Das Land am Nil kommt nicht zur Ruhe. Auch 22 Monate nach dem Sturz bzw. Rücktritt von Husni Mubarak sind keine stabilen Zustände in Sicht. Das Land ist gespalten. Tote und hunderte Verletzte bei Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern und Gegnern des derzeitigen Präsidenten Mohammed Mursi. Seit nun mehr zwei Jahren dauern die Proteste in der Arabischen Republik Ägypten an. Fern wirkt bereits die Zeit vor dem Umsturz. Ferner, noch viel ferner wirkt indes das Ägypten der 90er Jahre. Der Nil-Staat vor 17 Jahren. Genauer gesagt im Februar 1996.
Ägypten vor 17 Jahren: Erinnerungen an eine Reise nach Kairo und Al-Fayyum
Folgend eine Zeitreise. Zurück in eine Zeit, in der man vor Reiseantritt in die Ferne keinen Blick ins Internet werfen und konkrete Info einholen konnte. Ägypten auf eigene Faust? In der Tat eine Tour ins Ungewisse! Ein echtes Abenteuer. Ein Trip mit vielen Facetten. Geprägt von skurrilen Erlebnissen und sehr viel Herzlichkeit. Mit dem Taxi, der Bahn, auf dem Esel und zu Fuß wurden auf der damaligen Reise die Regionen um Kairo und um Luxor bzw. Theben West entdeckt. Einiges kam völlig anders als erwartet. Die erste Überraschung gab es bereits am Flughafen von Kairo...
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Mit Egypt Air von Berlin, das im Winter 1995/96 unter einer Eiseskälte leiden musste, über Hugharda in die ägyptische Hauptstadt. Herrlich! Der Erdgeschosswohnung in der Bornholmer Straße in Prenzlauer Berg – inklusive eingefrorener Wasserleitungen und Kohleofen – den Rücken gekehrt, den Rucksack geschnappt und in den Flieger gesetzt. Datteln knabbern statt Kohleeimer schleppen. Während der Touristenmob bei der Zwischenlandung am Roten Meer ausstieg, flogen wir – Jan und ich – in dem fast leeren Egypt-Air-Flugzeug am späten Abend gen Kairo. Golden schimmerten die geschwungenen arabischen Schriftzeichen auf den hellen Wänden des Terminalgebäudes. Heiße flimmernde Luft schlug uns beim Aussteigen entgegen. Der Flughafen war zu jener Stunde bereits ziemlich leer. Leer blieb wenig später auch das Gepäckförderband, denn mein Rucksack zog es wohl vor, am Roten Meer einen Badeurlaub machen zu wollen. Ratlosigkeit bei Egypt Air. Niemand wusste zu jenem Zeitpunkt, wo das gute Stück verblieben war. In Berlin-Schönefeld vergessen? In Hugharda ausversehen mit entladen? Das Rätsel konnte während des Aufenthaltes in Ägypten nicht gelüftet werden. Der Stand der Dinge: Zwei Männer, die Ägypten „erobern“ wollten. Ein Rucksack. Auf Handgepäck hatten wir verzichtet. Das bedeutete, dass ich die nächsten Wochen komplett ohne Gepäck reisen würde. Aber hey, das hatte auch was!
