himmel unwetter

Als nach über 1.000 km Fußmarsch die Wolken weinten und der Sekt knallte

 
4.5 (2)

Wandern mit SektÜber 1.000 Kilometer zu Fuß von Prex nach Priwall. Kein anderes Projekt dürfte Karsten und mich – die Gründer von turus.net – mehr geprägt haben. Es gab im Laufe der vielen Jahre etliche Reisen, Fotodokumentationen und Wanderungen, die dem bisherigen Leben einen Stempel aufgedrückt haben, doch der Marsch entlang der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze im Sommer 2003 legte letztendlich mit den Grundstein für dieses Onlinemagazin. Nach der damaligen Wanderung folgten eine Wanderausstellung zum Thema Grenze und die Ausarbeitung der geplanten Route des Iron Curtain Trails (Abschnitt Ostsee bis Schwarzes Meer). Meine Güte, wie die Zeit vergeht! Über zehn Jahre her ist der Fußmarsch vom einstigen Dreiländereck bei Prex (Hof / Posseck) bis hoch zur Ostseeküste. Vorbei an all den Grenzmuseen und Gedenkstätten.

2003 – 2013. 10 Jahre - eine runde Sache. Von daher an dieser Stelle ein Rückblick auf die letzte Etappe von Selmsdorf nach Dassow bzw. zum Priwall. Diese wurde geprägt von einem heftigen Unwetter am letzten Abend und einer sektschäumenden Ankunft am Strand der Ostsee. Folgend die Tagebucheintragungen vom September 2003:

Das letzte Stück von Selmsdorf nach Dassow sollte es in sich haben. Bereits gut 40 Kilometer lagen hinter uns, und bis zum Tagesziel würden es noch einmal 8 Kilometer sein. Es war bereits halb acht, und die Sonne rötete den mit Wolken behangenen Horizont.
Zur anderen Seite hin sah es weitaus weniger romantisch aus. Eine tiefgraue Schlechtwetterfront zog über den Dassower See hinweg. Geradewegs in unsere Richtung. Diesmal schienen wir nicht ungeschoren davonzukommen. Zwar waren die heranziehenden Wolken noch ein Stück entfernt, doch es grummelte bereits bedrohlich.
Es blieb uns nichts anderes übrig, als die Bundesstraße 105 zu nehmen. Noch übler wäre jedoch die B 104 gewesen. An der Kreuzung hinter Selmsdorf sahen wir, was auf sich auf dieser so abspielte. LKWs donnerten heran und bildeten an der Ampel eine lange Schlange. Auf dem Randstreifen wäre dort kaum Platz zum Laufen gewesen. Auf der Bundesstraße 105 ging es dagegen gemächlicher zu.

UnwetterNicht nur die untergehende Sonne und die grauen heranziehenden Wolkenfronten waren der Grund für die plötzlich eintretende Finsternis, sobald wir die Bundesstraße betreten hatten. Hohe Bäume bildeten ein dichtes, undurchdringbares Blätterdach, so dass Warnschilder darauf hinwiesen, auch tagsüber mit Scheinwerferlicht zu fahren. Die Situation war gespenstisch. Hinter uns der blutrote Horizont, vor uns die dunkle Allee und zur linken Seite die finsteren Wolken.
Ein Blick auf die Uhr, ein Blick auf das Kilometerschildchen. Kilometer 1,2. Ich zog das Tempo langsam an. Sülsdorf wurde bei Kilometer 2,5 passiert. Rasch wurde es dunkler, und ebenso schnell fuhren die Fahrzeuge an uns vorüber. Der weiße Seitenlinie hatte ein Profil, so dass Autofahrer sofort hörten, wenn die Reifen diese Linie berührten. Die Bäume und die Leitplanke standen dicht zur Straße. Es blieb nicht allzu viel Platz, und das Laufen auf der holprigen Seitenlinie nervte.

