Sibirien im Sommer 2001. Der Plan: Mit der Transsibirischen Eisenbahn von Fernost nach Irkutsk zu fahren. Eine Woche blieben wir in Vladivostok, der einst verschlossenen Stadt mit ihren auf Hügeln stehenden Funkmasten, Kriegsschiffen im Hafen und vorgelagerten, zum Teil noch immer für Besucher gesperrten Inseln. Die Gostiniza, in der wir die Nächte verbrachten, war ein Hotel im alten, sowjetischen Stil. Auch beim Anblick einiger anderer Dinge in Vladivostok fühlte man sich in die damalige Sowjetzeit versetzt. Ein Zahlendreher auf unseren im prachtvollen Bahnhof gebuchten Tickets für die Fahrt nach Irkutsk ließ uns sogar drei Tage länger in Vladivostok bleiben als gewollt. Jan und ich saßen bereits mit Gepäck in der mit Marmor und Granit ausgelegten Wartehalle, tranken noch einen Tee und machten ein paar Abschiedsbilder, als uns beim Blick auf die Anzeigetafel auffiel, das etwas nicht stimmen konnte. Unser Zug um 16 Uhr war nicht auf der Anzeigetafel angeschlagen. Nur der um einen Tag versetzt fahrende Rossia wurde angezeigt.
Sibirisches Tagebuch: Tschai, viel Pivo, einsame Landschaften und der Agent im Nachbarabteil
Ein Vergleich von Uhr, Kalender und Fahrkarten brachte die Wahrheit ans Licht. Beim Kauf der Tickets wurden Datum und Wochentag vertauscht. Schuld waren wir, denn wir prüften nicht genau genug die Angaben nach dem Erwerb am Schalter.
»Tja, was soll ich sagen, unser Zug fuhr gestern«, teilte mir Jan mit und schüttelte mit seinem Kopf.
»Und nun? Was machen wir jetzt?« fragte ich.
»Keine Ahnung, wir versuchen, sie am Schalter umzutauschen. Vielleicht kommen wir ja noch heute mit dem in zwei Stunden fahrenden Rossia mit...«
»Na, hoffen wir es, ansonsten hängen wir hier in Vladivostok fest. Es ging halt beim Kauf schon zu einfach. Ich hoffe nur, das nicht wieder die gleiche Frau am Schalter sitzt, das wäre in dem Fall höchst peinlich.«
Zwar saß dieses Mal eine andere Frau hinter der dicken Glasscheibe, doch an einen Umtausch war nicht zu denken. Weshalb wir denn gestern nicht fuhren, wurden wir mehrmals gefragt. Ich versuchte das Missgeschick zu erklären, doch die Frau im mittleren Alter schüttelte nur verständnislos ihren Kopf. Sie trug uns aus dem Computer aus und schickte uns zu einem anderen Schalter, wo wir neue Fahrkarten kaufen mussten. Dies war gar nicht so einfach. Der in wenigen Stunden fahrende Rossia hatte zwar noch Restplätze, doch diese waren horrend teuer. Die Züge für die kommenden zwei Tage waren ausgebucht. Es blieb uns nichts anderes übrig, als drei Tage später zu fahren und mit unserem Gepäck nochmals die Gostiniza aufzusuchen, wo die Frauen hinter dem Empfangstresen und auf den Etagen uns erstaunt in Empfang nahmen.
Nach drei Tagen, die wir mit Abstechern mit der Elektricka nach Artem und Sedanka nutzten, fanden wir uns am 17. Juni 2001 auf dem Ferngleis wieder. Nicht der für viele nach Moskau fahrende Touristen übliche rot, weiß und blau lackierte Rossia wurde bereitgestellt, sondern der Zug 317, der ebenfalls als Ziel die russische Hauptstadt hat, aber eher selten von ausländischen Reisenden genutzt wird. Auf dem asphaltierten Bahnsteig warteten fast nur Russen mit ihrem Gepäck vor den dunkelgrünen Waggons auf das Handzeichen der Prowodniks, dass man den Zug betreten durfte.