In den 90ern war es auf meinen Reisen üblich, einiges dem Zufall zu überlassen und erst vor Ort nach Übernachtungsmöglichkeiten Ausschau zu halten. Nächtigen im New Yorker Central Park, auf dem verdreckten Busbahnhof von Seattle, auf Bahnhöfen, in Zügen, auf Flughäfen, in den Highlands, auf dem Acker, auf Kuhweiden, in Greyhound-Bussen, in Ruinen, alten Scheunen – es gab kaum eine Art der Übernachtung, die nicht ausprobiert wurde. Etwas vorsichtiger wurde Kairo angegangen. Von einem guten Freund erhielten wir im Vorfeld den Tipp, das Ciao Hotel anzusteuern. Im Moloch Kairo könnte man ansonsten fix verloren gehen. Dieses befand sich gegenüber der Ramses-Station. Diese beiden Namen genügten, um dem Taxifahrer klarzumachen, was er zu tun hatte. Mit einem Affenzahn raste er die Magistralen Kairos entlang. Krasser konnte ein Weltenwechsel nicht sein. Vor ein paar Stunden noch im eiskalten Berlin – nun zogen die Gebäude einer völlig fremdem Stadt vorbei. Ob das nun Kairo, Damaskus oder Islamabad war, spielte keine Rolle. Vom Taxi aus sah alles arabisch, fremd und exotisch aus. Zumal in der Nacht mehr oder weniger nur die Umrisse der Gebäude und die Lichter erkennbar waren. Hupende Autos, Eselskarren, diskutierende Männer, zerzauste Palmen – und nach dem Verlassen der Hauptstraßen kam reichlich Müll auf den Bürgerstraßen hinzu. Keine Frage, man musste voll und ganz dem Taxifahrer vertrauen. Ob die nächste Mülldeponie, das nächste Schlachthaus oder tatsächlich dieses besagte Ciao Hotel angesteuert wurde, war nicht erkennbar. Jan und ich wussten nicht einmal, in welcher Himmelsrichtung dieses empfohlene Hotel lag.
Voilà. Der Taxifahrer war extrem wortkarg, aber eine ehrliche Haut. Scheinbar ohne größere Umwege hatte er uns direkt zum Hotel gefahren. Dieses hatte zwei separate Eingänge. Einen für ausländische Gäste, einen für Ägypter. Die unteren und oberen Etagen standen den zahlungskräftigen Ausländern zur Verfügung. Beide Bereiche waren mit dem Fahrstuhl verbunden. Der mittlere Hotelbereich blieb neugierigen Blicken ausländischer Gäste verwehrt. An Schlaf war kaum zu denken. Es war Ramadan und draußen auf dem Vorplatz herrschte pralles Leben. Immer wieder trafen Kleinbusse mit fröhlich diskutierenden Ägyptern ein. Permanentes Hupen, Geschrei, arabische Musik. Dazu die Qual der Wahl: Stehende Hitze oder eine extrem laut ratternde Klimaanlage. Von schlechter Laune war allerdings keine Spur. Frohen Mutes fuhren wir ins oberste Stockwerk und bestellten auf der dortigen Dachterrasse ein ägyptisches Stella Bier. Unvergessen der erste nächtliche Blick auf die Stadt. Nicht, dass die Aussicht so grandios war, vielmehr war diese Gefühl der Ferne großartig.
Hesham. Um die 40. Schnurrbart, kurze schwarze Haare und spitzbübische Augen. Ein Taxifahrer, der ausländischen Hotelgästen die eine oder andere Spritztour schmackhaft machen wollte. Gerade einmal zwei Schluck Stella Bier getrunken, schon wurden wir auf Englisch mit Fragen bombardiert?! Hey Jungs, schon Pläne für die nächsten Tage? Überlandtouren? Abgelegene Winkel der Stadt? Cemetry? Gizeh? Oasen? Das Koptenviertel? Pyramiden und Grabanlagen in militärischen Sperranlagen? Er könne uns überall hinbringen. Und? Wir baten um Bedenkzeit. Zuerst wollten wir die Sache mit dem verschollenen Rucksack klären. Bingo! Dabei könne er auch helfen! Am kommenden Morgen blitzten uns die Spitzbubenaugen am Frühstückstisch wieder an. My friends! Der Preis sei kein Problem! Wir zahlen, was uns die Sache wert sei! Eine Stunde später ging es mit seinem gelben Lada zum Flughafen. Entgegen seiner großspurigen Ankündigung hielt sich Hesham bei Egypt Air zurück. Ich dagegen diskutierte angeregt mit dem Bodenpersonal. Morgen, morgen, morgen, lautete die Antwort. Dass zwei Tage später die Antwort die selbe war, dürfte nicht wirklich verwundern. Ich hatte inzwischen meinen Rucksack abgeschrieben.
