Übler geht nicht: Wenn in der brasilianischen Provinz der Reisebus entführt wird

 
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Wenn abends in gemütlicher Runde beim Bier die Erlebnisse der vergangenen 30 Jahre Revue passieren gelassen werden, stellt sich schnell die Frage: Was war eigentlich der wirklich heikelste Moment? In welcher Situation war es richtig eng, kam Todesangst auf? Und ja, gefährliche Situationen gab es immer wieder. Vor allem im Zeitraum der 1990er ist die Liste an recht ungemütlichen Vorkommnissen nicht unerheblich lang. Ein Sturz beim Klettern auf einem Hochstand im märkischen Forst als Jugendlicher, ein mehrfacher seitlicher Überschlag in einem Auto mit 80 Sachen, ein weiterer Autounfall mit Totalschaden an zwei Fahrzeugen sowie ein Schiffbruch auf der Nordsee bei Windstärke neun bis elf und meterhohen Wellen. Kurioserweise kam bei dem besagten Schiffbruch, bei dem unser Segelboot auf finsterer See durchkenterte und ich über Bord ging, keine Angst auf. Man funktionierte nur noch. Es wirkte alles unwirklich. Wie in einem Film. Dermaßen absurd, dass ich 18 Jahre später denken könnte, dies sei nur ein Traum gewesen. Und der Überschlag im alten Honda? Übel! Vor allem im Nachhinein. Dunkle Landstraßen sind noch immer ein Graus. Generell mag ich das Sitzen in Autos nicht allzu sehr. Doch mit Abstand am Schlimmsten war ein Erlebnis im Sommer 1996. Und nein, auch 21 Jahre später ist der Schrecken nicht verschwunden. Nichts ist im Geiste verblasst. Würde jemand in einem öffentlich Raum plötzlich mit der Tür knallen und etwas rufen, würde ich - vom normalen Erschrecken mal abgesehen - innerlich sofort die Situation im Reisebus von Goiânia nach Belém vor Augen haben. Der Überfall auf den Linienbus, der letztendlich eine kurzzeitige Entführung wurde, steckt ganz, ganz tief in den Knochen. Nie zuvor und nie danach hatte ich dermaßen schreckliche, lähmende Angst verspürt wie in diesem Bus, als die zwei Typen mit Strumpfmasken und Revolvern in den Händen den Fahrer dazu zwangen, in einen einsamen Sandweg abzubiegen. Mitten hinein in den finsteren Urwald. Völlig aus der Kalten. Kein „gewöhnlicher“ Taschendiebstahl in einer Touristengegend oder ein Raubüberfall in einer Favela - nein, in diesem Fall erfolgte der Überfall während einer Nachtfahrt mit dem Linienbus von Goiânia nach Belém kurz hinter Imperatriz im Norden Brasiliens. Anfangs als Fahrgäste getarnt, kaperten zwei bewaffnete Männer den Bus, zwangen den Busfahrer von der Hauptstraße abzubiegen, anschließend wurde jeder Fahrgast einzeln ausgeraubt. Folgend ein Kapitel aus dem Buchmanuskript "Saudade do Brasil", in dem die ausgedehnten Brasilien-Reisen von 1996 und 2008 beschrieben werden:

Brasil… Nach einigen Metern stoppte der Bus. Zuerst vermutete ich eine Panne, doch konnte ich mir nicht vorstellen, dass dies der Grund war, die Hauptstraße zu verlassen. Oder ging es ab nun über eine schlammige Sandpiste weiter? Hatte ich nicht gelesen, dass die Strecke Goiânia – Brasilia – Belém komplett asphaltiert ist?

Im Augenwinkel vernahm ich eine schlagartige Bewegung. Etwas metallenes blitzte auf. Der auf der anderen Seite sitzende Mann war mit schnellen Bewegungen aufgesprungen, hatte einen Revolver gezogen und ließ ihn nun in alle Richtungen kreisen. Dabei schrie er einige Sätze auf Portugiesisch, seine Augen dabei wild aufreißend.