Beim Betreten des reservierten Abteils musste ich schmunzeln, denn wie bereits auf unserer ersten Fahrt von Moskau nach Irkutsk waren eine Mutter mit ihrer im Schulalter befindlichen Tochter unsere Mitreisenden. Dieses Mal kam hinzu, dass ein kleines Baby die fünfte Person im Bunde war.
Auf dieser Fahrt kamen wir sogar noch schneller ins Gespräch als auf der Fahrt von Moskau nach Irkutsk. Ich liebte diese Fahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn, und ich nahm mir vor, jeden Kilometer auszukosten. Viele interessante Motive wollte ich während der drei kommenden Tage mit der Fotokamera festhalten. Auf den Bahnhöfen schlenderte ich die Bahnsteige entlang, eilte zur Lok, fotografierte die Leute und nahm jede Möglichkeit wahr, mit den Einheimischen ins Gespräch zu kommen. Das trübe Küstenwetter von Vladivostok wich bereits nach wenigen Kilometern einem prachtvollen, kontinental geprägten Klima, das Hitze und Sonne mit sich brachte. Gegen 18 Uhr des ersten Tages lag ich auf meiner unteren Liege und schrieb ein paar Zeilen in mein Tagebuch:
"Stehende Hitze im Abteil. Die ständige Ruckelei macht träge. Es schaukelt wie auf einem Boot bei gemächlichem Wellengang. Nicht doll, aber kontinuierlich. Weiter, immer weiter rollt der Zug über die Schwellen hinweg. Im Westen liegt China. Dort hinter der Bergkette liegt das Reich der Mitte. Im Abteil steht die Luft, auf dem Gang geht es noch einigermaßen, doch die heiße einströmende Luft bringt kaum Kühlung mit sich. Haben Kefir getrunken, und süßliches Starkbier, das den Kopf brummen lässt, und Tee, Tee, Tee… Habe bereits 140 Dias verknippst. Von jedem Bahnhof ein Bild. Dazwischen die endlosen, teils trostlosen Landschaften, das Schaukeln und die stehende Hitze im Abteil. Das Baby mir gegenüber scheint dies nicht sehr zu stören, es schläft selig und saugt an seinem Nuckel..."
Zwischen den Gesprächen mit den Leuten in unserem Waggon, dem waghalsigen Fotografieren aus dem Fenster heraus und dem Schreiben von Notizen in ein kleines Heftchen schlief ich oder las im von zu Hause mitgebrachten »Transsibirien Express« von Konsalik. Etwas später:
"Kilometer 8975. Schmakowka. Dort gibt es Mineralwasser. Kinder kommen mit Wasserflaschen. 2 Rubel die Flasche. Es soll berühmt und gut sein, erklärt man mir. Für einen Moment herrscht Leben im Zug. Für Abwechslung auf der langen Fahrt nach Irkutsk sorgen die längeren Stopps. Nach Moskauer Zeit: Ruschno 12:09, 30 Minuten. Guderowo 13:46, 22 Minuten. Es kommt wieder zu einem Gespräch im Abteil. Über die Geheimdienste von Deutschland und Russland. Bundesnachrichtendienst und der CFB..."
Weiter ging es in Richtung Chabarowsk, das wir mitten in der Nacht um 2:33 Uhr Ortszeit erreichten. Die Prowodníca wischte die Haltestangen auf dem Gang ab und zog mit aller Kraft den langen roten Teppich gerade. Hinter der Stadt rollte der Zug über den in der Dunkelheit eingetauchten Amur. Die 2600 Meter lange Metallbrücke gab ihre typischen, geheimnisvollen Geräusche von sich, und in der Ferne leuchteten die Lichter von Chabarowsk.
