Es ist wieder soweit. Der Herbst steht vor der Tür. Die Rauschzeit bei den Wildschweinen steht an. Ebenso die Brunftzeit beim Rotwild. Während beim Menschen nach Frühlings- und Sommerzeit inklusive manch einem angenehmen Stranderlebnis der Hormonhaushalt wieder ein wenig runtergefahren wird, geht bei Hirsch und Keiler zeitgleich mit der bunten Färbung der Laubbäume die Post ab. So kann das Zelten in diesem Zeitraum in freier Wildbahn manch eine interessante Überraschung bereithalten. Baut man sein Zelt inmitten eines Reviers von Schwarz- und Rotwild auf, kann die Sache nachts richtig ungemütlich werden. Hat der Bock auf gut Deutsch gesagt dicke Eier, so kann er einem Zelt in seinem Revier schon mal gefährlich nahe kommen, da er dieses als Störenfried in seinem Terrain ansieht. So geschehen vor einigen Jahren während einer über 1.000 Kilometer langen Wanderung entlang der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze. Mit Rucksack und Zelt von Süd nach Nord. Die Natur könnte teilweise kaum einsamer sein als am „Grünen Band“, das sich von Prex bei Hof nach Priwall an der Ostsee durch Deutschland zieht. Nach einem Jahrhundertsommer brach gerade der goldene Herbst an, als hinter der Ortschaft Everingen auf Wald und Flur Karsten und ich unser Nachtlager aufschlugen - und die ungehaltenen Platzhirsche nicht lange auf sich warten ließen…
Rauschzeit auf dem einstigen Todesstreifen: Wenn der brunftige Bock aufs Zelt losgeht
Bereits beim Aufbau unseres Nachtlagers beäugte uns ein Rehbock neugierig und ganz ohne Scheu aus dem hohen Gras heraus. Der stämmige Bock machte keinerlei Anstalten sich zu trollen. Ein paar hundert Meter weideten dutzende Rinder, und ein Bulle gab ein tiefes, urig klingendes Brüllen von sich. Uns kamen diese Laute sehr wohl bekannt vor. Während einer Wanderung durch den Südwesten Irlands im verregneten Sommer 1997 brach ein Bulle an einem frühen Morgen direkt neben unserem Zelt aus der eigentlich solide umzäunten Weide aus. Es geschah in der Nähe der Bantry Bay. Mangels Alternativen bauten wir unser kleines Kuppelzelt zwischen einem Feldweg und der besagten Weide auf. Bereits während des Aufbaus machte sich der Bulle an den Pfosten und Drähten zu schaffen und scharrte schnaubend in der Erde. Richtig mobil wurde er in der Nacht, und am Morgen gelang ihm der Ausbruch an einer anderen Zaunstelle.
Doch in der Nacht im ehemaligen Grenzgebiet nördlich von Everingen sollten nicht die Bullen und Kühe auf der nahen Weide für Aufmerksamkeit sorgen. Für Aufregung sorgte reichlich anderes Getier, das nach Einbruch der Dunkelheit spektakuläre Geräusche von sich gab.
Nach Eintritt der Dämmerung verkrochen Karsten und ich uns ins Zelt, aßen die letzten mitgebrachten Stullen und Birnen, und plauderten über das Wetter und die wohl interessantesten Ort, die uns die kommenden Kilometer erwarten würden.
Gerade hatten wir uns zur Ruhe gelegt, als aus dem fernen Wald befremdliches Gejaule und aus der anderen Richtung zufriedenes Wildschweingrunzen ertönte. Wir waren froh, nun wieder das größere, doppelwandige Zelt bei uns zu haben und konnten trotz der jaulenden und grunzenden Geräusche einschlafen.
Geweckt wurden wir gegen ein Uhr in der Nacht durch lautes Getrappel und wütendes, heiseres Gebell direkt neben unserem Zelt.
»He, Karsten, was ist das?«
»Keine Ahnung, klingt heftig.«
»Ja, hört sich wirklich übel an, gehst du mal draußen nachschauen?«
»Kannst du vergessen ...«
»Wieso? Wenigstens einmal rausschauen.«
»Ne, lass mal. Ist eh schwarze Nacht.«
»Und wenn das Tier dort draußen gleich das Zelt einreißt?«
»Wird es schon nicht.«
»Wir könnten es erschrecken. Mit der Taschenlampe vielleicht.«
»Psst, lass uns lieber weiterschlafen, ich höre am besten gar nicht mehr hin.«
»Wenn du meinst ...«
Das für uns undefinierbare Tier trampelte auf der Stelle und unternahm anschließend Scheinangriffe auf unsere kleine Behausung. Das Tier musste sich von unserer Anwesenheit sehr gestört fühlen, immer aufgebrachter rannte es auf unser Zelt zu, stoppte, trappelte wieder zurück und stürmte anschließend wieder erneut auf uns zu. In der Dunkelheit war es schwer, genau zu deuten, aus welcher Richtung die Geräusche kamen. Das heisere Gebell hallte über die Wiese, und ein kräftiges Echo kam vom Waldrand wieder zeitversetzt zurück.
