vor, um einen Großonkel zu besuchen, Nico folgte eine Woche später. Allein die erste Woche sprengte mein Vorstellungsvermögen. Der besagte Großonkel nahm mich auf seiner Harley-Davidson mit zu seinem Bikertreffen im Harzer Städtchen Goslar. Massenzelten auf einer feuchten Wiese, Bier bis zum Abwinken, Live-Sex auf einer Bühne. Kein Wunder, dass Nico es bereut hatte, erst später nachzureisen.
Von Hannover aus sollte es nach Frankfurt / Main gehen. Zaghaft wollten wir mit dem Trampen beginnen. Vorsichtig heranpirschen und erst einmal die Sache mit der Mitfahrzentrale ausprobieren. Wir wollten die Ferien in Frankreich und Spanien verbringen und nicht auf den Autobahnen zwischen Hannover und Süddeutschland. Zuerst fix vorankommen und später in aller Ruhe schauen, was so passiert. Nico und ich mussten getrennt nach Frankfurt reisen, am dortigen Hauptbahnhof verabredeten wir uns an einem Gleis. 1991. Kein Internet, keine Mobiltelefone. Feste Verabredungen mussten eingehalten werden, Flexibilität gab es diesbezüglich nicht.
Zwischen zwei jungen Frauen aus Heidelberg fuhr ich im Kleintransporter gen Mainmetropole und musste stundenlang schildern, wie es denn so war in der DDR. Wie es sich derzeit mit der Kriminalität verhalte. Man höre so schlimme Dinge aus der Stadt. Straßenkämpfe, besetzte Häuser, illegale Klubs...
Rasch verging die Fahrt. Bevor ich mich versah, fand ich mich an einer U-Bahnstation in einem Frankfurter Außenbezirk wieder. Wie vereinbart traf ich Nico am Hauptbahnhof am Gleis 13. In Bad Homburg nahmen wir uns in einer Jugendherberge ein Zimmer und plauderten an einer Tischtennisplatte wehmütig über zurückliegende Zeiten. Die Jugendherberge erinnerte uns an die Ferienlager und Klassenfahrten der 80er Jahre. Mensch, was fühlten wir uns alt in jenem Moment. Die Schulzeit hinter uns, das Arbeitsleben vor uns. Wenn wir geahnt hätten, wie jung wir uns 20 Jahre später fühlen.
Frankfurt am Main haute uns um. Die Hochäuser, das Rotlichtmilieau im Bahnhofsviertel. Alles so dicht beisammen. Wir waren platt. Vor unseren Augen sahen wir eine Verfolgungsjagd. Völlig durchgeknallte Typen stürmten auf uns zu und dann in letzter Sekunde an uns vorbei. Schreck lass nach. Das war ganz schön viel bunter Westen auf einmal.
Mit der S-Bahn ging´s schließlich an den Stadtrand zur Autobahnauffahrt. Auf dem Weg dorthin wurden wir Zeuge eines Taschendiebstahls. Eine junge Frau schrie wie am Spieß. Ich war sprachlos, Nico blieb ganz locker. Bis zum Zeitpunkt, an dem die Fahrkartenkontrolle erfolgte. Die ganze Zeit kauften wir brav Tickets, auf der letzten Fahrt ließen wir es drauf ankommen. Wir taten auf unschuldig. Ganz fremd in der Stadt. Aus Ostberlin, und und und. Es half, beide Augen wurden zugedrückt.
Der erste Versuch des Trampens wurde zum Desaster. Schon bald standen wir entmutigt an der Leitplanke und hielten immer wieder den Daumen raus. Keine Sau beachtete uns. Wertvolle Zeit verrann. Und dann doch. Ein junges Pärchen hielt und ließ uns einsteigen. Zwei Studenten aus Basel, die es ganz besonders eilig hatten. Mit 190 km/h brausten wir gen Süden. Wir fühlten uns im falschen Film. Früher war man froh, wenn Papi mit dem Skoda mal 120 fuhr – 190 Sachen waren jenseits der Vorstellungskraft. Und da ging noch mehr. Die Nadel kreuzte bald die 200er Marke. Und nun aufgepasst! Bei diesem Tempo zog sich der Typ am Steuer seinen Pullover aus. Seine Freundin hielt vom Beifahrersitz aus das Lenkrad. Eine geile Showeinlage!. Ich dachte, ich spinne. Es hätte nicht viel gefehlt, und ich wäre am Seitenstreifen ausgestiegen.