"Die Nacht war erholsam. Ein herrlicher Morgen ist es. Soeben gab es einen Lokwechsel, denn die kommenden Kilometer sind nicht elektrifiziert. Eine alte, verrußte Diesellok wurde vor die grünen Waggons gehängt. Beim Blick aus dem geöffneten Fenster muss man höllisch aufpassen, kein heißes Rußstückchen in die Augen zu bekommen… Der Zug rollt soeben auf einer Anhöhe. Unten im Tal liegt Obluce, eine alte Bergarbeitersiedlung in einer der kältesten Gegenden Sibiriens entlang der Strecke der Transsib. Es folgen zwei Tunnel, die einst in das harte Gestein des Permafrostes gesprengt und gehauen wurden. Tatjana fordert uns in unserem Abteil rigoros auf, Käse und Brot zu essen. 14 Uhr. Hitze, Hitze, Hitze. Kurz vor Belogorsk. Gleich wird es wieder viele neue Fotos geben. Die Landschaft ist weit und platt. Endlos. 1400 Kilometer liegen hinter uns, 2700 vor uns. Gleich wird es eine halbstündige Pause geben. Welch eine Erfrischung und Erholung an der frischen Luft… Alle zwei Stunden läuft eine dicke, gutmütige Frau mit ihrem Wägelchen an unserem Abteil vorbei. Piwo, piwo! Bier mit Zucker? Getrocknete Krabben? Fertignudeln? Wir trinken zwei Baltica mit Tatjana und unterhalten uns auf russisch. Das übt… Kilometerschild 7698 um 17:15. Bei Kilometer 7700 mache ich ein Foto. Das Buch von Konsalik habe ich fast durch. Es war sehr spannend, aber ich denke, er war selbst nie in Russland und mit der Transsib unterwegs gewesen. Das Baby Anuschka schläft selig. Hitze..."
Am Abend gab es gegen 20 Uhr ein heftiges Gewitter. Blitze zuckten, und es herrschte eine geheimnisvolle Spannung. Der Zug hielt auf offener Strecke mitten in der Taiga, und die Leute standen an den Fenstern und verfolgten das Naturschauspiel. Nieselregen setzte ein und benetzte beim Fotografieren die Linse der Kamera. Ich versuchte einen Blitz abzulichten, doch es gelang mir nicht, und ich zog das Fenster wieder nach oben. Die Prowodníca beobachtete mich eh bereits mit ernstem Blick vom anderen Ende des Ganges aus.
Das Buch von Konsalik hatte ich mittlerweile ausgelesen. Nun las Jan es mit der gleichen Intensität und Geschwindigkeit wie ich zuvor. Die Geschichte nahm in Vladivostok ein trauriges Ende, und beim Blick auf die verregnete Taiga ließ ich das Gelesene in meinem Kopf Revue passieren.
Am Morgen darauf machten wir in aller Frühe im Städtchen Mogotcha halt. Beim kurzen Streifzug um das Bahnhofsgelände fotografierte ich einen Obdachlosen, der an einem schiefen Telegrafenmast lag. Ein kugelförmiger Bus entfernte sich auf einer nahen Straße und zog eine Staubwolke hinter sich her. Ein paar triste Wohnblocks reihten sich aneinander. Dazwischen ein paar verkümmerte Bäume und Strommasten. Das war’s. Trostloser könnte ein Fleck auf unserer Erde im fahlen Morgenlicht nicht aussehen. Die Vorstellung, dort leben zu müssen, eventuell in dieser tristen Stadt geboren zu sein, machte mir wieder bewusst, wie glücklich man sich schätzen kann, daheim in gesicherten Verhältnissen zu leben.
Mogotcha liegt im »Goldenen Tal«. Der Name bezieht sich auf die einstigen Goldfunde, und die Gegend, in der dieser Ort liegt, zählt zu den klimatisch härtesten unserer Erde. Nicht selten rutscht dort das Quecksilber im Winter unter die minus 50 Gradmarke. Inzwischen lief im Zug alles ruhiger und gemächlicher ab. Auch ich hatte meine innere Ruhe gefunden. All der Alltagsstress aus Deutschland schien wie fortgeblasen. Alles war so angenehm ruhig und still. Keinerlei Hektik.
"Es ist früher Abend, und wir erreichen Schilka. Hier gibt es Sivanda, das göttliche Getränk. Wieder ein berühmtes Mineralwasser. Ich schnappe mir kurzerhand die Kamera und eile wie immer auf den Bahnsteig. Unsere Prowodníca schüttelt nur den Kopf und lacht. Bei den kurzen Dreiminutenstopps zwischendurch kennt sie allerdings kein Erbarmen und lässt die Tür geschlossen. Gegen 22 Uhr erreichen wir Tschita. Ich versuche eine Aufnahme im Abendlicht zu machen, doch es ist bereits zu dunkel. Die Kamera streikt. Schade, ist doch diese Stadt für Sibirien berühmt.