Als Touristenführer leistete Hesham ganze Arbeit. Als erstes hinauf auf das Dach der größten Moschee Kairos, von der man die Weiten der ägyptischen Hauptstadt erahnen konnte. So weit das Auge reichte, erstreckten sich die Wohngebiete. Beigefarbene Gebäude bis zum Horizont. In der Ferne die Schornsteine einiger Industrieanlagen und Neubaublocks. Am Nil das moderne Geschäftsviertel – damals bei weitem noch nicht so ausgeprägt wie in der Gegenwart – und zwischen den Wohnhäusern immer wieder die schlanken Minarette der zahlreichen Moscheen. Dunst lag über der Metropole. Obwohl der Himmel komplett wolkenfrei war, erschien er sehr trüb und diesig. Zum einen die Abgase der Stadt, zum anderen der Staub der Sahara.
Nicht wirklich hätten wir als ortsunkundige Besucher gleich am ersten Tag die engen verwinkelten Gassen des auf einem alten Friedhof errichteten Viertel aufgesucht. Akuter Platzmangel zwang die Bewohner der immer größer werdenden Stadt auch auf diesem Terrain Wohnraum zu schaffen. Hesham parkte seinen Lada und führte uns zu Fuß durch das weit verzweigte Wegesystem. An einer Teestube wurde haltgemacht. Mubarak und lokale Politiker hingen wie Heilige an den weißen Fliesen. Tee und Wasserpfeife waren ein Muss. Heshams Augen funkelten vor Stolz, als er den Anwesenden seine europäischen Gäste präsentieren konnte. Zwei 23-jährige Bleichgesichter, die gewiss einen leicht verschreckten Eindruck machten – allerdings für jedes geforderte Gruppenbild und jede herzliche Umarmung offen waren. Die Konstellationen bei den Fotos wechselten immer wieder. Mal wurde einem ein Baby in die Hand gedrückt, mal wurde man von zwei Seiten fest eingehakt oder umarmt. Mal sollte man selber den Auslöser tätigen. Mal mit Hesham, mal ohne Hesham. In der Teestube, vor der Teestube. Wasserpfeifenschlauch im Mund.
Hatten wir gedacht, dieses Cemetry-Viertel war arm, so wurden wir wenig später eines Besseren belehrt. Das uns gezeigte Koptenviertel spottete jeder Beschreibung. Die Umstände, unter denen tausende Menschen dort lebten, überraschten mich doch. Zwar war die Tatsache bekannt, dass die koptische Minderheit eher zur ärmeren Bevölkerungsschicht gehört, doch dass Ägypter in solch üblen Verhältnissen leben müssen, war mir damals neu. Die Augen und das Hirn konnten gar nicht alles erfassen, was dort in den gezeigten Gassen vor sich ging. Waren das Fabriken oder Werkstätten? Um was es sich gehandelt hatte, konnte später nicht geklärt werden. Fakt ist, dass höllischer Staub ganze Straßenzüge verdreckte. Mit bloßen Händen füllten Erwachsene und Kinder ohne Mundschutz vor den Gebäuden graues Pulver in Säcke ab. Lastkraftwagen hatten teilweise das Zeug einfach auf den Bürgersteig abgeladen. Mal schien es sogar, als ob das Material direkt vor Ort aus der Tiefe geholt wurde. Es war die Hölle auf Erden. Desaströser konnten Lebensumstände kaum sein.
Hesham hatte es drauf, uns recht geschickt von einem Extrem ins andere zu jagen. Vom Koptenviertel direkt ins Papyrusmuseum. Schlechtes Gewissen? Dann bitte einfach ein paar handbemalte Papyrusblätter kaufen! Sein Plan ging auf. Wie hätten wir uns weigern können, sich ein wenig erkenntlich zu zeigen? Zumal die Zeichnungen vor unseren Augen angefertigt wurden. Marco? Jan? Unsere Namen wurden in Hieroglyphen umgewandelt. Sternzeichen Löwe? Minuten später schmückte ein goldener Löwe auf dem Papyrus, das definitiv kein gepresstes Bananenblatt sei. Ob billige Bananenblätter oder nun doch Papyrus – das war uns in jenem Moment ziemlich egal. Mitspielen war angesagt. Zufrieden rollte der Verkäufer die Zeichnungen zusammen und verstaute sie sorgfältig in runde Pappboxen. Wohlwollend nickte Hesham. Alle waren zufrieden.
