Kurz vor 12 Uhr. PKS Jelenia Góra. Ein Blick auf den riesigen Parkplatz des Busbahnhofs. Es gibt Orte, die sehen an vielen Ecken der Erdkugel ähnlich aus. Ob in Banja Luka in Bosnien und Herzegowina, ob in Imperatriz in Brasilien oder hier im niederschlesischen Jelenia Góra (Hirschberg). Die Tasche in der Hand, der Blick auf den Fahrplan. Wieder auf Reise. Ein Gefühl von Wehmut, Entdeckungsgeist und innerer Angespanntheit. Man kann jahrzehntelang als Globetrotter Reisen durch die ganze Welt gemacht haben, egal, der bange Blick auf einem fremden Busbahnhof bleibt. Von wo fährt der Bus? Das Ticket vorher kaufen?
Polen immer wieder: Eine Portion Gelassenheit und sehr viel Heimatgefühl
Um 12:20 Uhr soll es nach Zgorzelec gehen. Wieder einmal endet eine meiner zahlreichen Polen-Touren. Reisende warten seelenruhig auf den Bänken vor den 12 Buchten mit ihren jeweiligen Zaunöffnungen. Ein „Polbus“ fährt vor. Sein Ziel: Wroclaw. Unaufgeregt werden die größeren Gepäckstücke in den Ladeflächen verstaut. Etwas abseits steht ein älterer Bus der „PKS Boleslawic“. Erinnerungen an zurückliegende Touren kommen hoch. Die abenteuerliche Fahrt mit dem Linienbus von Goiânia über Imperatriz nach Belém im Sommer 1996. Die überaus lange Tour mit den Greyhoundbussen quer durch Kanada von der Ostküste bis zur Westküste. Und ja, die irgendwie tragische Lethargie am Busbahnhof von Banja Luka.
Wobei wir beim ersten Punkt wären. Polen ist dem Balkan weitaus näher als seinem Nachbarland Deutschland. Vieles ähnelt in Polen dem Gesehenen in Kroatien oder Serbien. Die Infrastruktur. Die Mentalität der Leute. Die Geschäfte. Die Ess- und Trinkkultur. Manches könnte sich indes auch in Russland wiederfinden. So zum Beispiel die Toilette am Busbahnhof. Eine Frau hat es sich dort richtig eingerichtet, hält Ordnung und kassiert die Taler ein. Diese Dame sitzt quasi gleich um die Ecke des Herren-WC – mit Blick auf einen laufenden Fernseher, der direkt neben den Waschbecken steht. Herzallerliebst vor allen Dingen das prall wuchernde Grünzeug unmittelbar neben den kleinen Pipi-Becken. Herrlich, wie so oft in Polen: Die Frau ist kauzig und freundlich zugleich. Und neben dem satten Grün strullert es fröhlich in die Keramikschüssel.
Hektik scheint in Polen ein Fremdwort zu sein. Die geschäftigen Innenstädte der Metropolen wie Warschau und Breslau mal ausgenommen. Einiges wird in Polen gelassener genommen. Eine Portion Gelassenheit gefällig? Dann einfach mal eine gewisse Zeit in einer polnischen Kleinstadt oder auf dem Lande verbringen. Für mich als großstadtgestressten Berliner ist ein Aufenthalt in Polen immer wieder Entspannung pur! Doch dazu mehr. Während ich auf dem Busbahnhof Notizen mache und an der Cola nippe, fragt mich ein Pole, ob hier der Bus nach Zgorzelec abfahre. Noch wichtiger: Wie lange dauert die Fahrt? Anderthalb Stunden. Als er bemerkt, dass ich Deutscher bin, schaltet er sprachlich nahtlos um. Der Notizblock kann getrost weggelegt werden, für eine intensive Unterhaltung ist ab nun gesorgt.
Wie der Zufall will, kann ich ihm sogar aus der Patsche helfen. Nur noch 20 Zloty in der Tasche, staunt er über die Tatsache, dass die Fahrkarte nicht 16 (wie im Internet zu lesen), sondern 26 Zloty kostet. Fix helfe ich mit einem 10-Zloty-Schein aus (Das Geborgte gibt es später in Euro retour). Groß sein Dank, noch intensiver das Gespräch während der anderthalbstündigen Busfahrt in Richtung deutsch-polnische Grenze. Als Kind ging er Mitte der 70er Jahre mit seinen Eltern rüber nach Köln. In der Gegenwart arbeitet er sowohl in Deutschland, als auch in Österreich. Oft genug schaut er jedoch in seiner polnischen Heimat vorbei. Ein Grundstück für seinen späteren Ruhestand hatte er sich zu Fuße des Riesengebirges bereits gekauft. Heimat ist Heimat, und noch unterscheidet einiges die Deutschen von den Polen. Während in Deutschland viele Menschen ziemlich eingezwängt zwischen Gelddruck und Arbeit nur gestresst nach vorn schauen, spreche man in Polen noch mit seinem Nachbarn oder halte auf der Straße bei einem Zigarettchen ein Pläuschchen, erklärte der 44-jährige Pole. Was soll ich sagen? Ich kann das bestätigen. Fix werden noch die Handy-Nummern ausgetauscht. Falls ich mal eine Unterkunft in Österreich oder Wroclaw benötige – nur zu! Und ja, auf Reisen trifft man intuitiv häufig die richtigen Leute. Man kommt ins Gespräch, entdeckt Gemeinsamkeiten und kann sich eines Tages eventuell behilflich sein.
