Bereits bei der letzten Tour nach Jelenia Góra im Sommer letzten Jahres verlief die Fahrt anders als geplant. Aufgrund zerstörter Brücken und umgestürzter Bäume nach einem schweren Unwetter war die eingleisige Bahnstrecke von Zgorzelec über Luban und Gryfów Slaski nach Jelenia Góra im Vorland des Riesengebirges unterbrochen. Überfüllte Kleinbusse brachten die Reisenden bei Platzregen sowie Blitz und Donner auf dem Straßenweg zum Ziel. Dieses Mal war es nicht ein Unwetter, sondern ein Unfall, der einem reibungslosen Reiseverlauf einen Strich durch die Rechnung machte.
Lok-Unfall am Bahnübergang: Polen-Reise wird (wieder) zur kleinen Odyssee
Bahnhof Berlin-Südkreuz, Freitagvormittag. Die erste Durchsage: Der Eurocity nach Wroclaw (Breslau) hat zehn Minuten Verspätung. Halb so wild. Die zweite Durchsage war beachtlicher: Im Wagen 268 ist die Klimaanlage ausgefallen. Soll heißen: Wer dort seinen Sitzplatz reserviert hat, muss mit empfindlicher Kälte rechnen. Ein Ausweichen auf die anderen Waggons war kaum möglich, da diese voll waren. Mit hochgezogener Kapuze mummle ich mich ein und lese ein Buch. Bis zum Umsteigebahnhof Wegliniec sind es drei Stunden – eine Zeitdauer, die in einem frostigen Waggon gerade so ertragbar ist. Der Zugbegleiter erlöste allerdings die Fahrgäste und erklärte, dass man zumindest bis zur polnischen Grenze die Abteile der 1. Klasse nutzen könnte. Erstaunte Gesichter in den beiden vollen, muffig warmen Großraumwagen, als eine Karawane mit Sack und Pack in Richtung 1. Klasse durch den Gang pilgerte.
Die Fahrgäste in den großzügigen 1. Klasse-Abteilen bekamen nun Gesellschaft. Bis auf den letzten Platz wurden die Abteile aufgefüllt. Na, geht doch! Fix kam man untereinander ins Gespräch, gute Stimmung unter den Reisenden. Kein Wunder, wollten allesamt ihre Liebsten in Polen besuchen. Die gute Laune hielt indes nicht lange an. Genauer gesagt bis Cottbus. Nach rund 15 Minuten die Hiobsbotschaft: Die polnische Lokomotive, die eigentlich vorgespannt werden sollte, hatte an einem Bahnübergang einen schweren Unfall mit einem Kleinbus. Eingesetzt werden konnte diese Lokomotive an diesem Tag definitiv nicht mehr. Ersatz musste her – und das könne laut Zugbegleiter mindestens eine Stunde dauern. Aus einer Stunde wurden zwei. Aus zwei dann drei. Lokomotiven für einen Eurocity stehen in Polen nicht an jeder Ecke auf standby. Einfach mit der deutschen Lok weiterfahren ging auch nicht, da das deutsche und polnische Schienennetz verschiedene Systeme der Stromversorgung haben.
Besorgte Gesichter in den Abteilen. Nichts ging mehr. Die deutsche Lok blieb vorgespannt, damit wenigstens die Wärmeversorgung in den Waggons gewährleistet werden konnte. Manch einer griff zum Laptop und suchte alternative Verbindungen heraus, andere telefonierten und schickten Kurznachrichten. Karfreitag. Endstation Cottbus. Glücklicherweise verlor niemand die Nerven, die Fahrgäste nahmen die Wartezeit erstaunlich entspannt hin. Nochmals kam der Zugbegleiter. Keine Neuigkeiten. Hätte man das direkte Fahrtziel Wroclaw, könne man mit seinem Ticket über Frankfurt/Oder nach Poznan fahren. Von dort aus hinunter ans mögliche Endziel der Reise.