Immerhin. Hesham brachte uns pünktlich zum Sonnenuntergang zu den Pyramiden von Gizeh. Zu einer Tageszeit, an der fast alle Touristen längst verschwunden waren. Die Pyramiden fast für uns allein. Und unsere Kamele und Begleiter. Zu Fuß dort spazieren gehen? Veto wurde von Hesham eingelegt. Ein Kamelritt müsse schon sein. Als Dank würde es auch „full speed“ in die Wüste gehen! Hesham ließ uns kurzerhand mit den Kamelführern allein. Den Preis durften wir allein aushandeln. Das Feilschen zog sich hin. Zu unverschämt war das geforderte Geld für einen Ausritt auf den arg abgehalfterten Kamelen. Teuer blieb der Spaß, doch konnten wir am Ende mit der Rechnung leben. Nervtötender waren indes die während des Ausfluges herbeieilenden Gestalten, die mit Nachdruck Bakschisch forderten. My friend, my friend! Ein Zupfer am Stiefel. Energisches Zerren am Hosenbein. Schlecht angefertigte Skarabäus-Käfer wurden angeboten. Gab man ein paar ägyptische Pfund, um Ruhe zu haben, stürmten jüngere Männer heran und behaupteten, die Söhne der Vorherigen zu sein. Look at this! Antik! Antik! Es blieb kaum eine Minute, um das Weltwunder von Gizeh in Ruhe betrachten zu können. Die Sonne verschwand hinter dem Horizont, Sand und Pyramiden nahmen nun eine rötliche Färbung an. Wenn nicht jetzt, wann dann. Wir stiegen von den Kamelen und schauten uns die größte der dortigen Pyramiden aus der Nähe an. Zwar versuchten uns die Kamelführer und ihre Begleiter davon abzuhalten, die hohen Stufen der Cheops-Pyramide zu erklimmen, doch nachdem ich etwas lauter wurden, konnten wir einen Moment der Stille genießen. Zwar waren unsere Führer nun eingeschnappt, doch den versprochenen Ausritt in die Wüste gab es dennoch.
Hesham befand sich zu unserem Erstaunen nicht am vereinbarten Treffpunkt. Weit und breit kein Mann in brauner Lederjacke. Die Vermutung lag nahe, dass er sich mit dem gekauften Papyrus, welches im Taxi lag, aus dem Staub gemacht hatte. Gerade schimpfte ich wie ein Rohrspatz, als ein fremder Mann auf uns zu kam und erklärte, dass Hesham in einem Café auf uns warte. Das Café stellte sich als Souvenirladen heraus. Scheinbar war alles generalstabsmäßig geplant. Nahtlos sollte für uns ein Highlight dem nächsten sowie für ihn ein Business dem anderen folgen. Beim Tee wurden uns zahllose Gegenstände gezeigt und in die Hände gedrückt. Es fühlte sich an wie auf einer Zwangsveranstaltung einer Kaffeefahrt. Fluchtgedanken kamen auf. Das in Heshams Taxi liegende Papyrus ließ jene sogleich zunichte machen. Zudem war es von Gizeh bis ins Stadtzentrum von Kairo wahrlich kein Katzensprung. Also ließen wie das Szenario über uns ergehen. Lächelnd betrachteten wir die angepriesenen Utensilien, die alle unglaublich „antik“ waren. Allerdings blieben wir hart und kauften nicht eine einzige Alabasterpyramide. Großzügiger zeigten wir uns am späten Abend, als wir Hesham seinen Tageslohn auszahlten.