Ich schreibe wieder im Abteil auf dem Bett, und es schaukelt wie auf einem Segelboot. Vorhin hatte ich mit Tatjana Kaffee getrunken, und nun wird es mir mulmig in der Magengegend. Also wieder heißt es: auf den Weg machen zum Wasserboiler und heißes Wasser für einen Pfefferminztee holen.
Die Schrift in meinem Russischwörterbuch ist extrem klein. Beim Heraussuchen bestimmter Vokabeln wird mir leicht schwindlig vor Augen. Ich fühle mich an meine Sturmfahrt mit dem Segelboot auf der Nordsee erinnert, die ich vor anderthalb Jahren erlebte.
Mein Appetit ist auch fort. Macht nichts, es gibt eh kaum Obst und so gut wie kein Joghurt und andere Milchprodukte, auf die ich mich freuen könnte. Immer nur Pelmenies, Blinies und Kartoschkas, die typisch russischen Teigwaren. Aber das selbst gemachte Vanilleeis, das an den Bahnhöfen lose aus Pappkartons heraus verkauft wird ist lecker. Es schmeckt wie das aus DDR-Zeiten. Schlicht, einfach und nicht zu süß."
Bei der redseligen Frau mit dem Wägelchen bestellte ich für den Abend 4 eiskalte Baltica. Sie lachte herzhaft, fasste sich an ihre großen Ohrringe und versprach, die gekühlten Flaschen zum Abendbrot mitzubringen. Das brühwarme Zuckerbier, das sie ansonsten unten im Wagen zu liegen hatte, wollten Tatjana, Jan und ich beim besten Willen nicht mehr trinken. Wie versprochen, kam die Frau mit dem Wagen am frühen Abend zu unserem Abteil, hob ein Tuch und brachte nicht ohne Stolz vier gekühlte Flaschen Baltica zum Vorschein. Sogar die blaue Marke, die am erfrischendsten schmeckt. Wassertropfen perlten von den kalten Flaschen ab und versprachen einen angenehmen Abend. Trotz des Gewitters am Tag zuvor war es wieder drückend heiß und so waren die aus dem Speisewagen mitgebrachten Baltica ein Segen.
Am nächsten Tag lief unser Zug am frühen Nachmittag im Bahnhof von Tschernischewsk Sabaikalskie ein. Die Gegend um diese Kleinstadt war die ärmste, die ich während meiner Fahrten mit der Transsibirischen Eisenbahn sah. Genauso karg und traurig wie die Holzhütten sahen die kahlen, mit Geröll überhäuften Berge aus, die sich ringsherum entlangzogen. Dies war die Gegend, in die viele Kriegs- und Strafgefangene verbannt wurden und in Lagern arbeiten mussten.
Auf dem Bahnhof bettelten kleine, barfüßige Jungen inmitten des Markttreiben auf den Bahnsteigen. Ich gab einem von ihnen 10 Rubel und beobachtete Jan, wie er für unsere Abteilbelegschaft Eis kaufte. Im Hintergrund rief unsere Prowodníca in ihrer graublauen Uniform an der Waggontür kernig zur Pflicht. Es war Zeit, und Augenblicke später verließ unser Zug wieder das Treiben auf dem Bahnhof von Tschernischewsk Sabaikalskie.
"Heute ist der 20. Juni. Wir befinden uns eine Stunde hinter Ulan-Ude und knapp sechs Stunden vor Irkutsk. Es gibt wieder Trockenkeks, Tee, Brühe und Fladenbrot. Tatjana ist überrascht, dass ich mir meine Haare wusch. Ich entnahm vom Samowar am Waggonende zwei Becher heißes Wasser und jonglierte sie den Gang entlang zur Toilette. Auf den Toiletten der Transsib gibt es nur kaltes Wasser, und so holt man sich zum waschen oder Zähne putzen am besten ein Becher warmes Wasser vom Heißwasseraufbereiter, den auch ich anfangs fälschlich Samowar nannte. Der Kreis hat sich geschlossen. Bei Ulan-Ude war es soweit. Nicht ohne Trauer bemerkte ich die Tatsache, dass nun nichts neues mehr kommen würde. Hinter Ulan-Ude biegt die Strecke der Transmongolischen Eisenbahn in Richtung Ulaanbaatar und Beijing ab. Vorbei ist nun die Einsamkeit und die Ferne Ostsibiriens. Schade, ich hätte gern mehr Zeit gehabt. Mehr Zeit für Gespräche und zum Nachdenken..."
