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Virtuelle Reisen in die USA: Brieffreundschaften in der DDR

 
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DDR BriefRückblick in die Zeit des Kalten Krieges: Ein Brief machte sich auf die lange Reise. Aus dem fernen Saint Paul im US-Bundesstaat Minnesota zum Örtchen Waldesruh am Rande von Ost-Berlin. Abgestempelt am 15. März 1989. Via Air Mail vom „Klassenfeind“ ins Postschließfach 656-04 in der Köpenicker Allee. Das „GDR“ doppelt unterstrichen. Der Brief kam damals ein wenig überraschend. „Dear Marco, my name is Jake and I will be your letter-friend...“ Ich wusste nicht, woher der Jake, wohnhaft westlich der Großen Seen, an meine Adresse kam. Ich hatte schlichtweg den Überblick verloren, denn bereits seit 1987 hielt ich etliche Kontakte zu verschiedenen Personen in den Vereinigten Staaten.

Marco BertramDer deutsche Raumteiler – sprich die deutsch-deutsche Grenze und die Berliner Mauer – stand noch felsenfest und an eine friedliche Revolution war im Traum noch nicht zu denken. Immer wieder überlegte ich als Kind und Jugendlicher, ob ich jemals im Leben die westliche Welt bereisen würde. Ich vermutete, eher nicht. Und wenn, dann als Rentner irgendwann im Jahr 2045. Wie tausende andere in der DDR Aufgewachsene ging ich in die Polytechnische Oberschule, hörte wöchentlich etwas über den Klassenkampf, den Antifaschistischen Schutzwall und das faulende imperialistische System – und machte mir so meine eigenen Gedanken. Scheiß auf irgendein System, dachte ich als 14-Jähriger, ich wollte einfach sämtliche Ecken dieser Erdkugel bereisen. Den Amazonas hinauffahren, die kanadischen Wälder erforschen und die Tiefen Afrikas erkunden.

USAVon der Westverwandtschaft ließ ich mir immer Reisekataloge mitbringen. Meiers Weltreisen zum Beispiel. Ich schnitt die Landschaftsbilder aus und klebte sie in meine Hefter. Für mich war die sibirische Tundra genauso interessant wie die Prärie im mittleren Westen Nordamerikas, doch die Bilder in den westlichen Prospekten waren schlichtweg glänzender und brillanter. Ich holte mir ein Stück Amerika in mein Zimmer, träumte von ausgedehnten Reisen und schmiedete bei langen Wanderungen durch die Wälder des Berliner Umlandes einige Pläne. Ich wollte Kontakte knüpfen. Und zwar zu den Menschen in den USA. Mein wöchentlicher Gang führte mich in die frei zugängliche Bibliothek der US-Botschaft in Ost-Berlin in der Neustädtischen Kirchstraße. Den blauen DDR-Ausweis gezeigt, eine Kontrolle passiert und schon befand ich mich auf US-Territorium. Genial! Bücher konnten gewälzt und kostenfrei kopiert werden. In einem hauseigenen Kino wurden aktuelle Filme in Originalsprache gezeigt.

coolIm zarten Alter von 15 schrieb ich der einen Mitarbeiterin jugendlich naive Briefe. Gefüllt mit Sehnsucht. Diplomatisch und nett antwortete sie mir auf schriftlichem Wege. Verfasst auf offiziellen Briefbögen, verschickt in verdammt wichtig wirkenden Umschlägen. Ich war stolz wie Bolle. Der Schüler aus der DDR erhielt Post von der US-Botschaft. Ja, liebe Stasi, schnüffelt nur in dieser Post. Ich bitte drum! Ich tue nichts verbotenes, seht nur her – und denkt euch euren Teil! In Adress-Verzeichnissen suchte ich Anschriften diverser US-Unternehmen raus. Unter anderen die von Western Trading Post in Denver. Zurück kamen anfangs Briefe auf ebenso offiziellem Papier, später wurden mir gratis Kataloge zugeschickt. Meine Eltern fassten sich an den Kopf, die Mitarbeiter in Denver suchten indes nach Möglichkeiten des Versands von Produkten. Der Wilde Westen kehrte ein in meinem Zimmer. In Form von Briefen und Prospekten.

USAIn einem Namensregister suchte ich im Januar 1988 Personen heraus, die ebenfalls Bertram hießen. An diese schickte ich lange, handgeschriebene Briefe. In der Hoffnung auf Antwort, in der Hoffnung, dass sie vielleicht fern verwandt seien. Eine naive und zugleich geniale Idee. Umso größer die Enttäuschung, als nach Wochen manch ein Brief zurückkehrte. „Return to sender. Unable to locate at IBM San Jose Plant“. Ein 14-Jähriger Ostberliner kontaktierte wahllos prominente Bertrams im fernen Kalifornien. „Moved, left no address“, hieß es manchmal. Das eine zeigte eine lilafarbene Hand: „Insufficient address!“ an. Der Brief ging direkt ans Post Office in Washington DC. Was ich wollte? Info-Material und Brieffreundschaften. Da ich ahnte, dass der Geheimdienst der DDR ziemlich sicher diese merkwürdigen Briefe öffnen würde, verfasste ich die Zeilen stets diplomatisch und korrekt. Das Info-Material sei für den Geographie-Unterricht an der POS, die Brieffreundschaften sollen zur Völkerverständigung beitragen. Wäre es nicht schön, wenn es eine friedliche Welt gäbe, fragte ich F. A. Bertram in Los Angeles. Er hatte diese Zeilen niemals lesen können.

