Genüsslich wurde der 5-Mark-Schein zusammengerollt. Etwas Tabak hinein, Streichholz ran, und schon glimmte die Spitze des lilafarbenen Papiers. Als Gruppe saßen wir am Ufer des Hölzernen Sees und schmauchten das DDR-Geld einfach mal so weg. Als Abschlussfahrt ging es mit unserem Klassenlehrer auf einen Campingplatz, um die Schulzeit ausklingen zu lassen. Wie der Zufall es wollte, endeten für uns gleich zwei Dinge auf einmal. Die Zeit an der Polytechnischen Oberschule endete nach zehn Jahren im Juni 1990, zudem platzte der Mauerfall mitten rein in die 10. Klasse. Das letzte Schuljahr wurde zum Chaos-Jahr. Die DDR löste sich nach und nach auf, und just in dem Moment, als wir die Tage auf dem Campingplatz am Hölzernen See verbrachten, wurde die Wirtschafts- und Währungsunion vollzogen. Über Nacht wurde plötzlich auch im Osten mit der D-Mark bezahlt. Zwar war das DDR-Geld nicht wertlos in dem Sinne, man konnte es ja schließlich jederzeit noch eintauschen gehen, doch im Übermut und erfreut über die neue Freiheit zündeten wir den 5-Mark-Schein kurzerhand an und ließen die Fluppe einmal rumgehen. Die Schule war zu Ende, und wir alle wurden ins kalte Wasser geworfen. Was hatte noch Bestand, was nicht? Am 03. September 1990 sollte meine Ausbildung als Energieelektroniker beginnen. Auf das neue Umfeld war ich gespannt, in Zuge dessen machte sich aber auch ein Grummeln in der Magengegend breit. Ich ahnte Schlimmes. Konnte ich mir ausmalen, wie es in dieser konfusen Zeit an der Berufsschule in der praktischen Ausbildung „abgehen“ könnte. Jedoch soll dies nicht das Thema sein. Vielmehr soll die erste große Reise gen West beschrieben werden. Mit den Eltern ging es zwar schon einmal im Frühjahr 1990 zu den Verwandten nach Hannover, und fast täglich passierte man den einstigen Eisernen Vorhang in Berlin, doch Mitte Juli 1990 führte die Reise weiter nach NRW und in die Niederlande. Wie fühlte es sich eigentlich an, als knapp 17-Jähriger, der seine Kindheit und Jugend in Ost-Berlin verbracht und beim Studieren der Atlanten immer von der weiten Welt geträumt hatte, nun einfach mal so nach Dortmund, Unna, Frömern und Amsterdam zu düsen?
Der Brief vom Sommer 1990: Die erste große West-Reise aus Sicht eines 17-Jährigen
Da ich all die folgenden Jahre permanent weltweit auf Achse war, ist die Speicherplatte unter der Schädeldecke schon recht gefüllt und manches wurde in etwas verstecktere Ecken verpackt. Zudem überlagerte meine abenteuerliche Reise im Sommer 1991, bei der es per Anhalter quer durch Deutschland, Frankreich und Belgien ging, die Gruppenreise im Jahr zuvor. Doch wie der Zufall will, fiel mir ein Brief in die Hände, den ich Ende August 1990 an meine Großeltern geschrieben hatte. Fünf A4-Seiten. Handgeschrieben auf Linienpapier. Es war ein komisches Gefühl, nach sage und schreibe 27 Jahren diesen Brief zu lesen. Es fühlte sich an wie in dem Film Amelie, als das kleine Kästchen mit den Schätzen aus der Kindheit plötzlich aufgetaucht war. Mit einmal sind sie alle wieder da - die Erinnerungen, die bis dato komplett verstaubt waren.
Mit der Jungen Gemeinde aus Berlin-Mahlsdorf ging es im Sommer 1990 zur Partnergemeinde nach Frömern. In den Jahren zuvor hatte man sich in Ungarn am Plattensee getroffen. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs bot sich plötzlich eine andere Möglichkeit, und es wurde umgeplant. Eine Woche Frömern und eine Woche Niederlande. Die Partnergemeinde nahm alles in die Hand und plante die zwei Wochen perfekt durch. In Frömern und Fröndenberg untergebracht wurden wir Ost-Berliner Jugendlichen bei Gastfamilien. Zur Begrüßung ging es erst einmal in den Partykeller und ein Kasten Warsteiner wurde auf den Tisch gestellt. Dann mal los. Ich nuckelte noch an der ersten Flasche, als ringsherum in einem Zug der kalte Gerstensaft weggezischt wurde. Heute würde ich da locker mithalten, damals dachte ich, mein Magen würde platzen. In Ost-Berliner Jugendklubs hatte ich bis dato eher mit Apriko-Cola vorlieb genommen.