Polen. Wie ein weiß-roter Faden ziehen sich die Reisen ins östliche Nachbarland durch mein Leben. Angefangen hatte alles im August 1979. Sechster Geburtstag. Meine Eltern hatte eine Überraschung parat. Um drei Uhr in der Frühe wurde ich geweckt und vor den Geburtstagstisch gestellt. Schlaftrunken erfasste ich nicht, was das Ganze soll. Marco, wir fahren in den Urlaub! Ins Riesengebirge! Zwei Wochen verbrachten wir auf tschechischer Seite und wanderten durch die urigen Täler und erklommen manch einen Höhenzug. Auf die Schneekoppe ging es mit dem Sessellift. Dort oben dann der erste Schritt in die damalige Volksrepublik Polen. Ein Urlaub, der sich fester und bildhafter ins Gehirn eingebrannt hatte, als manch eine folgende Reise.
Fast exakt vor 26 Jahren wollte es das Schicksal, dass ich das erste Mal in aller Ausführlichkeit positive Erfahrungen in unserem östlichen Nachbarland machen durfte. Mit einer Betriebsferienlagergruppe der Fotochemischen Werke in Ostberlin (ORWO / Original Wolfen Filme) ging es mit schätzungsweise 20 anderen Kindern für zwei Wochen nach Mikoszewo, gelegen an der Weichselmündung am Ufer der Ostsee nahe Danzig. Mit dem Nachtzug fuhren wir von Berlin nach Warschau. Die Erinnerungen an die Bahnfahrt sind verblasst, eingebrannt hat sich allerdings der unterirdisch gelegene Bahnhof Warzsawa Centralna. Damals glänzten die Metallverkleidungen im Gegensatz zu heute noch in voller Pracht.
Warschau wirkte indes auch für Kinderaugen grau und trist – allerdings auch extrem spannend. Der Blick vom Kulturpalast ließ Kinderherzen höher schlagen. Unfair fanden wir indes, dass in einem typischen Ostblockrestaurant für uns im wahrsten Sinne des Wortes eine Extrawurst gebraten wurde. Genauer gesagt ein Sonderschnitzel. Uns war damals durchaus bewusst, dass in der Volksrepublik Polen ein gravierender Lebensmittelmangel herrschte. Anfang der 80er Jahre hatten wir schließlich an den Schulen Weihnachtspakete abgegeben, die anschließend nach Polen gefahren wurden. Es war das einzige Mal, dass meine Eltern sich in der DDR an einer Soli-Aktion beteiligt hatten. Waffen und Halstücher für Kuba und Nikaragua? Pustekuchen! Doch Plüschtiere, Süßigkeiten und Spielzeug für polnische Kinder – da wurde fleißig eingepackt.
In Warschau im Sommer 1987 waren im Restaurant die Blicke der anderen Gäste nicht zu übersehen. Schnitzel für DDR-Kinder? Allerdings waren es keine wütenden Blicke, eher wirkten die Erwachsenen traurig. Traurig über die Tatsache, dass es ihnen äußerst selten möglich war, ihren Kleinsten daheim ein Schnitzelchen zu servieren. Ob Absicht oder Schludrigkeit – das blieb ungeklärt: In unserer Salatbeilage tummelten sich kleine Nacktschnecken. Scheinbar ungereinigt wurde der grüne Salat direkt vom Bauern uns auf die Teller gelegt. Heute würde man sagen: Hey, das kann nur Bio sein. Wir Kinder nahmen es mit Humor, unsere Begleiter machten indes gewaltig Zoff. Dieses Ding könnte schließlich an die politische Glocke gehängt werden! Schnecken für Ferienlagerkinder aus dem Bruderland? Ein echter Affront!
Bevor jetzt zu weit ausgeholt wird, besser den Bogen schlagen! Es war ein grandioser Sommer! Tolle Tage an der polnischen Ostsee, angenehme Aufenthalte in der Altstadt von Danzig. Man gewährte uns recht viel Freiraum und ließ uns ganze Nachmittage auf eigenen Faust das Stadtzentrum erkunden. Lody (Eis) und nochmals Lody – sowie Sticker und abfotografierte Bravo-Poster vom Markt. Polska 1987! Das Fundament war gelegt. Dieses Land hatte es mir damals bereits angetan.