Ein strammer Plan. Anderthalb Stunden nach Frankfurt/Oder, guter Anschluss an den Berlin-Warszawa-Express. Knapp zwei Stunden Fahrt nach Poznan, dort eine Stunde Wartezeit, mit dem Regionalzug 80 Minuten bis Leszno und dann nochmals knapp zwei Stunden mit einem weiteren Regionalzug bis Wroclaw Glowny. 20:46 Uhr die Ankunftszeit. Kein Wunder, dass niemand auf diese Alternative zurückgriff und stattdessen weiter im immerhin mollig warmen (abgesehen vom leeren Waggon 268) weiter ausharrte und hoffte, dass irgendwann doch noch eine polnische Lok eintreffen würde. Nachdem in Sachen Verspätung die magische Zahl „150“ erreicht war, ließen die Reisenden diese auf den Tickets eintragen. Wozu das gut sei? Eigentlich zu nichts, denn schließlich sei die Deutsche Bahn nicht Schuld an der Verspätung. Mit Erstattung sei nicht zu rechnen.
Nach vier Telefonaten dann meine Entscheidung. Eine andere Alternative musste her. Auf nach Görlitz! Noch rasch einen Schein vom Automaten abgehoben. Kann ja sein, dass es hart auf hart kommt und irgendwo eine Übernachtung eingeplant werden müsse. Dann zum Bahnschalter. Dort wurde auf unbürokratischem Wege per Hand auf mein Ticket geschrieben, dass ich über Görlitz fahren darf. Im rappelvollen Regionalzug also nach Görlitz. Um nicht bei Schnee und mit Gepäck den Fußmarsch über die Neiße antreten zu müssen, wurde kurzerhand auf ein Taxi zurückgegriffen. Für 11 Euro über die Grenze zum Busbahnhof von Zgorzelec, wo weitgehend gähnende Leere herrschte. Niemand hatte sich in der großen Wartehalle verirrt. Aufkommendes Gefühl der Einsamkeit. Erinnerungen an zurückliegende Reisen kamen hoch. Touren in den 90ern, als im Prinzip alles dem Zufall überlassen wurde. Quer durch Europa mit dem Interrailticket, mit dem Greyhound durch ganz Nordamerika, als Tramper auf Achse. Übernachtungen auf Bahnhöfen, in Parkanlagen und in Bauruinen. Wo blieb meine jugendliche Unbeschwertheit? Meine Güte, muss man nun bereits zehnmal auf den Fahrplan schauen, von welcher Haltestelle der Bus nach Jelenia Góra fährt?
15:50 Uhr. Abfahrt eines alten Reisebusses, der mich ans Ziel der Reise bringen sollte. 17,50 Zloty für 70 Kilometer. Ein fairer Preis. Viele Leute setzen in Polen sowieso auf den Busverkehr. Die vorletzte Reihe ist meine. Der Blick fällt durch das schmuddelige Fenster auf ein Einkaufszentrum am Rande von Zgorzelec. Auf der anderen Seite zieht ein Gebäude mit dem Schriftzug „Leroy Merlin“ vorbei. Trübes Wetter, traurige Schneereste auf dem Acker. Muffig warme Luft im rumpelnden, schaukelnden Bus. Weitere Erinnerungen werden wach. Fußballauswärtsfahrten und Touren mit der Schulklasse. Vor mir knickt jemand weg, schräg gegenüber glotzt mich ein Pfiffi böse an. Hinter mir röhrt der Motor. Paar Prisen Abgase scheinen den Weg durch die Ritzen in den Fahrgastraum zu finden.
Anderthalb Stunden später spuckt der Bus sämtliche Fahrtgäste auf dem geräumigen Parkplatz des Busbahnhofs in Jelenia Góra aus. Wäre man hier das erste Mal, würde man bei diesem grauen Wetter denken, die Grenze zur Ukraine sei erreicht. Früher wäre ich gelaufen oder hätte schmerzfrei auf irgendeinen Bus gewartet, der in ein, zwei Stunden käme. Heute kommt doch die Bequemlichkeit durch. Ab ins Taxi. Auf polnisch gegrüßt, die Adresse in Cieplice genannt. Fertig. Durchatmen, dem dudelnden Autoradio gelauscht. Da meine drei Sätze so locker flockig kamen, dachte der ältere Taxifahrer, er könne mit mir ein Pläuschchen halten. Diesbezüglich musste ich ihn dann doch enttäuschen. Weiter Radiohören. Die chemische Fabrik zwischen Jelenia Góra und Cieplice zieht rechte Hand vorbei, dann noch ein Schlenker um das historische Zentrum und schon ist das Ziel der Reise erreicht. Ostern kann beginnen. Ob der Eurocity in Cottbus irgendwann nochmal die Reise fortsetzen konnte, entzieht sich leider meiner Kenntnis...
Allen Lesern von turus.net an dieser Stelle ein frohes Osterfest!
Fotos: Marco Bertram
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