Mein erster Gedanke war, dass er völlig ausrastete und wütend über die Unterbrechung der Fahrt war. Möglicherweise laufe er im Kopf nicht ganz rund. Er machte ja schon zuvor einen seltsamen Eindruck. Der Mann schien mir völlig durchgeknallt. Diese Annahme verflog sehr bald, denn der Mann hämmerte mit seiner Faust gegen die Fahrerkabine. Die Tür flog auf, und ein zweiter Typ mit übergezogener Strumpfmaske kam hinzu. Auch er hielt eine Waffe in der Hand.

BrasilEines wurde klar: Die Lage war sehr ernst. Dies war ein Überfall. Unser Bus wurde entführt! Fassungslos starrte ich die beiden Männer an. Das kann doch nur ein böser Alptraum sein! Die Angelegenheit schien seit Anfang an, seit dem Verlassen des Busbahnhofs von Imperatriz, eine abgekaterte Sache zu sein.

Draußen war absolute Dunkelheit. Mitten im Urwald stand unser Reisebus auf einem Sandweg. Der Motor war mittlerweile aus, und die Notbeleuchtung glimmte vor sich hin. Wie viel Pech kann man eigentlich auf einer Reise haben, fragte ich mich. Wie kriminell ist dieses Land eigentlich?!

Brasil

War Rio nicht schon genug? Hatte man unsere Naivität nicht schon bestraft? Gingen nicht bereits Geld und Wertgegenstände am Strand der Copacabana verloren?

Der Mann mit der Strumpfmaske trat nach hinten durch, und sein Komplize mit dem Revolver blickte zu mir, redete auf mich ein und zeigte auf den Innengang. Ich verstand kein einziges Wort, und mein Herz raste. Sollte ich mich auf den Gang knien? War ich, weil ich zufällig in der ersten Reihe saß, das erste Opfer? Sollte ich mich nun hinhocken oder hinlegen?

Hält er mir gleich die Knarre an den Kopf, um der Ernsthaftigkeit des Überfalls Nachdruck zu verleihen? Bei solchen Entführungen müssen doch westliche Touristen als erstes dran glauben, oder nicht? Nackte Angst lähmte mich. Ich hörte bereits den todbringenden Knall des Revolvers und sah mein Blut auf den Gang spritzen.

»Ele não fala português! Ele não entienda ti!«

Kathrins eindringliche Worte kamen im rechten Moment. Nachdem Kathrin dem Entführer verständlich machen konnte, dass ich seine Worte nicht verstehe, wurde er ungeduldig. Er meinte, ich solle nun endlich mein Geld auf den Gang legen. Nun verstand auch ich halbwegs das Gesagte. Nicht ich sollte mich auf den Mittelgang legen, sondern mein Geld sollte sich schnellstmöglich dort befinden. Nervös griff ich in meine Hosentaschen. Mir wurde noch heißer, als mir eh schon war. Ich drehte mich zu Kathrin und flüsterte:

»Hast du noch Geld? Ich habe nur noch Kleingeld!!«

»Nein, ich glaube nicht. Ich gab dir doch vorhin alles. Du weißt doch, wir wollten erst in Belém wieder Reiseschecks umtauschen.«

»Was soll ich denn jetzt machen?«

»Lege das Kleingeld einfach schnell auf den Gang, es ist ja dunkel hier im Bus.«

Ich nahm einen Realschein und eine Handvoll Münzen und legte sie auf den Boden des Reisebusses. Leise klimperte das Geld. Ich schrak bei diesem Geräusch zusammen. Was passiert, wenn er diese dürftigen Almosen bemerkt? Er wird sich auf den Arm genommen fühlen und ausrasten.

brasilDiese Gedanken bereiteten mir große Sorgen, waren wir doch als Ausländer und Touristen ohne weiteres erkennbar. Ich erwartete bereits die nächsten drohenden Worte, doch der Mann ging mit seiner Waffe weiter und befahl den Insassen des Busses, die Augen zu schließen und den Kopf zu senken.

