Nachdem Ipanema und Leblon durchquert wurden, fuhren wir an den Favelas Vidigal und Rocinha vorbei und erreichten schon bald den modernen Stadtteil Barra de Tijuca, der von Jahr zu Jahr immer größer wird und entlang der Altantikküste in Richtung Westen vorstößt. Viele wohlhabende Bewohner von Rio zogen verstärkt nach Barra, um dort in einem der neu errichteten Wohnanlagen zu wohnen. Auf der Avenida de Pepê, der Avenida Sernambetiba und der Avenida Lúcio Costa ging es immer an der Küste entlang. Rechts von der Straße sah man schon bald die Feuchtgebiete des Lagoas de Marapendi. Eigentlich stand dieses gesamte Seeareal unter Naturschutz, doch nach und nach schoben sich von allen Seiten die neuen Wohn- und Freizeitanlagen heran. Landeinwärts hinter dem Feuchtgebiet erhoben sich hohe Wohnblocks in den blauen Himmel und in der Ferne konnte man die grünen Bergzüge Morro do Morro, Morro da Boa Vista und Morro da Ilha erkennen.
Reizvolle Alternative zu Copacabana und Ipanema: Baden und Relaxen in Guaratiba
Westlich von Barra bei Grumari fuhr uns Jutta geradewegs zu einem Sandstrand, der zwar gut besucht war, doch ein grünes, einsames Hinterland hatte.
»Früher konnte man hier fast alleine baden gehen. Doch jetzt machen sich immer mehr Brasilianer mit dem Auto auf den Weg, um hier sonnen und baden zu können. Es ist jetzt schon schwierig, hier einen Parkplatz zu ergattern«, erklärte Jutta und kurbelte das Auto in eine schmale Parklücke.
In der Tat drängte sich an der schmalen Küstenstraße ein Fahrzeug hinter dem anderen. Der Strand war nicht überlaufen, doch immerhin recht gut gefüllt.
»Hey Jungs, lasst uns drei Sonnenschirme mieten und sie dann nebeneinander stellen«, schlug Thommy vor und sprach sogleich einen jungen Brasilianer an.
An einer freien Stelle schlugen wir unser Lager auf und ich zog mir im Sitzen die Badehose an.
»Hey Marco, deck dich bitte noch besser mit dem Handtuch zu!« rief Thommy.
»Wieso?« fragte ich erstaunt und legte mir das Handtuch noch enger um die Hüften.
»Ein Stück Hintern ist zu sehen! Und das ist in Brasilien absolut tabu! Das machen hier nur Gringos!«
»Aha, und wie ziehen sich bitte schön die Brasilianer um?«
»Du wirst lachen, die kommen bereits alle in Badekleidung zum Strand. Eigentlich sind die hier in Brasilien nicht wirklich verklemmt, doch bei diesem Punkt sind sie doch sehr empfindlich ...« erklärte er.
Der etwa drei Kilometer lange Strand war zu beiden Seiten eingerahmt von massiven Felsen. Der Sand war sauber und fein, aber die Brandung des Meeres war auch an diesem Abschnitt sehr gefährlich. Rote Hinweistafeln warnten vor der leicht zu unterschätzenden Gefahr. Am westlichen Ende des Strandes befanden sich ein paar Kioske unter Palmen, an denen man gepflegt ein Cerveja trinken konnte. Unangenehm war allein eine dortige Lagune mit Brackwasser, von der ein muffiger, fauliger Geruch drang.
Jens und ich liefen einmal den kompletten Strand auf und ab und vertrieben uns die Zeit. Über unseren Köpfen flog ein Marinehubschrauber den Küstenstreifen ab. Jutta, Jaciara und Thommy aalten sich im Halbschatten der Sonnenschirme – Jens und mir war es bereits nach drei Stunden genug. Wir waren nicht wirklich die Strandmenschen und die Sonne brannte gegen Mittag heftig.
Mit dem Auto ging es weiter zum auf einer Anhöhe befindlichen Restaurante Point de Grumari, von dem aus man auf die Feuchtgebiete des Parque Municioal Ecológico da Prainha schauen konnte. Die Wasserarme inmitten des satten Grüns erinnerten mich sehr an das Amazonasgebiet. Saudade kam auf und ich sehnte mich nach den Norden Brasiliens.
In der kleinen Stadt Guaratiba war der Teufel los. Am dortigen Strand drängten sich tausende junge Brasilianer und veranstalteten eine riesige Party. Laute, eindringliche Musik hallte über die kleine Bucht und von oben betrachtet glich der Strand einem Ameisenhaufen.
»Von hier aus müsste es einen Wanderweg geben, der die Küste entlang zu einem tollen Strand führt«, erklärte Jutta und zeigte in Richtung Osten.
»Müsste? Oder bist du dir sicher?« hakte Thommy nach.
»Ich war hier bereits zweimal. Ist zwar schon eine Weile her, aber ich bin mir sicher. Folgt mir einfach!«
Jutta ging voran und Thommy, Jaciara, Jens und ich folgten ihr einen kleinen Hügel hinauf. Der richtige Weg wurde auf Anhieb nicht gefunden, doch im zweiten Anlauf machten wir einen Pfad ausfindig, der dem Küstenverlauf folgte. Die felsige Küstenlinie ähnelte der Westküste von Irland oder Portugal. Grün bewachsene vorgelagerte Inseln und der tiefblaue Ozean schufen ein beeindruckendes Gesamtbild. Der Pfad war nicht leicht begehbar. Vorbei an Bananenpflanzen und dichtem Gebüsch schlängelte sich der schmale Küstenweg bergauf und bergab bis zu einer winzigen Bucht, an der sich ein kleiner Strand befand. Ich fühlte mich in den Film »The Beach« versetzt.