Sobald die Bundesstraße direkt am Dassower See vorbeiführte, begann es zu regnen. Erst zaghaft, dann stetig heftiger. Wind kam auf. Böen fegten vom See kommend über das Feld, rauschten in den Baumkronen und zerrten an meinem Regenumhang. Die entgegen kommenden Fahrzeugen spritzten das sich auf dem Asphalt sammelnde Wasser empor. Ich drückte mich an die Leitplanke. Wieder und immer wieder. Karsten war bereits ein ganzes Stück hinter mir. Ich sah ihn nicht mehr. Ich beschloss, an Tempo zuzulegen. Mal sehen, was so ging. Nicht mehr viel an jenem Tag. Ich konnte die Kilometerschildchen auf der gegenüber liegenden Seite nicht mehr erkennen. Ich hetzte kurz hinüber. Ein Blick auf die Uhr, kurzes Durchrechnen der restlichen Zeit. Es musste schneller gehen. Der Regen peitschte, und ich musste mich immer häufiger an die Leitplanke drücken, sobald ein Scheinwerfer in der kommenden Kurve auftauchte.

GewitterIch beschloss, auf dem Feld neben der Straße weiterzugehen. Und siehe an, die dunkelbraune Erde war gar nicht so matschig und weich wie befürchtet. Längst wurde abgeerntet und neu gepflügt. Vereinzelte Stoppeln ragten aus den kleinen Furchen. Nun war ich dem Regen und dem Wind noch mehr ausgesetzt. Nicht aber mehr den Fahrzeugen, die in der Dunkelheit gar nicht mehr auswichen. Es grollte und donnerte. Ein Blitz schlug zuckend in einiger Entfernung ein. Ich fragte mich, was schlimmer sei. Vom Blitz erschlagen oder von einem Schwerlaster überrollt zu werden.

Ein Geländewagen stand plötzlich vor mir auf dem Feld. Er war erst sehr spät auszumachen. Ich schaute durch das Seitenfenster. Ein Mann und ein Mädchen hielten Ferngläser vor den Augen und starrten in Richtung See. Ich hob beim Vorbeigehen kurz die Hand zum Gruß. Ein fragender Blick folgte als Antwort. In vielleicht fünfzig Meter Entfernung stoben zwei junge Wildschweine davon. Ich musste sie sehr erschreckt haben, denn ihr Tempo war enorm. Sie waren noch recht klein, und von einem großen Keiler oder einer aufgebrachten Bache war weit und breit nichts zu sehen. Trotzdem beschloss ich, auf der Straße weiterzugehen. Doch nicht wegen weiterer möglicher Wildschweine, sondern wegen dem immer sumpfiger werdenden Feld.
Grauschwarz zeigte sich die mit kleinen kräuselnden Wellen bedeckte Wasserfläche des Dassower Sees zwischen den Bäumen der Allee. Alles hatte nun eine einzige finstere Farbe angenommen. Nur im Westen glimmte noch leicht das Rot der untergegangenen Sonne. Noch zwei Kilometer bis zum Ort. Ein Grenzturm tauchte plötzlich auf. Direkt an der Straße stand er dort mutterseelenallein und fristete sein Dasein. Bei Tageslicht hätte er vor dem Wasser bestimmt ein gutes Motiv abgegeben, doch nun war nichts zu machen. Ein rascher Blick musste genügen.

Meine Gedanken wechselten wieder zu dem dunklen Wasser des Dassower Sees. Ich erinnerte mich an die Sturmnächte auf der herbstlichen Nordsee vier Jahre zuvor. Zwar waren die kleinen Kräuselwellen wohl nichts gegen die heftigen erlebten Brecher auf der Nordsee vor der niederländischen Küste, doch die Gesamtatmosphäre um den Dassower See passte ganz gut zu dem damaligen Szenario. Das schwarze Wasser, der peitschende Wind, der Regen, die finsteren Wolken, das Grummeln. Das Rauschen der Baumkronen hätten auch die herannahenden Wellen sein können. Ich wünschte mich sehnlichst schnell nach Dassow. Die Weltuntergangsstimmung behagte mir nicht. Mir war sie nicht geheuer, und ich fürchtete die Autos, LKWs und Traktoren. Bei letzteren kletterte ich sogar über die Leitplanke hinweg, sobald ich nur das Geräusch in der Ferne vernahm. Ich wollte nichts riskieren. Nicht so wenige Kilometer vor dem Gesamtziel.
Schließlich war auch diese Etappe geschafft. Die ersten gelben Lichter von Dassow tauchten auf. Karsten traf zehn Minuten später am Ortseingang ein. Er schwärmte von seinen ersten, in freier Wildbahn gesehenen Wildschweinen, die so putzig über das Feld rannten.

