Punkt Mitternacht gingen am Heiligabend in der Kirche im polnischen Cieplice die Lichter aus, nur noch die Weihnachtsdekoration am Hauptaltar und an den Seitenaltären erhellte ein wenig das komplett gefüllte Kirchenschiff. Langsam wurde das alte hölzerne Kreuz nach vorn getragen. Weihrauch verbreitete sich zwischen den Reihen. Mehr Weihnachtsatmosphäre ging nicht. Weihnachten in Polen – das bedeutet Familie, Beisammensein, Ruhe und Gelassenheit. Prinzipiell sollte das auf sämtliche Länder zutreffen, in denen das Weihnachtsfest gefeiert wird, doch ist der Unterschied zwischen Deutschland und unserem östlichen Nachbarland frappierend. Nach 2010 ist es mein zweites Weihnachtsfest, das ich in der polnischen Hälfte meiner Familie feiere, und dieses Mal ging mir im wahrsten des Sinne erst richtig ein Licht auf. Es kann ein Fest geben auch ohne Konsumrausch und Geschenkestress.
Weihnachten in Polen: Weniger Geschenkerausch, mehr Ruhe und Gemütlichkeit
Den einzigen Stress, den es wohl in Polen in Bezug auf das Weihnachtsfest gibt, ist der in den Tagen zuvor in der Küche. Was dort drei, vier Tage lange gebacken, gekocht und gewerkelt wird, ist wirklich erstaunlich. Karpfen werden geschlachtet, gekocht und in Gelee eingelegt. Tellerweise. Kleine Teigtaschen werden geformt, dazu wird die traditionelle Rote-Beete-Suppe gekocht. Fleischrollen, etliche Kuchen, gekochte Eier in Mayonnaise , Salate und saurer Hering.
Während in der Küche Betriebstemperatur herrschte, machte ich mit dem Söhnchen ausgedehnte Spaziergänge. Zeit genug, um zu schauen, was in den Straßen von Cieplice, zur Stadt Jelenia Góra (Niederschlesien) gehörig, vor sich geht. Hektik? Stress? Davon keine Spur. Manch einer schmückte seine Gärten und die Balkone mit Lichterketten. Andere nicht. In den Geschäften wurde ganz normal eingekauft wie an den anderen Tagen des Jahres auch. Keine Hamsterkäufe, bei denen man meinen könnte, der 3. Weltkrieg oder die nächste Eiszeit stünde vor der Tür. Okay, am Vormittag des 24. Dezember waren im Geschäft mit dem Frosch als Logo die Schlangen einen Tick länger. Mehr jedoch nicht. In den Gesichtern der Käufer und des Personals keine Spur von Weihnachtsstress. Alles im Lot.
Ich wollte noch fix ein paar Kleinigkeiten kaufen. Zur Dekoration des abendlichen Essenstischs. Ein paar Schokokugeln, Schokoweihnachtsmänner und solch ein Kram halt. Man glaubt es kaum, aber es war in den kleinen Lebensmittelschäften von Cieplice richtig schwierig. Während man in Deutschland überhäuft wird mit all dem bunten Süßkram, fand sich hier nur an den Kassen eine Mini-Ecke mit einer winzigen Auswahl. Etwas für die Kinder – und gut ist. Generell gilt nämlich in Polen: Erwachsene schenken sich untereinander nichts. Nur den Jüngsten wird etwas unter den Baum gelegt. Was soll ich sagen? Das ist herrlich! Kein Einkaufsstress. Keine sinnlosen Geschenke. Kaum Verpackungsmüll.
Am Heiligabend gibt es für die Polen ein einziges Geschenk – und das ist rein zwischenmenschlich. Das familiäre Zusammensein hat in Polen einen extrem hohen Stellewert. Verwandte reisen nach Möglichkeit aus den fernsten Winkeln an, um bei den Liebsten sein. Natürlich kann auch dies eine Form von Anstrengung und Stress erzeugen. Nicht immer wird es den optimalen Mittelweg geben. Bei welcher Familienhälfte feiert man denn nun? Was ist machbar und was nicht? Aber um es noch einmal auf den Punkt zu bringen: Konsum-Auswüchse gibt es in Polen generell nicht. Dementsprechend ist auch das Fernsehen und die Werbung nicht so aggressiv. Bezüglich des Einkaufsverhaltens ändert sich vor den Feiertagen ja nicht allzu viel. Künstlich erzeugte Erwartungshaltungen kann man sich also in der Reklame und in den Nachrichten sparen.
Nachdem es in den drei, vier Tagen vor Weihnachten den besagten Küchenstress gab, wird es am Mittag des 24. Dezember schlagartig ruhig. Die Speisekammer – ja hier gibt es sogar solch eine – ist gefüllt, sämtliches Essen für die kommenden drei Tage ist fertig. Das ist praktisch. Hier steht in der Regel niemand mehr am 25. oder 26. Dezember in der Küche und kocht großartig. Bigos wird erwärmt, Tee wird gekocht – das war´s dann meist. Die meisten Speisen sind eh kalt. Am Heiligabend gibt es kein Fleisch und keinen harten Alkohol. Nachdem am späten Nachmittag der erste Stern gesichtet wurde, wird gegessen. Zuvor werden am Tisch Oblaten geteilt und sich gegenseitig die besten Weihnachtswünsche mitgeteilt. Ein Augenblick, bei dem bei den meisten die Augen feucht werden. Ein höchst emotionaler Moment. Ganz sicher wird dabei auch an diejenigen gedacht, die nicht mehr mit am Tisch sitzen können. Nach dem Oblaten-Teilen kehrt die Fröhlichkeit ein. Es wird gegessen. In unserem Fall hielt es das vierjährige Söhnchen kaum auf dem Stuhl. Ist Mikolaj bereits in der Nähe? Klopft es gar am Fenster? Das dürfte natürlich in jedem Land dieser Erde ähnlich sein. Strahlende Gesichter bei den Kindern. Geschenke aufreißen. Das Spielzeug aufbauen.
Nach dem üppigen Abendessen ist es gar nicht so einfach, bis 23 Uhr wach zu bleiben, um dann in Ruhe zur Kirche zu spazieren. Die Mitternachtsmesse lohnt in Polen auf jeden Fall. Für Gläubige ist sie sowieso Pflicht, doch auch für Nicht-Gläubige kann dieser Besuch überaus beeindruckend sein. Die Atmosphäre, die Gesänge, die Lichter. Und am ersten Weihnachtsfeiertag? Die Speisen werden morgens auf den Tisch gestellt. Nun darf auch Fleisch gegessen werden. Frühstück verknüpft sich mit Mittag. Gleitend dazu gibt es all die Kuchen. Und Schnäpse diverser Auswahl. Diese sind in der Tat wichtig. Genauso wie das Schläfchen am Nachmittag. Dann noch ein Spaziergang und wieder trifft man sich am Wohnzimmertisch. Im Fernsehen laufen Reksio und Lolek & Bolek für den Kleinsten in der Runde. Ergänzt wird das Ganze mit dem einen oder anderen Klassiker für die Erwachsenen aus den 80ern. Polnische Filme, bei dem nochmals manch ein Auge feucht wird. Weihnachten 2014 ist zudem hier in Niederschlesien maßgeschneidert. Gab es die Tage zuvor noch frühlingshaftes Wetter, überrascht heute der erste Schnee. Stiefel an und nichts wie raus …
Allen Lesern von turus.net noch einen schönen zweiten Weihnachtsfeiertag! :-)
Fotos: Marco Bertram
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Pozdriawiam :)