Ich vermutete einen kapitalen Rehbock oder einen Hirsch als nächtlichen Störenfried. Hund und Fuchs schloss ich aus, denn das Tier dort draußen musste ein recht großes Lungenvolumen gehabt haben, so laut wie es bellte. Nach einiger Zeit entfernte sich das Tier wieder in Richtung Waldgebiet, aus dem die ganze Nacht über die bellenden Geräusche ertönen sollten. Diese einsame Wiese am ehemaligen Grenzstreifen musste ein Tierparadies sein. Sprichwörtlich sagten sich dort nicht nur Fuchs und Hase gute Nacht. Der September nahte, und ich vermutete, dass die Brunftzeit vor der Tür stehen würde. Schwarz- und Rotwild machten mobil, und allein das merkwürdige Verhalten des Rehbocks beim Aufbau unseres Zeltes musste einem ja spanisch vorkommen.
Die ganze Nacht über vermischten sich die übel klingenden Geräusche mit den kurzen Traumsequenzen. Im Halbschlaf zerfetzte das wütende Tier bereits in Gedanken die Zeltplane und nahm uns auf die Hörner. In Irland scherzten wir auch den ganzen Abend über, und am frühen Morgen ist es dann tatsächlich passiert. Der Bulle hatte es geschafft, aus der umzäunten Weidefläche auszubrechen. Auch damals träumte ich die ganze Nacht über von schweren, aufgebrachten Tieren, die mir in den Bauch und den Unterleib traten. Als morgens in der Nähe der Bantry Bay die stampfenden Geräusche auf unser Zelt zukamen, war es kein Traum mehr. Die Augen aufreißend, zog ich den Reißverschluss des Zelts auf und starrte ungläubig und erschrocken auf den kräftigen, schwarz-weißen Bullen, der dicht an uns vorbeistob und die nächste Straße als Ziel hatte. Der Paarungstrieb ließ den Bullen auf eine andere Koppel durchbrechen und dort sogleich eine Kuh besteigen. Herbei kommende Bauern hatten mit Stricken und Mistgabeln alle Mühe, den Bullen davon abzuhalten, die Kuh zu begatten.
Welchem Trieb das uns angreifende Tier folgte, blieb ungeklärt. Das Erlebnis in Irland im Hinterkopf war mir während der Nacht nördlich von Marienborn alles andere als wohl. Immer wieder presste ich meine Kopf auf die Isomatte und in den Schlafsack und versuchte, die nächtlichen Geräusche zu ignorieren. Es klappte nicht, ich befürchtete, das Unglaubliche würde auch hier wahr werden. Hier auf einer einsamen, völlig abseits gelegenen Wiese irgendwo am Grenzstreifen zwischen Marienborn und Everingen.
Erst als der Morgen graute, verstummten vollends die Tiere. Es war empfindlich kühl, der Jahrhundertsommer war vorüber, und wir sehnten uns beim Anblick des grauen Hochnebels die wärmende Sonne herbei. Die mitgenommenen Fleecejacken konnten wir nun gut gebrauchen. Beim Herauskriechen war ich gespannt, ob es auf der Wiese irgendwelche Spuren zu sehen gebe. Nichts, es sah so aus, als wäre in der Nacht nichts geschehen. Kein aufgewühltes Gras, keine Kratzspuren und keine gezogene oder gerissene Schnur des Zelts.
Routiniert zog ich die Heringe der Reihe nach heraus, zog die äußere Plane des Zelts ab, steckte die Glasfaserstangen auseinander und rollte die Isomatte und den Schlafsack zusammen. Erst, als alle wichtigen Dinge verschnürt und verpackt waren, wurde das Innenzelt zusammengelegt und im Rucksack verstaut. Zuvor noch ein paar Bilder mit der Kamera vom Ort der schrecklichen, unvergesslichen Nacht. Anschließend rasch die Zähne geputzt. Immer wieder das gleiche Procedere. Ein Schlückchen Wasser aus der Plastikflasche auf die Borsten, dann fleißig geputzt, mit Wasser den Mund ausgespült und wegen des Wassermangels mit dem Mundinhalt die Bürste von der Paste befreit. Einen letzten klaren Schluck Wasser gönnte ich mir für eine kleine Endreinigung der Bürste. Kostbare saubere Tropfen für den Bürstenkopf.
Nun noch rasch die vom taunassen Gras feucht gewordenen Füße abgetrocknet, auf einem Bein humpelnd den rechten Fuß mit Talkum gepudert, die Wandersocke drübergezogen. Geschafft. Das gleiche Spiel beim linken Fuß. Ein Blick in den Minispiegel, kurz gekämmt, soweit es die verstrubbelten Haare zuließen, etwas Creme aufs Gesicht, den Rucksack geschultert, die Fotokamera vorn an der Brust am Riemen befestigt und die entsprechende Karte in die Plastikhülle gelegt und in die Seitentasche der Hose gesteckt. Fertig.
Fotos: Marco Bertram, K. Hoeft
> zur turus-Fotostrecke: deutsch-deutsche Grenze
> zu den turus-Fotostrecken: Reise-Impressionen aus aller Welt