»Und? Cool hier, oder? Lasst uns baden gehen!« rief Jutta und zog sich sogleich die Kleider vom Leib.
»Das Wasser sieht aber recht schmutzig aus«, relativierte Jens das angebliche Paradies.
»Schmutzig? Ach, quatsch! Das sind bloß aufgewühlte Algen«, rief Jutta empört und warf sich in die Fluten.
»Algen? Sieht eher aus, als wenn hinten in Barra die Abwässer ins Meer geleitet werden«, gab selbst Thommy zu.
Sei wie es sei, Jutta war von uns fünf die Einzige, die baden ging. Ich hatte andere Sorgen. Unsere Akkus waren leer und ich wollte noch ein paar Bilder von der von Bergen umgebenen Bucht anfertigen. Ich rubbelte an den Akkus und setzte sie wieder ein. Ich kletterte auf einen Felsvorsprung, machte ein Bild und wieder leuchtete das rote Lämpchen. Eine Gruppe junger Leute hatte sich unweit am Strand bequem gemacht. Drei brasilianische Männer und Frauen packten eine Decke aus und ließen sich herumalbernd nieder.
»So, ihr beiden Gringos. Was würdet ihr machen, wenn wir euch einfach hier sitzen lassen?« fragte Thommy mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht.
»Kein Problem. Da hinten fährt doch ein Boot. Das würden wir heran rufen«, antwortete ich.
»So, so. Und ihr meint, es würde zu euch ans Ufer kommen ...«
»Klar, wenn wir in einer Hand mit paar Geldscheinen wedeln.«
»Die werden sie euch abnehmen und ohne euch weiter fahren!«
Wir flachsten noch ein Weilchen, bevor es wieder in Richtung Guaratiba zurückging. Auf der Rückfahrt wirkte das moderne Barra de Tijuca noch spektakulärer. Riesige Leuchtreklametafeln warben für die frisch errichteten Komplexe »Ressort de Monaco« und »Ressort Nova America«. Palmen säumten die modernen Anlagen und man sah, dass sich große Mühe gegeben wurde, nicht alles monoton und steril wirken zu lassen.
Abseits der Hektik und Kriminalität entstand dort das »Shopping na Barra«, das bereits im Jahr 2008 das größte Einkaufszentrum ganz Lateinamerikas war. Gut bewacht hinter hohen Zäunen und bewachten Mauern siedelten sich in Barra seit den 90er Jahren große Teile der Mittel- und Oberschicht von Rio an. Für viele Brasilianer war es ein Traum, dort ein Appartment zu bekommen, Jens und ich fanden jedoch keinen Gefallen an diesem endlosen Stadtteil weit ab vom pulsierenden Leben in Leblon, Ipanema und Copacabana.
Auf der Avenida das Américas und der Via Elevada das Bandeiras ging es bei einbrechender Dunkelheit geradewegs nach Gávea und Rocinha. Letztendlich ging es durch den langen düsteren Tunnel, der nach Lagoa und Leblon führte.
Ich erinnerte mich. Dieser Tunnel musste es gewesen sein, der Kathrin und mir vor etlichen Jahren einen gehörigen Schrecken eingejagt hatte. Damals im Sommer 1996 wollten wir von Jardim Botânico nach Ipanema fahren, doch wir hatten den falschen Bus gewählt und landeten nach langer Fahrt durch den schwach beleuchteten Tunnel am Rande der Favela Rocinha.
Am späten Abend landeten Jens und ich wieder in unserer Bar in Copacabana. Die Stimmung war an jenem Abend von Anfang an gedämpft. Es lag etwas in der Luft. Wenige Minuten später kamen zwei Straßenkinder herbei und bettelten energisch um Geld. Die Kids waren noch nicht alt, aber ihre Gesichtszüge wirkten ernst und erwachsen. Die des einen Jungen sogar heimtückisch und bedrohlich. Ein älterer Mann sprang auf, beschimpfte die beiden Straßenkids und drohte ihnen Prügel an. Seine Partnerin versuchte ihn zu beruhigen und hielt ihn zurück. Die Stimmung drohte völlig umzukippen. Die Situation konnte jeden Moment eskalieren.
Ich befürchtete allen Ernstes, dass die beiden wenig später mit ihren Kumpels aus den Favelas zurückkehren könnten. Ich dachte an den Film »Cidade de Deus«. Die Kids vor uns wirkten genauso aggressiv und skrupellos. Sehr gut konnte ich mir vorstellen, dass der Ältere in jedem Moment einen Revolver ziehen und um sich ballern könnte. Still saßen Jens und ich in einer Ecke und beobachteten skeptisch die Lage aus den Augenwinkeln. Glücklicherweise entspannte sich die Situation. Einer der Gäste spendierte den beiden Straßenjungs eine Flasche Cola und ein paar Tüten Chips. Mit der Beute zogen die beiden Kids schließlich wieder von Dannen.
Fotos: Marco Bertram
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