An Zelten war in dieser Nacht nicht zu denken. Zwar hatte es inzwischen aufgehört zu regnen, doch unsere Schuhe waren nass, und es wurde empfindlich kalt. Wir folgten der Hauptstraße durch den Ort. Feucht glänzte das Kopfsteinpflaster im trüben Licht der Laternen. Dassow war wie ausgestorben. Kein Gasthaus war auszumachen. Nur ein griechisches Restaurant lockte mit viel Licht und einer üppigen Speisekarte, doch in dieser Montur wollten wir dort nicht auftreten. Wir beschlossen, eine Ferienwohnung oder eine Pension ausfindigzumachen.
Direkt neben einem Bäcker wurden wir auch schnell fündig. »Zimmer frei« war auf einem Schild an der Haustür zu lesen. Ich klingelte. Durch das Türfenster sah ich eine junge Frau die Treppe hinunterkommen. Ich lächelte. Sie staunte. Wir fragten nach einem freien Doppelzimmer, und sie rief ihre Mutter herbei. Der Preis belief sich auf 50 Euro ohne Frühstück, und wir ließen verlauten, dass wir später eventuell wieder kommen würden. Sie wies uns die Straße hinunter. Dort seien noch ein paar Pensionen, die wären eventuell preiswerter. Bei der ersten, an deren Haustür wir klingelten, war dem nicht so.
»60 Euro«, schranzte uns ein Mann im mittleren Alter unhöflich an.
»Und ohne Frühstück?«
»54.«
»Okay, wir kommen gleich wieder. Wir müssen nur erst einmal noch Geld abheben gehen!«
Wir ließen uns sicherheitshalber die Option offen.
Bei der ersteren Pension an der Bäckerei trafen wir nun allerdings auf geschlossene Pforten. Das Schild wurde schlichtweg umgedreht, und als wir klingelten, wurde das Licht im Obergeschoss ausgeschaltet. Man ignorierte uns. Wahrscheinlich sahen wir zu erbärmlich aus.
Das Glück war uns aber doch noch hold. Für 30 Euro erhielten wir für eine Nacht eine Ferienwohnung mit eigener Dusche und einem Fernseher, auf dem sogleich der Zwischenstand des Pokalspiels SG Dynamo Dresden gegen den Hamburger SV geprüft wurde.

DDRDer 50-Kilometer-Marsch zeigte Spuren. Nun humpelte auch ich. Ich hatte mir auf dem dunklen, holprigen Feld das rechte Knie verdreht. Der abendliche Gang zum griechischen Restaurant war eine Qual, doch ein warmes Essen lockte. Zudem wollten Karsten und ich mit einem zünftigen Bier anstoßen.
Es war vollbracht, fast zumindest. Die neun oder zehn Kilometer am kommenden Tag würden wohl nicht mehr die große Hürde sein. Zeit zum Glücklichsein hatten wir an jenem Tag jedoch nicht mehr viel. Wir waren schlichtweg zu erschöpft. Wie ein Stein fiel ich auf mein Bett und schlief sofort ein. Ich träumte sehr realitätsgetreu, dass wir erst um 14 Uhr aufwachen würden und die Presse somit umsonst auf dem Priwall warten würde. Mitten in der Nacht schreckte ich auf und wusste nicht mehr, was Traum und Wirklichkeit war.
Die Nacht war weiterhin angereichert mit lebhaften Träumen, von denen ich um acht Uhr in der Frühe genug hatte. Ich stand auf und ging Frühstück einkaufen. Es war noch kühl, und ich wurde sonderbar betrachtet, als ich mit meinen kurzen roten Hosen und den Sandalen auf dem Gehweg entlanghumpelte. Meine Haare sahen noch so zerzaust und fettig wie am Abend zuvor aus. Wegen einer möglichen Erkältung zog ich es vor, sie lieber nicht zu waschen. Somit gab ich im kleinen Dorfladen nicht gerade ein schönes Bild eines attraktiven Mannes ab.