Ich musste an den Moment in der Nacht zuvor denken, als der Zug an einem gottverlassenen Bahnhof eine Pause einlegte. Wir hielten direkt neben einer Elektricka. Einsamkeit, Wälder, Wiesen, über uns die immer wieder auftauchenden Sternschnuppen. Ein älterer Mann stolperte über die Gleise. Gut ins Gespräch kam ich mit den Kindern in unserem Waggon. Zwei Jungen konnten etwas Englisch und überhäuften mich mit Fragen. Zum Fußball, zur Familie, zum Beruf, und ob ich schon einmal in den Krieg ziehen musste.
Da war noch der kräftig gebaute, siebenjährige Junge, der aussah wie mindestens zehn, kurze blonde Haare hatte und ständig von mir grinsend TicTac-Bonbons forderte. Nachdem ich ihm eine Schachtel gegeben hatte, stopfte er sie unter das T-Shirt oder in die Hose. Seinem Vater war ich von Anfang an nicht geheuer, und somit achtete der Junge stets darauf, dass sein Vater uns nicht zusammen sah. Ein weiterer Mann mit grau lemierten Haaren stand den ganzen Tag auf dem Gang am Fenster und lachte mich freundlich an, als ich mal wieder Wasser vom Samowar holte. Ah, tschai, tschai, tschai…
Im Nachbarabteil stieg ein Uniformierter hinzu, setzte sich aufrecht in die Ecke, legte seinen Aktenkoffer auf seinen Schoß, so als säße er in einer S-Bahn und nicht in einem Fernzug, der tausende Kilometer fuhr. Niemand im Waggon wollte mit ihm ins Gespräch kommen, und man spürte regelrecht die Abneigung diesem Uniformierten gegenüber. Bei einem letzten kalten Baltica-Bier sprachen wir mit Tatjana in unserem Abteil noch einmal über Gott und die Welt. Irkutsk näherte sich, wir hatten uns die vier Tage über bestens verstanden und wollten noch einiges an Wissen austauschen.
Tatjana war Ärztin für Augenmedizin in Vladivostok und war nun mit ihren beiden Töchtern auf dem Weg in die Ukraine nach Dneprpetrowsk. Dort wohnten ein paar Verwandte von ihr, die sie regelmäßig in den Ferien besuchte. Wie sie uns bedauernd mitteilte, konnte sie früher zu Sowjetzeiten das Flugzeug nehmen. Nun jedoch fehlte das Geld, und sie musste von den drei Wochen Urlaub zwei in dem Zug sitzen. Ärzte verdienen jämmerlich in Russland, man könne das Diplom auch auf den Müll werfen und putzen gehen, schimpfte sie und schaute auf die vorbeiziehenden Landschaften.
Gorbatschow tat viel für das Ausland und wenig fürs Inland. Jelzin dagegen war schlecht, einfach nur schlecht, und bei Putin müsse man erst einmal abwarten. Mit diesen Worten zeigte sie uns einen Pass der UdSSR, den sie aus ihrer Tasche herbeizauberte. Aha, ein Dokument aus alten Zeiten, dachten Jan und ich. Aber nein, ausgestellt im Jahr 1999! Wie uns mehrmals erklärte wurde, sei dies ihr Zweitpass. Für die Reisen in die ehemaligen Sowjetrepubliken sei dieser noch immer von Vorteil. Ich verstand die Welt nicht mehr und blätterte mehrmals durch die wie gebügelten Seiten des Passes. Eine lustige Vorstellung, wenn wir mit einem frisch gedruckten DDR-Pass in die ehemaligen Bruderländer Polen, Tschechien oder Ungarn reisen würden…
Fotos: Marco Bertram
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