Unser Besuch im Westen war Gesprächsstoff in der Region um Unna, und so gab es gleich einen Zeitungsartikel im Hellweger Anzeiger. „Nach fast 40 Jahren Patenschaft erster Besuch in Frömern“. Das Aufmacherfoto zeigte uns bei der Ankunft auf dem kleinen Bahnhof in Frömern. Begrüßt wurden wir vom Bürgermeister von Fröndenberg und vom Bürgermeister von Unna. Volles Programm. Laut Zeitung stand sogar ein Besuch bei der Fröndenberger Sparkasse an. Warum, weiß ich nicht. Wie es mir gefallen hat, ist in der Folge aus meinem damaligen Brief an meine Großeltern zu entnehmen. Und somit bringe ich einige Abschnitte 1:1 mit ins Spiel:
„Ja, die Berufsschule hatte ich mir schon einmal angesehen. Einen sehr positiven Eindruck machte sie aber nicht. Ich kann mich aber auch irren. Am 3. September fängt dann die Lehre an, um halb acht am Haupteingang. … Ganz toll war es in Westdeutschland und in den Niederlanden. … Jeden Abend wurde gefeiert oder auch mal in die Disco oder ins Kneipchen gegangen. Wir aus Mahlsdorf haben uns super mit den Jugendlichen aus Frömern verstanden. Ich habe dort einen guten Freund gefunden, er heißt Robin H. Bei ihm und seinen Eltern schlief ich auch. Tja, und zum Schluss sind wir noch sechs Tage ins Königreich Niederlande gefahren. Unser Jugendreferent aus Frömern bestellte uns einen Reisebus. Gewohnt haben wir dort in einer Jugendherberge in Heeg, Friesland. Von dort aus sind wir zur Nordsee, zu einem riesigen Freizeitpark und nach Amsterdam gefahren. Amsterdam ist wirklich gut! Am Tage ist sie eine sehr lebhafte alte Einkaufsstadt (im Zentrum). Aber abends wird es dort lustig!! Irre. Was man dort so alles sieht! Ganz schlimm soll es ja dort mit der Kriminalität und mit den Drogen sein. X-mal wurde uns Haschisch und Marihuana angeboten. In den Nebengassen, da war ich mit einem Freund natürlich auch, sind ganz üble Typen. Einige sahen so aus, als wollten sie einem gleich was antun. In manchen Hinterhöfen waren ‚Cafés‘. Da waren eine Menge Dealer. Dort gab es Rauschgift auf Bestellung. Es gab richtige ‚Speisekarten‘. Dort lässt sich sehr selten ein Polizist sehen. Ansonsten sah man sehr viele Polizeistreifen mit Blaulicht die Straßen entlang rasen. Dort in Amsterdam ist wirklich schwer was los!“
Und weiter schilderte ich: „Ja, in der Nordsee waren wir auch baden. Ein Tag war es heiß und sehr sonnig. Tja, und der Freizeitpark - phantastisch! Also dieses Land gefällt mir sehr. Nur die Landschaft ist ein wenig eintönig. Wiesen mit Rindern, Kanäle und ab und zu ein paar sehr große Gemüsefelder. Wälder gibt es dort praktisch überhaupt nicht, nur künstlich angelegte Baumstreifen zum Schutz vor dem Wind. Und diese Bäume sind fast nur Erlen und Pappeln. Außerdem haben wir im eigentlichen Holland (es ist nur ein Teil der Niederlande) noch einige Städte besucht. Diese Fahrt mit der Jungen Gemeinde war echt gut. Die Leute dort in Frömern sind sowieso irgendwie freundlicher und netter. …“
Zum Abschluss der Fahrt mit der Jungen Gemeinde gab es noch einen zweiten Zeitungsartikel, der mit folgenden Worten getitelt wurde: „Das schlechteste Urteil lautet ‚gut‘“. So hieß es damals in dem Zeitungsbericht: „Mit der westlichen Welt haben die Jugendlichen schon lange keine Probleme mehr. Weder die Amsterdamer Drogenszene, noch das dortige Rotlichtviertel konnten die Jugendlichen sonderlich schocken. ‚Das kennen wir doch aus Berlin‘, war die lapidare Antwort der 17-jährigen Michaela.“
Ein Jahr später bekam ich das Angebot, meine Ausbildung bei einem großen Chemiekonzern im Rheinland fortzusetzen. Aufgrund der im Sommer 1990 gemachten positiven Erfahrungen, sagte ich sofort zu und packte Ende August 1991 die Koffer und zog für drei Jahre nach Leverkusen. Jene Zeit legte wiederum den Grundstein für dieses Magazin. Doch ist dies eine andere Geschichte…
Fotos: Marco Bertram
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