Im Bus herrschte bedrückende Stille, nur das tiefe, angsterfüllte Atmen und leise Wimmern der Leute war zu vernehmen. Mit fest zugedrückten Augen presste ich mich in den Sitz. Meine Hände krallten sich in das Polster.

»Es wird schon gut ausgehen. Sie wollen sicherlich nur das Geld, und dann verschwinden sie...«, flüsterte Kathrin und ergriff meine Hand. Es war ein beruhigendes Gefühl, ihre Hand zu spüren. Ich war überaus froh, dass sie neben mir saß, und drückte ihre Hand fest. Mit dem Zeigefinger streichelte ich über ihre Haut. Ich atmete tief ein und betete, dass die Sache ein rasches und gutes Ende finden würde.

rio de Janeiro

Ging nicht auch der abendliche Überfall in Rio de Janeiro glimpflich über die Bühne? Uns wurde einiges an Geld und Reiseschecks abgenommen. Armbanduhren und meine Fotokamera gingen ebenfalls verloren, doch hatten wir nicht Glück, dass Kathrin und ich nicht verletzt wurden? So schnell, wie die Männer an der Copacabana kamen, so schnell waren sie auch wieder in der Dunkelheit verschwunden. Konnte es nicht auch im Bus so schnell über die Bühne gehen?

Das Geräusch der klimpernden Münzen unterbrach von Zeit zu Zeit die Stille. Hinter uns jammerte leise ein jüngeres Ehepaar. Direkt neben mir hörte ich schweres Atmen. Vorsichtig blinzelte ich mit einem Auge und sah den Mann mit der Strumpfmaske. Sein Gesicht war hässlich verzogen. Die Waffe hielt er schussbereit in der Hand. Bedrohlich und kalt ragte der Lauf mit der schwarzen Mündung in den Raum.

Ich erwartete, dass er uns ein zweites Mal ansprechen und mehr Geld verlangen würde. Ich kniff meine Augen wieder zu und spürte, wie sich Schweiß auf meiner Stirn sammelte. An den Schläfen perlten die ersten Tropfen ab. Ich hörte das Wimmern der Mitreisenden hinter mir. Ein verkrampftes Schluchzen bereitete mir Gänsehaut. Meine größte Furcht war, dass wir als Geiseln genommen oder Kathrin und ich getrennt würden.

Während ich das Horrorszenario im Kopf weiter ausspielte, drehte sich der Maskierte um und ging nach draußen, von wo das Rumpeln der Gepäckfachklappen zu hören war. Der andere Mann lief auf und ab, und eine jüngere Frau sammelte das Geld mit einem Hut vom Fußboden auf.

Die Gesamtsituation war nicht mehr durchschaubar. Welche Rolle spielte die Frau? War sie Komplizin oder wurde sie dazu gezwungen, das Geld einzusammeln? Offen blieb auch, ob sich draußen weitere Tatbeteiligte befanden. Der Busfahrer fiel als möglicher Komplize aus. Er saß auf einem Sitz, schüttelte seinen gesenkten Kopf und hielt seine Arme vor dem Bauch verschränkt.

Brasil

Einige Minuten später verschwanden die Entführer mit den eingesammelten Wertgegenständen. Der Überfall schien überstanden, die Busentführung hatte ihr Ende gefunden. Wenige Minuten später traf die schwer bewaffnete Militärpolizei ein, begleitet von einem Kamerateam des regionalen Fernsehsenders...

Fotos: Marco Bertram, Illustration von Nastasja Keller

> zur turus-Fotostrecke: Impressionen aus Brasilien

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G
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Ich möchte da nicht drin sitzen müssen. :-8
G
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J
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