Die Dämmerung trat ein in den Straßenschluchten Manhattans. Ich tigerte auf den Bürgersteigen entlang und vertrieb mir die Zeit, bis ich Jan wieder treffen würde und wir gemeinsam die kommende Nacht um die Ohren schlagen würden. Es war die letzte Nacht einer vierwöchigen Reise quer durch Kanada und die USA im Sommer 1993. Das Restgeld reichte nicht, um noch einmal ein Zimmer im YMCA in der 63. Straße zu nehmen. Am letzten Tag in New York hatten wir uns getrennt, weil wir uns unterschiedliche Dinge anschauen wollten. Die maroden Straßenzüge in der Bronx zogen mich an wie ein Magnet. Bereits zu Beginn unserer Reise, die in NY begann und endete, zogen wir zu zweit durch die Viertel in Brooklyn, Queens und der Bronx. In Harlem erhoben sich hinter uns die farbigen Kids von den Treppenstufen, gingen auf die Straße und klatschten in die Hände. Ob aus Jux oder oder im Ernst - das war nicht ganz klar. Wir waren damals 20 und ich liebte dieses Spiel mit dem Feuer. Mit hellblond gefärbten Haaren und Lederjacke war ich in den fürchterlich abgeranzten Gegenden von Big Apple ein echter Blickfang. Am letzten Tag unserer Reise spazierte ich noch einmal durch die Bronx und verlief mich fast in einer Sackgasse. Der Hintern ging auf Grundeis, als mir ein Polizist entgegen stürmte und hektisch in sein Funkgerät brüllte. Verfolgte er jemanden? Nein, eine ganze Meute aufgebrachter Jugendlicher mit erhobenen Armen hatte Verfolgung aufgenommen und hetzte den Uniformierten durch die Nebenstraßen. Was zur Hölle! In der Ferne ertönten die Polizeisirenen. Verstärkung nahte. Zum Glück hatten die Jugendlichen in jenem Moment keine Notiz von mir genommen. Allein der wegrennende Polizist war das Ziel der wilden Hatz.
Es war einmal in New York: Wenn aus einem Bündel Dollarnoten plötzlich Zeitungspapier wird
Die Abendstunden verbrachte ich dann lieber doch in Manhattan, auch wenn es dort in den meisten Gegenden wahrlich „gloomy“ wurde. New York der frühen 1990er war irre spannend, aber auch extrem kriminell und richtig runtergekommen. Von einigen Wolkenkratzern aus Glas und Stahl mal abgesehen. Davon ganz abgesehen, kamen auch in der Gegend der Wallstreet im Süden von Manhattan die fürchterlichsten Gestalten zum Vorschein, sobald die Türen der Banken geschlossen und die Bürgersteige hochgeklappt wurden.
Irgendwo auf Höhe der 40. Straße schaute ich gerade in ein Schaufenster, als mich ein Typ ansprach. Ob ich ihm helfen könne beim Telefonieren?! Beim was? Da ich mich von jedem anquatschen ließ, ging ich auf das Gespräch ein und folgte ihm zu einer Telefonzelle. Und nun? Letztendlich ging es nicht um ein Telefonat. Erster Schritt: Er wollte mich einfach von der Hauptstraße weghaben. In der ruhigen Nebenstraße ließ es sich besser plaudern. Bedenken hatte ich keine. Ich hatte ja keine Wertgegenstände dabei. Die Kamera befand sich samt Rucksack in einem Schließfach am Busbahnhof. Und Geld? Hatte ich wie gesagt kaum noch. Der Kerl kam langsam zum Thema. Er sei in Zeitnot, aber es müsse etwas unbedingt hier eine Straße übergeben werden. Ob ich da nicht helfen könne. Helfen? Bei was denn? Eine Tüte müsste übergeben werden. Keine Drogen. Nur Geld! Geld? Ja, eine Tüte wurde geöffnet und zum Vorschein kamen mehrere Bündel mit Dollarnoten.
Oha! Das sah nach einer fetten Summe aus. Und wie solle das Ganze bitte schön ablaufen? Ich müsse mich in ein Café setzen, was trinken und einfach warten. Er würde den Abholer anrufen und mein Aussehen beschreiben. Bei Abholung der Tüte würde ich meinen Anteil bekommen. Und das versprochene Sümmchen klang vielversprechend. Das wäre ein Ding. Die Reisekosten mit einem Schlag wieder drin haben. Ich blieb zwar etwas skeptisch, hatte aber die Dollarzeichen bereits vor meinen Augen. Und wenn die Bullen kommen? Es ist doch nur Geld. Und die Scheine sind mit Sicherheit nicht registriert. Keine Kohle von einem Banküberfall. Alles sauber, alles save. Na dann!
Das Gespräch zog und zog sich, so dass ich dann dachte: In der Zeit hätte er die Knete doch bereits locker selbst übergeben können. Nun kam der kleine Haken: Er müsse jetzt aber wirklich los. Zum Flughafen. Für die Taxifahrt brauche er noch etwas Geld. Würde ich dann ja mehr als zehnfach bei der Übergabe zurückbekommen. Puuh, na in der Börse ist Kahlschlag. Er glaubte mir nicht, ich zeigte ihm das türkisfarbene Portemonnaie mit dem Klettverschluss. Ein Blick ins Innere - und schwupps waren wie letzten 25 Dollar - die letzte Notreserve - rausgezogen. Passt schon. Er klopfte mir auf die Schulter und rief schleunigst ein Taxi heran, stieg ein und war drauf und dran ohne große Worte davonzudüsen. Warte! Welches Café noch mal? Mit der mir in der Hand gedrückten Tüte stand ich plötzlich allein auf dem Bürgersteig. Yes, over there! This one! Und weg war er. Irgendwas könne hier nicht stimmen. Aber ich hatte ja die fette Kohle in der Hand. Fasste sich gut an. Oben war ein Knoten drin, aber allein das Gewicht ließ mich frohlocken.