Die zehn Kilometer bis zum Priwall zogen sich. Wie sollte es auch anders sein. Ich ignorierte die Schmerzen im rechten Knie und gab wieder das Tempo an. Das Wetter meinte es gut mit uns. Sonnenschein, und nur wenige Wolken waren am Himmel auszumachen. Dem verabredeten Bad in der Ostsee stand also nichts mehr im Wege.
Als die letzte mecklenburgische Ortschaft Pötenitz auf der rechten Seite liegengelassen und nach links abgebogen wurde, war es so gut wie geschafft. Ein Schild zeigte es an. Das erste Mal tauchte dieses so häufig in den Mund genommene Wort auf einem Straßenschild auf: PRIWALL 2 KM.
Kurz vor dem Parkplatz, der sich unmittelbar an der Landesgrenze befand, kamen wir mit einem älteren Mann ins Gespräch.
»Darf ich fragen, nach welchen Objekten sie Ausschau halten?« eröffnete er das Gespräch.
Wir fotografierten soeben Betonreste zwischen Schneidegras und Sanddorn zu Fuße der Dünen. Lebhaft schilderte er uns anschließend, wie es zu Grenzzeiten auf dem Priwall war, und zeigte uns die Stelle, wo einst der Beobachtungsturm der Grenztruppen stand. Ja, das seien früher ruhige Zeiten gewesen. Der Priwall war ja völlig abgeschieden, doch nun stehen einem all die Dünen und Wiesen zur Verfügung. Eine schöne Gegend für Spaziergänger und Radfahrer.

PriwallUm ganz genau im Grenzverlauf am Strand der Ostssee einzutreffen, liefen wir das kleine Stück bis zum Parkplatz, wo im Sanddorngebüsch ein Gedenkstein aufgestellt wurde.
»Nie wieder geteilt!« – Daneben die Wappen von Mecklenburg Vorpommern und Schleswig Holstein. Hinzu noch das Datum der Aufstellung: 3. Februar 1990.
Das war alles. Außer dem Länderschild von Mecklenburg an der Straße war nichts auszumachen. Auch am Strand war nichts zu finden, was auf den einstigen Eisernen Vorhang hinwies.
Es war egal. Wir sahen das Meer, den hellen Sand, das hohe Hotel von Travemünde. Es war geschafft. Vollbracht. Ein rotes Schild zeigte uns doch noch ganz genau, wo sich die Grenze befand:
»FKK-Strand Ende Travemünde«
Wir lehnten unsere Rucksäcke an das Schild und holten die drei Sektflaschen heraus. Ich hatte Lust, es richtig schäumen zu lassen, doch erst sollte die Reporterin der Lübecker Nachrichten kommen. Sie kam pünktlich, und sie hatte einen Praktikanten im Schlepptau. Nach unzähligen Fotos am Strand des Priwalls setzten wir uns in den Sand und tranken gemeinsam Sekt. Karsten und ich schilderten die Höhepunkte der Tour und beantworteten brav die gestellten Fragen.

SektNach einer Stunde waren wir wieder allein. Runter mit der Kleidung und hinein in das kühle Nass der Ostsee. Ich ließ eine weitere Sektflasche knallen. Der Schaum flog meterweit. Argwöhnisch schauten die anderen vereinzelten Strandgäste zu uns herüber.
Wir legten uns auf den warmen Sand, und man konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass genau an jenem Punkt die gefährlichen Grenzanlagen bis ans Wasser heran verliefen. In den Bergen und auf den Wiesen konnte man sich mit der Zeit den Verlauf der Sperrzäune und Kfz-Sperrgräben genau vorstellen. Doch hier am FKK-Strand von Priwall? Es erschien abstrakt.
Eine Frage ging mir den ganzen Tag noch durch den Kopf. Beim Liegen am Strand, beim Planschen im Wasser, beim Übersetzten der Fähre nach Travemünde und beim Fahren mit dem Zug im Abendlicht, als sich die Erschöpfung über mich senkte wie ein schweres Tuch. Es war die Frage, die uns die Journalistin am Strand beim Sekt gestellt hatte:
»Und nun, was folgt nun? Wo geht es als nächstes hin?«
...

Fotos: turus.net-Archivbilder

> zur turus-Fotostrecke: ehemalige deutsch-deutsche Grenze

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G
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4.0
Sehr schöner Artikel. Schau dir doch auch mal meinen Blog an vielleicht gefällt er dir:
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P
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