Am nächsten Morgen fühlten wir uns wie gerädert. Der Blick aus dem Hotelfenster verhieß nichts Gutes. Eine gewaltige Dunstglocke hatte sich über die Stadt gelegt. Feinster Saharastaub ließ den Himmel trüb werden. Die Augen brannten. Sand knirschte zwischen den Zähnen. Die eh schon übel aussehenden Wohnhäuser des Viertels wurden nun in ein noch schlechteres Licht gerückt. Bagdad oder Kabul nach einem Bombenangriff. So schien es zumindest. Himmel, Erde und Gebäude – alles schien die gleiche trübe Farbe zu haben. Betrachtete man die umliegenden Häuser im Detail, so fand das Erstaunen keine Grenzen. Kaschierten unten in den Gassen bunte Obststände, Reklametafeln und Passanten das traurige Antlitz des Viertels, so spottete der Blick von oben jeder Beschreibung. Schuttberge auf den Dächern. Fehlende, herausgebrochene Fenster. Bröckelnde Fassaden. Eingestaubter Müll an jeder Ecke. Ein Wunder, dass auf Grund der Baufälligkeit nicht jeden Moment ein Haus einstürzte. Oder zumindest die auf der Straße laufenden Leute von losen Ziegelsteinen und Fassadenbrocken erschlagen würden.
Auf eigene Faust ging es an jenem Tag quer durch die Stadt bis hinunter an den Nil. In einer x-beliebigen Nebenstraße ließen wir uns von einem älteren Mann überreden, auf einen Tee in seiner Parfumerie vorbeizuschauen. Diese befand sich in einem Hinterzimmer der oberen Etage. Auf makellosen Ledersesseln durften wir Platz nehmen, eine Frau brachte Teegläser und Zucker auf einem silbernen Tablett herbei. Nach dem Austausch von Höflichkeiten kam der Mann im grauen Anzug zum Wesentlichen. Lasst uns Geschäfte machen! Aus einem Schrank brachte er Ampullen und Schraubgläschen herbei. Konzentrierte Parfumöle wurden vor uns aufgebaut. Alkohol sei kein Tröpfchen enthalten. Je nach Bedarf, müsste man daheim im Europa den Alkohol selbst auffüllen. Je nachdem, ob man ein Eau de Toilette, ein Eau de Cologne oder ein Eau de Parfum haben möchte. Das Ganze wäre für uns ein prima Deal. Kaufen wir 100 Milliliter eines Öls, so könnten wir zu Hause locker 300 Milliliter eines in Westeuropa handelsüblichen Duftwässerchens anfertigen. Duftrichtungen und Kompositionen? Die Mischungen von Lagerfeld und Coco Chanel seien kein Geheimnis. Er habe sämtliche notwendigen Öle für die Anfertigung. Hugo Boss, Armani, Davidoff?
Was sei unser Wunsch? Während wir schon wieder Fluchtgedanken hatten, bat er uns eindringlich, die Öle zu testen. Einreiben und riechen. Rötliche und gelbliche Öle benetzten unsere Handrücken. Was nun? Ja, was nun?! Wir saßen in einem verschlossenen Hinterzimmer. Einfach abrücken ging nicht mehr, dafür war das Gespräch zu weit vorangeschritten. Business, my friends! Der Mann wollte auf den Punkt kommen. Schluss mit der Herumrederei. Der Tonfall wurde deutlicher. Leere Ampullen wurden gebracht. Ich bat um zwei Proben zu je zehn Milliliter. Seine Gesichtszüge entgleisten. Das sei wohl ein Witz! Um Ärger aus dem Wege zu gehen, schließlich wussten wir ja nicht, welche Gehilfen eine Tür weiter für den Fall der Fälle bereitstanden, kauften Jan und ich jeweils eine 40-Milliliter-Flasche. Zufrieden war der Parfumhändler nicht, aber er akzeptierte den Deal und ließ von der Frau alles sorgfältig abfüllen und verpacken.