JakeAndere verschickte Briefe fanden ihre Leser. Aus dem Weißen Haus kam im August 1989 eine an mich verschickte Autogrammkarte von George Bush Senior. Meine Mutter war fassungslos. Weshalb ich diesen Brief, der eine dreimonatige Reise hatte, erhielt? Im Dezember 1988 hatte ich dem Präsidenten zur Wahl gratuliert und ihn ermahnt, für eine friedvolle Welt zu sorgen. Wie es zum privaten Brief aus Saint Paul kam, konnte ich nicht rekonstruieren. Irgendeiner meiner Briefe schien in einen Brieffreundschaften-Verteiler aufgenommen zu sein. Ich staunte nicht schlecht, als ich die Zeilen las. Der 14-Jährige Jake mochte Skate boarding, Musik und Cartoons. Eines hatte er mir sogleich aufgemalt. Ein Mann am Herd, der wohl Pizza zubereitet. Neben Pizza mochte er Lasagne und Cola, manchmal trank er auch Wasser. Sein größter Fable waren Horror-Romane. „Pet Sematary“ und „The Shining“ von Stephen King. Echte Klassiker halt. Nach dem Lesen schaute er sich die entsprechenden Verfilmungen an und wertete die dramatisch wirkenden Veränderungen bei der Umsetzung aus.

Marco BertramHm, so recht konnte ich nichts mit dem Brief anfangen. Zum Antworten kam ich nicht mehr, der aufregende Herbst 1989 zog mich in den Bann und ließ meine Korrespondenz mit Personen in den fernen USA in Vergessenheit geraten. Immerhin erfüllte ich mir knapp vier Jahre später den Traum und reiste quer durch Nordamerika. Mit Greyhound von New York über Montreal, Toronto, Calgary bis nach Vancouver und Seattle. Eine Wanderung in den Rocky Mountains inklusive. So spannend die Städte auch waren, am meisten fesselte mich – wie ich einst als Jugendlicher vermutet hatte – die Natur.

Und Jake? Über 24 Jahre nach dem Abstempeln in Saint Paul fand ich neulich den Brief beim Aufräumen in einer Kiste. Meine Güte. Es war wie das berühmte Kästchen im Film „Die fabelhafte Welt der Amélie“. Ich als Dominique Bretodeau. Plötzlich schienen die zweieinhalb Jahrzehnte wie im Fluge vergangen. Auch der Jake müsste nun fast 40 sein. Ob er noch lebt, ob es ihm gut geht? Ob er sich an seinen abgeschickten Brief erinnern würde? Die neuen Technologien machen es möglich. Bei google maps gebe ich die Adresse ein. Fifield Place in Saint Paul. Street view macht´s möglich – plötzlich laufe ich virtuell die entsprechende Straße entlang. Eine hübsche Gegend im Peace Garden am Rande von Saint Paul, die mit Minneapolis die „Twin City“ bildet. Ich drehe die Ansichten, kann jedes Haus, jede Hausnummer erkennen. Bingo, da ist es! Ein weißes Reihenhaus. Viel Grün drum herum. Nordamerikanische Idylle wie im Film.

FüßeOb die Familie dort noch wohnt? Zumindest die Eltern? „Who lives on Fifield Place, Saint Paul, MN?“ Die Seite Spokeo gibt Auskunft. Sämtliche Bewohner der entsprechenden Hausnummer sind aufgelistet. Nur die Anfangsbuchstaben, doch es ist ein Paar dabei. Der Anfangsbuchstabe des Nachnamens stimmt. „Male and Female, 60´s“. Das könnte passen! Der Plan steht. Ich werde den Eltern schreiben, Jakes Brief wird kopiert und mit hineingelegt. In der Hoffnung, dass nicht irgendein Unglück diese Familie heimgesucht hatte. Falls es Jake gut geht, ist alles in Butter. Die virtuelle Reise ins ferne Minnisota könnte nach fast 25 Jahren Pause weitergeführt werden! Hey Jake, ich mag zwar keine Cola und auch nicht unbedingt Lasagne, doch Stephen King Bücher hatte ich in den 80ern auch gern gelesen. Und eine Antwort bin ich dir noch schuldig! Hear you!

Fotos: turus.net-Archivbilder

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