Bei Bruchsal schlugen wir am Abend unser Zelt auf. Nachts im Schlafsack drehten sich die Gespräche dieses Mal um körperliche Leiden und Frauen. Frauen – okay. Aber körperliche Leiden? Ich würde es nicht glauben, wenn es nicht im Notizbuch stehen würde.
Bei satten 30 Grad und prallem Sonnenschein ging es nach Karlsruhe. Nach kurzem Stadtbummel trampten wir recht problemlos weiter zur Abfahrt Achern. Abwechslung war angesagt. Zu Fuß überquerten wir die deutsch-französische Grenze etwas nördlich von Strasbourg. Weite Felder, unerträgliche Hitze. 25 Kilometer bis zum Etappenziel. Nico begann zu nörgeln, und in meinem Rucksack platzte ein Nutellaglas. Sein Nutellaglas. In meinem Rucksack sah es aus, als hätte ein Hund reingeschissen. Ich tobte vor Wut, Nico versuchte zu beschwichtigen. Nachdem alles halbwegs gereinigt wurde, kannte ich kein Erbarmen mehr. So, mein Freundchen, jetzt lauf! Und keine Nörgelei mehr!
Am Ufer des Rheins wurde später am Abend Wäsche gewaschen. Alles auf eine gepannte Leine. Friedlich vereint futterten wir Brot und Wurst und ahnten noch nicht, was folgen würde. In Herrgottsfrühe trommelte heftiger Regen auf das Zeltdach. Nun war alles nass. Die schwarze Lederjacke wurde ebenfalls feucht und färbte höllisch ab. Auf Shirt, Hose und blanker Haut. Unter einer Rheinbrücke suchten wir Zuflucht, und Nico zeigte sich von der praktischen, verantwortungsbewussten Seite und brachte den kleinen Kocher zum Laufen. Heiße Suppe, neuer Mut.
Ein netter Franzose nahm uns ein Stückchen mit. In mehreren Etappen trampten wir weiter bis zu einer Raststätte bei Metz. Unser obligatorisches Essen: Baguette, Gemüsesalat und Würstchen aus der Folienpackung. Als Getränk: Kakao aus Plastikflaschen mit schwer zu öffnenden Verschlüssen. Dazu der markante Dieselgeruch. Im Hintergrund ein Schild: Paris 430 km.
Noch ein echter Kanten. Wir fragten etliche LKW-Fahrer, doch die meisten zeigten sich abgeschreckt von unserer Kleidung. Allein unsere Armeestiefel ließen nichts gutes vermuten. Ein Brummifahrer zeigte allerdings Erbarmen. Um fünf Uhr morgens sollten wir an seinem Laster stehen. Abseits der Raststätte schliefen wir abwechselnd im Zelt, um ja nicht den Zeitpunkt zu verpassen. In der Ferne zogen die gelben Lichter der französischen Autos vorbei. Letztendlich war es für die Katz. Kurz vor fünf fanden wir nur noch den leeren Parkplatz vor. Paar Stunden später nahm uns ein anderer LKW-Fahrer mit. Dieser war dermaßen müde, so dass er sich Zigaretten im Minutentakt ansteckte und dabei fast von der Fahrbahn abkam. Wir sollten plaudern. Einfach so. Wir sollten ihn wach halten. Es half nichts. Immer wieder sank der Arme in den Sekundenschlaf. Merci. Das sollte genügen. Wir baten darum, aussteigen zu dürfen.