Keine Frage. Kairo hatte etliche Überraschungen parat. So ging es mit der zu großen Teilen in den 80er Jahren gebauten U-Bahnlinie 1 bis zur südlichsten Station Helwan, um von dort aus im einem Rutsch die gesamte Strecke bis in den Norden zur damaligen Endstation El-Marg zu fahren. Größtenteils (außer 4,5 Kilometer im innerstädtischen Bereich) verkehrt die Kairoer Metrolinie 1 oberirdisch und somit konnten wir uns einen guten Eindruck von den Wohnvierteln der Stadt verschaffen. Ganze 43 Kilometer lang ist diese Linie und keineswegs endet die Stadt an den jeweiligen Endbahnhöfen. Kairo erstreckt sich unfassbar weit entlang des Nils. In unserem Fall war es damals im Februar 1996 nicht möglich, an der südlichen Station Helwan ein Ticket bis nach El-Marg zu kaufen. Niemand schien in Kairo auf die Idee zu kommen, die gesamte Strecke abfahren zu wollen. Warum auch? So war es nur möglich, Fahrscheine bis kurz hinter das Stadtzentrum zu lösen.
Bei Ankunft an der nördlichen Endstation wurden wir sogleich von zwei Männern in Zivil aufgegabelt. Unsere Tickets waren nicht gültig. So viel war klar. Unser Vorschlag, den Restbetrag nachzulösen, wurde abgelehnt. Eine Strafe sei fällig. Und zwar eine richtig saftige! 200 ägyptische Pfund! Umgerechnet damals rund 100 Deutsche Mark – sprich 50 Euro. Verrückte Ägypter. Selbstverständlich machten wir keine Anstalten 200 Pfund abzudrücken. Vielmehr diskutierten wir mit den beiden und ließen uns auch von der Drohung, die Polizei zu holen, nicht einschüchtern. Mein Ton wurde rau, dies ließ die beiden Kontrolleure – wenn es überhaupt welche waren – unsicher werden. Letztendlich ließen sie uns ziehen, ohne dass wir auch nur einen Pfund gezahlt hatten.
Am Tag darauf bot uns wieder Hesham wie vereinbart seine Dienste an. Ziel war die rund 90 Kilometer südwestlich von Kairo gelegene Oasenstadt Al-Fayyum (El-Fayum). Geschätzte 330.000 Einwohner leben gegenwärtig in dieser Stadt, damals waren es noch einige weniger. Die Fahrt dorthin war spektakulär. Mit dem Lada ging es anfangs auf einer Straße am Nilufer entlang. Eine steife Brise aus Südwest ließ die Palmen wiegen und uns den Staub der Libyschen Wüste schmecken. Männer in weißen und hellgrünen Gewändern beackerten wie vor tausenden Jahren mit alten Gerätschaften die Felder des grünen fruchtbaren Nilstreifens. Ochsen zogen einen Pflug, kleine Kinder schnitten Gras mit Sicheln. Hesham trat spontan auf die Bremse und machte uns mit überraschten Feldarbeitern bekannt. Schüchternheit auf beiden Seiten. Trotzdem, ein Gruppenfoto war laut Hesham ein Muss. Und ein kleines Bakschisch sei auch okay.
Zirka 50 Kilometer südlich von Kairo bogen wir in Richtung Westen ab. Schon bald endete der Asphalt, stattdessen fuhren wir auf einer Sandpiste. Frauen ritten auf Eseln und machten nur widerwillig Platz. Hell getünchte Moscheen bildeten in kleinen Dörfern die Farbtupfer. Irgendwann lag rechts und links neben uns nur noch Wüste, die an dieser Stelle aus kieseligem Sand bestand. Wieder stoppte Hesham den Wagen. Wieder ein Foto machen. Dieses Mal in der Einöde. Kommt Jungs, noch paar Meter weiter. Nur ihr und die weite einsame Wüste. Ein komisches Gefühl in der Magengrube. Holt er jetzt die Knarre raus oder lässt uns hier zurück? Gewiss, er spielte ein wenig mit unserer Angst. Lächelnd setzte er sich wieder ans Steuer und ließ eine Staubwolke hinter seinem Lada aufwirbeln.