Ich schlenderte ein wenig benommen rüber zu dem Café und setzte mich ans offene Fenster. Black Coffee, bezahlt vom letzten Klimpergeld, und einfach warten. Ich war gespannt, wie der „Abholer“ aussehen würde. Ich hoffte, dass er mich nicht bescheißen würde. Mein Anteil war Pflicht. Ich hatte ja nun nicht mal mehr das Geld für die morgige Taxifahrt zum Flughafen. Wie würde ich das Jan erklären? Das Herz pochte, das Blut wummerte in den Halsschlagadern. Schweiß benetzte die Stirn. Vielleicht soll ich mich einfach verdrücken? Einfach abdampfen mit der fetten Kohle?! Hm, und wenn in jenem Moment der „Abholer“ käme? Der würde doch nicht lange fackeln und mich platt machen! Die Zeit verrann, und der versprochene Mann kam nicht.
Ich überlegte lange hin und her und knotete dann die Tüte auf. Mal schauen, um wie viel Kohle es sich eigentlich handelt. Wie würde ich so viel Geld außer Landes bringen können? Wie Jan erklären, dass ich plötzlich „ein Problem“ habe und 50.000 Dollar - oder sogar weitaus mehr? - irgendwie verstecken muss. Ich öffnete die Tüte - und - fiel ins Essen! Was ist das denn? Alter! Hitze stieg auf. Verdammte scheiße! Ich bin verarscht worden! Statt Geldbündel befanden sich aus Zeitungspapier zugeschnittene Scheine in der Tüte. Ich sprang auf und warf die Tüte wütend in einen Mülleimer. Ich Vollidiot! Ich verstand die Welt nicht mehr. Scheiß auf 25 Dollar Schaden, aber wie würden wir zum Flughafen kommen? Und nicht mal für einen läppichen Burger hatte ich noch Geld. Verrückt. All der Aufwand für 25 Dollar? 30 Minuten labern, Stories erzählen, Papier zuschneiden, die Bündel austauschen, und dann noch mit dem Taxi wegfahren. Auch wenn er nächste Ecke wieder ausstieg. Fünf Dollar von den 25 waren gewissen weg.
Mit Bauchschmerzen lief ich zum vereinbarten Treffpunkt und erklärte Jan, dass ich meine Geldbörse verloren habe. Und der Reisepass? Alles noch da! Dann ist ja gut. „Sind wir mal froh, dass ich mir eine kleine Notreserve beiseite gelegt habe. Für den Fall der Fälle, der nun eintritt. Ist nicht viel, reicht aber für Essen und Trinken und das Taxi morgen früh!“, erklärte Jan.
Wir kauften zwei Bier und spazierten zum Time Square. Dort im Licht der Reklame wollten wir die Nacht verbringen. Wenn es einen sicheren hellen Ort in New York gibt - dann der Time Square! Dachten wird. Doch Pustekuchen! Gegen ein Uhr nachts wurde die riesige Leuchtreklame ausgeschaltet, und der übelste Pöbel kam aus den Löchern gekrochen. Irgendein Typ sang uns ein Lied vor, wollte Geld haben und uns dafür einen blasen. Er ließ nicht locker, und wir mussten fast handgreiflich werden. Wenig später segelten die Flaschen quer über die Straße. Betrunkene drehten völlig an der Uhr, und es wurde allerhöchste Zeit Abschied zu nehmen von dieser Location.
Ab zum Central Park! Die letzte Lösung! Die Nacht war trocken und sehr mild. Auf einer leicht abschüssigen Wiese legten wir uns zwischen die Obdachlosen, die unter Decken und Zeitungen schliefen. Hier würde einem wohl kaum etwas passieren. So abgekämpft wie wir aussahen, müsste jedem klar gewesen sein, dass nix zu holen war. Gepäck hatten wir ja nicht dabei, und somit machten wir uns einfach so lang. Beine ausstrecken, der Blick gen Nachthimmel. Verrückter ging es nicht. Wirklich nicht. Ich hatte auf meinen Reisen mitunter an den schrägsten Orten gepennt, doch die Nacht im Central Park war rekordverdächtig. Dank der Strapazen fielen wir sogar in den süßen Schlaf und mussten - wie die anderen im Park - am frühen Morgen geweckt werden. „Get up! It´s time! Get up please!“ Der Wachdienst streifte durch den Park und verscheuchte die Liegenden. Wenig später würden dann die ersten Jogger den Park für sich einnehmen. Allgemeines Augenreiben und Einpacken. Nun gut, zu packen war bei uns nicht allzu viel. Mit vor Müdigkeit brennenden Augen verließen wir den Central Park und holten uns im nächsten Kiosk einen black coffee. Good morning big apple!
Fotos: Marco Bertram, Jan. M.
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