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Welch ein Gegensatz. Das nächste Stück wurde in einer Nobelkarosse eines Geschäftsmannes zurückgelegt. Einem Schlitten gleich glitt der Wagen mit 180 Sachen über die Autobahn. Leider fuhr der gute Mann nicht bis Paris. Eine junge Französin nahm uns anschließend in ihrem winzigen Auto mit. Das Ziel: Chalon-sur-Marne. Klang toll, war es aber nicht. Industriegebiete, hässliche Häuser, Stromleitungen kreuz und quer. Recht mies gelaunt legten wir uns mit den Schlafsäcken auf den nackten Boden eines Feldes. Um das Zelt aufzubauen, waren wir einfach zu erschöpft. Das Trampen schlauchte mehr, als zuvor gedacht.
Der nächste Tag ließ die Strapazen wieder vergessen. Im Laderaum eines Renault-Transporters durften wir mitfahren – und das bis Paris. Paris! In den Kurven verloren wir jeglichen Halt, egal, das erste Traumziel würde bald erreicht werden. Zudem könnte eine Verabredung mit einem weiteren Schulfreund eingehalten werden. Am nächsten Tag um 13 Uhr auf dem Vorplatz des Notre Dame. Und in der Tat, pünktlich auf die Minute trafen wir Jan auf dem von Tauben überfluteten Platz. Zu dritt übernachteten wir auf dem Zeltplatz im Bois de Boulogne. Baguette, Käse und Wein. Erholung war angesagt. Ein paar Tage Paris, volles Programm, tolle Eindrücke.
Jan trampte weiter nach Südfrankreich, Nico und ich wollten nach Norden. Die Zeit reichte nicht mehr für längere Abstecher gen Süden. Mit der Metro fuhren wir zu einem Geheimtipp für Tramper. Dieser Geheimtipp erwies sich Massenanlaufstelle. Zahlreiche Tramper hielten dort ihre Schilder hoch. Brüssel, Liege, Lille, Amsterdam...
Planänderung. Auf dem Seitenstreifen wollten Nico und ich bis zur nächsten Tankstelle wandern, um dort unser Glück zu versuchen. 15 Kilometer. Die Laune wurde wieder mieser. Eine Stunde lang trotteten wir die trostlose Autobahn entlang. Monotone Geräusche, reichlich Abgase. Und dann passierte es. Ihn musste der Himmel geschickt haben. Vor uns hielt ein Fahrzeug, ein amerikanischer Geschäftsmann hatte Mitleid und wollte uns mitnehmen. Nicht bis zur nächsten Abfahrt, nein, bis Waterloo bei Brüssel! John war Seniormanager und in Belgien tätig, zu Jugendzeiten trampte er selbst quer durch die Staaten. Nach ausführlichem Plausch lud er uns gar in sein Haus in Waterloo ein. Unweit des Hügels, auf dem sich das Denkmal für die berühmte Schlacht befindet.
In weichen Betten im Gästezimmer. Die Klamotten gewaschen und getrocknet. Dazu ein amerikanisches Dinner. Perfekt!
Am Tag darauf trennten sich wieder die Wege. In der kommenden Nacht pennten wir im Schlafsack in der Brüsseler Innenstadt, irgendwo unter einem Vorsprung eines EU-Gebäudes. Damals sah alles noch wirklich grau und hässlich aus. 70er-Jahre-Muff und kalte Architektur im Behördenviertel.
Morgens dann die Entscheidung. Zurück trampen in Richtung Berlin? Lüttich, Aachen, Köln, Hannover... Die Luft war raus – und Nico hatte eine eiserne Reserve. Und diese genügte für zwei Bahntickets Brüssel – Berlin. Dafür bin ich ihm heute noch dankbar! Merci beaucoup!
PS: Wer nach "Châlons-sur-Marne" sucht, sollte folgendes beachten. Die Stadt wechselte 1998 den Namen und heißt nun "Châlons-en-Champagne"... ;-)
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