Al-Fayyum wirkte auf uns nicht gerade einladend. Trostlose Wohngebiete und eine kleine aufpolierte Innenstadt, in der das Wasser in pompöse Brunnen sprudelte. Die ganze Stadt war skurril. Spannend und interessant ganz gewiss, doch ging alles viel zu schnell. Und das war erst der Anfang, denn Hesham versprach uns einen spannenden Nachmittag. Er wolle uns Grabstätten und alte Pyramiden zeigen, die sich auf militärischen Sperrgebieten befinden. Die einzige Hürde zum Weg ins Glück: Bakschisch. Und das nicht zu knapp. Hier ein Kontrollposten, dort ein paar Wärter. 20-Pfund-Scheine wechselten an jenem Tag zuhauf den Besitzer. Immerhin: Auch der Meidum-Pyramide wurde ein Besuch abgestattet. Auch dort wurden die Hände aufgehalten, im Gegenzug durften wir auf staubigen Brettern in eine Grabkammer hinabsteigen. Dem nicht genug wurde uns nach einigen gewünschten Gruppenfotos ein offengelegter Sarkophag präsentiert, auf dem blanke ausgeblichene Knochen und zwei mumifizierte Füße wie auf einem Gabentisch lagen. Das Ganze wurde langsam surreal, zu schnell hatte uns Hesham von einer Grabstätte zur anderen kutschiert. Zahlreiche Infos, immer wieder neue Eindrücke – so langsam glühten unsere Hirnwindungen.
Hesham hatte alles eingeplant und erklärte, dass nun der erholsame Part des Tages folgen würde. Oha! Auf zum Salzsee, dort kenne er ein prima Fischrestaurant. Und in der Tat, wie eine Fata Morgana lag plötzlich der bläuliche See mitten in der Wüste vor uns. Kleine Wellen plätscherten ans Ufer. Bis auf einen kleinen Jungen, der Muschelketten verkaufte, war niemand zu sehen. Auch in dem besagten Restaurant waren wie die einzigen Gäste. Eine Speisekarte gab es nicht, Hesham managte das Ganze. Die Quittung gab es nach dem Essen. Während des Bezahlvorgangs war Hesham plötzlich verschwunden. Er ahnte wohl, dass uns der Betrag aus den Stiefeln hauen würde. Keine Frage, Jan und mir ging langsam das Bargeld aus.
Als am Abend vor dem Ciao Hotel Hesham seinen Lohn erhielt, kam es zum Eklat. Wir bezahlten fair, aber nicht mehr ganz so überaus großzügig wie zwei Tage zuvor. Unser Taxifahrer hob die ihm gereichten Banknoten, wedelte sie verächtlich in der Luft und fragte uns, ob das alles sei. Ja, lautete meine lapidare Antwort. Daraufhin ließ er sie einfach nach hinten fallen. Eine typische Diskussion begann. Wir als reiche Touristen aus dem überreichen Westeuropa seien doch vielleicht nur einmal in Ägypten, das müsse doch was wert sein, so Hesham. Jegliche Einwände, dass ich in Berlin ein Student sei und in einer kalten Erdgeschosswohnung wohne, halfen nicht im Geringsten. Eine Stunde lang diskutierten wir im Lada sitzend. Hesham und ich im Wortgefecht, Jan konnte in diesem Moment nur sprachlos zuschauen. Auf beiden Seiten kühlten sich die Gemüter wieder ab. Versöhnliche Worte. Freundliche Worte. Am Ende mehr Verständnis für die andere Sichtweise. Man traf sich in der Mitte. Gezahlt wurde letztendlich ein Betrag, mit dem alle recht gut leben konnten.
Dass dem wirklich so war, bewies Hesham, indem er sich um unsere Bahntickets für die weitere Reise kümmern wollte. Das war auch gut so, denn an den Fahrkartenschaltern der Ramses Station hätten wir niemals das bekommen, was wir uns wünschten. Sämtliche Fahrpläne, Hinweistafeln und Schilder waren nur auf Arabisch. Englische Angaben suchte man dort zu jener Zeit vergeblich. Ein Scheinchen extra – und schon war es Hesham möglich, an der ganzen Schlange vorbeizugehen und direkt an der kleinen Luke die Tickets zu erwerben. Tickets für eine Fahrt mit dem Nachtzug ins zirka 500 Kilometer entfernte Luxor...
Teil 2 des Ägypten-Berichts (Familienleben in Theben-West) folgt in Kürze!
Fotos: M. Bertram & J. Noack
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