Ein zeitlicher Sprung. Mauerfall. Der Fall des Eisernen Vorhangs. Kompletter Umbruch in der DDR und ganz Osteuropa. Deutsche Wiedervereinigung. Die Welt stand offen. Trampen nach Belgien und Frankreich. Interrail-Touren nach Schottland und Portugal. Wandern in den Rocky Mountains. Wandern – ein gutes Stichwort. Genau dieses ließ Polen im Frühjahr 1995 wieder in den Fokus rücken. Wie wäre es mit einer zehntägigen Tour durch das Riesengebirge? Eine Wiederkehr zum Ort der 1979er Tour erschien spannend und auch in höchsten Maße emotional. Gesagt, getan. 1995 gab es noch eine Direktverbindung mit der Bahn von Berlin nach Jelenia Góra. Später wurde diese Region von Dolny Slask (Niederschlesien) von den Hauptsträngen des Schienennetzes abgeschnitten. Ich war in jenem Frühjahr positiv überrascht von der Freundlichkeit in Jelenia Góra. Zwischen all den gesehenen Reisezielen fand auch dieses Städtchen sein angemessenes Plätzchen im Gedächtnis. Damals dampften mein Wanderbegleiter und ich mit einem Bummelzug nach Karpacz, von wo aus es auf Schusters Rappen die Schneekoppe hinauf und dann weiter durch den tschechischen Teil des Nationalparks Karkonsze ging.
Fahrten in polnische Großstädte waren zu jener Zeit ein kleines Abenteuer. Auf den ersten Blick war dort Polen genauso wie viele es sich ausgemalt hatten. Händler und Verkäufer an jeder Ecke. Taxifahrer, die einen nervten. Skurrile Gestalten in bunten, billigen Kunstfaserjogginghosen, die einen mit zischenden Leuten ansprachen. „Tsss, tsss! Du Geld tauschen?“, „Zigaretti? Vodka?“, „Hey, mein Freund, du kaufen?“ Kaufen? Was auch immer. Die Eindrücke von den Polenmärkten in Berlin wurden in Warschau im Dezember 1995 noch einmal bestätigt. Nicht das Polen, das man liebhaben konnte. Jedoch vergällte es mir nicht die Zuneigung. Irgendwie wollte ich es auch nicht anders. Ich mochte diesen osteuropäischen Charme. Das leicht Marode und auch Morbide.
Der große Aufbruch war in Polen zu Beginn des neuen Jahrtausends zu spüren. Danzig und Krakau im Frühjahr 2000. Das Schmuddelantlitz verschwand nach und nach. Die Innenstädte wurden herausgeputzt und die skurrilen Gestalten mit Schnauzer im gegerbten Gesicht prägten nicht mehr so massiv das Straßenbild. In den Bahnhofsgegenden musste man trotzdem auf der Hut sein, und bei der polnischen Bahn wurde man schon mal gern über das Ohr gehauen. Sein Geschäft wollte jeder machen. Auf Nachhaltigkeit legte noch nicht jeder großen Wert. Grandios war es indes in den all den Kneipen und Bars von Danzig und Krakau. Feiern und Gastfreundschaft ohne Ende. Wer mit offenem Herzen und einem Lächeln hineinging, der durfte sich auch als deutscher Gast willkommen fühlen. Meistens zumindest.
Diverse Reisen führten auch in der Folgezeit in den entlegensten Ecken der Erdkugel. Nach Sibirien, nochmals nach Brasilien, nach Kuba und in fast sämtliche europäischen Länder. Polen hatte ich trotz all der emotionalen Touren niemals aus dem Auge gelassen. Besonders warm wurde mein Herz auf den Radtouren durch den Balkan. Die gewisse Ähnlichkeit zu Polen wurde mir auf den Fahrten 2006 und 2009 bewusst. Der besagte weiß-rote Faden in meinem Leben führte schließlich dazu, dass ich nun ein deutsch-polnisches Söhnchen habe. Und ein wirklicher Zufall ist, dass des Söhnchens Mutter aus Jelenia Góra stammt. Hm, liebes Leben, wenn ich so drüber nachdenke: Nein, das kann doch kein Zufall sein! Von den Fenstern des Hauses der Babcia (Großmutter) aus kann man direkt auf die Höhenzüge des Riesengebirges schauen. Überragt von der 1.602 Meter hohen Schneekoppe.
Nun war und bin ich nicht nur ein Reisender, sondern auch familiär vor Ort in Polen. Demzufolge vertieften sich die Einblicke in den Alltag, festigte sich die emotionale Knüpfung. Kein Wunder, dass ich nun mit dem dreijährigen Bübchen auf youtube Zeichentrickfilme von „Lolek i Bolek“ – oder besser noch von „Reksio“ – schaue. Dass diese aus den 60ern und 70ern stammenden polnischen Filmchen meist nur mit Musik untermalt sind, ist für mich allerdings nicht unbedingt von Vorteil, denn bezüglich der polnischen Sprachkenntnisse gibt es noch immer extremen Nachholbedarf. Das soll sich nun ändern. Dabei helfen werden in Zukunft das zweisprachig aufwachsende Söhnchen – und nicht zuletzt die kommenden Reisen nach Polen sowie die Berichterstattung für dieses Onlinemagazin...
Fotos: Marco Bertram
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