Auf einem Hochplateau bei Nieselregen vor Erschöpfung zusammengebrochen. Gedanken konnten nicht mehr klar verfasst werden, die Umgebung verschwamm, ein gefährliches Egal-Gefühl kam auf. Wahrlich, diese hammerharte Wanderung ging fast in die Hose! Es war im Sommer 1993, als wir uns zu zweit aufmachten, um im Rahmen einer Nordamerika-Tour einen Zwischenstopp in den Rocky Mountains einzulegen und im dortigen Banff Nationalpark eine knackige Wanderung zu starten. Sagen wir es mal so: Unsere Ausrüstung war eher spartanisch. Jeans und Lederjacke statt atmungsaktiver Kleidung. Und was die Verpflegung betraf, so gingen wir die Sache mehr als Old School an. Ein Brot, eine Salami, zwei Büchsen Bohnen, ein Paket Kaffee und eine Flasche Whisky. Das dürfte doch für die Route von Banff nach Lake Louise reichen, oder nicht? Quer durch die Berge, ein paar stramme Pässe inklusive. Das Wasser wurde aus Bächen entnommen und auf dem Feuer abgekocht. In Höhenlagen wurde direkt aus der Quelle getrunken. Das Problem: Das Wasser war häufig Schmelzwasser. Zu wenig Mineralien, zu wenig Salz. Nach drei knüppelharten Tagen waren wir dehydriert und ausgehungert. Der Körper schrie nach allem. Nach etwas Frischem, nach Milch, nach etwas Süßem. Die Tour wurde auf der einen Seite grandios, auf der anderen Seite eine echte Tortur. Folgend steigen wir am zweiten Tag der Wanderung ein. Der Bericht stammt aus dem Buch „13 Reise-Fragmente“, das im Frühjahr 2003 auf den Markt kam:
Bis zur totalen Erschöpfung: Ein Marsch durch die kanadischen Rocky Mountains
Am Abend schlugen wir in einem wunderschönen Tal in der Nähe des Cascade Rivers unser Nachtlager auf. Ein Feuer wurde rasch und gekonnt mit vertrockneten Ästen entfacht und darauf Kaffee in einem Blechtopf gekocht. Die Landschaft war reizend, und der Abend am Lagerfeuer sollte romantisch wie in den Wildnisfilmen werden. Hinter den felsigen Bergketten verabschiedete sich langsam die Sonne. Zu unser Überraschung traf noch ein weiterer Wanderer an unserem Platz ein. Ein junger Japaner, der allein unterwegs war und eine große Strecke vor sich zu haben schien, setzte ein paar Meter weiter seinen Rucksack ab.
Er war Student und verbrachte seine Semesterferien in den Bergen des Banff Nationalparks. Zur Begrüßung tranken wir gemeinsam einen Schluck kanadischen Whiskey, der mild und sehr schmackhaft war. Nachts im Zelt wurde es bitterkalt. Mein dünner Schlafsack wärmte kaum, und ich zog meine Lederjacke über. Es herrschte Bodenfrost, und unsere Wanderstiefel waren am Morgen im bereiften Gras festgefroren. Sehnsüchtig warteten wir auf den Moment, an dem die Sonne hinter den Bergkuppen auftaucht.
Neben dem Zelt plätscherte ein Gebirgsbach, der uns zu einer spontanen Wette inspirierte. Jan gewann sie. Er ging tatsächlich in dem Bach baden, dessen Wasser eine Temperatur von vielleicht vier, fünf Grad Celsius hatte. Für einen kurzen Moment tauchte er im eiskalten Wasser unter, und ich hielt diese Aktion mit einem Beweisfoto fest.
Nachts war es empfindlich kalt, doch tagsüber kam überdurchschnittliche Hitze auf. Die Sonne brannte auf dem Nacken, und der ständige Durst wurde beim Wandern zur Qual. An jedem Bach und Rinnsal hielten wir und tranken das erfrischende Wasser. Eigentlich sollte man das Wasser wegen möglicher Wurmeier und Bakterien, die Durchfallerkrankungen hervorrufen können, nicht trinken und vorher abkochen. So machten wir uns anfangs die Mühe und kochten das Wasser über dem offenen Feuer ab und füllten es anschließend im abgekühlten Zustand in Plastikflaschen ab. Das Wasser schmeckte widerlich, muffig, rauchig und bitter. Da wir kein Micropur bei hatten, und das abgekochte Wasser ungenießbar war, nahmen wir das Risiko auf uns und vergnügten uns mit dem frisch aus den Bächen geschöpften Wasser.
Doch schon bald verging mir das Vergnügen. Neben dem Weg floss ein kleiner Rinnsal, aus dem ich etwas Wasser mit der hohlen Hand schöpfte und trank. Zwei Kilometer weiter konnte ich dann sehen, woher dieses Wasser stammte. Es kam aus einem großen, morastigen Teich. Mir drehte sich beim Anblick des schwarzen, trüben Gewässers mein Magen um. Schnell versuchte ich die Gedanken an gefährliche Krankheitskeime zu verdrängen. Seit diesem Erlebnis tranken wir nur noch das Wasser der hohen Gebirgsregionen, das von den Gletschern und reinen Quellen der Gipfel hinab ins Tal sprudelte. Bis zum Berg Bonnet Peak folgten wir dem Cascade River. Mittlerweile liefen wir ein gutes Stück und bemerkten, dass unsere Stiefel doch nicht so gut waren wie zuvor angenommen. Zumindest hätten wir sie einige Zeit vor der Wandertour eintragen müssen. Der Zeitraum vom Kauf der Stiefel in einem Geschäft in Winnipeg und der Wanderung in den Rocky Mountains war einfach gehend zu kurz.
Meine Füße, von Natur aus anfällig für Blasen und Schwielen, waren schon bald wund gelaufen. Immer mehr schmerzten die Füße, jedoch entschädigten die grandiosen Panoramen und das schöne Wetter die Strapazen. Jan und ich marschierten einen recht breiten Weg entlang, der durch einen zu beiden Seiten dicht gewachsenen Wald führte. Rechts ging es steil bergauf und links bergab. In Gedanken versunken, oft drehten sich diese um die schlecht eingetragenen Stiefel und schmerzenden Füße, wanderten wir der Karte folgend, als es plötzlich wenige Meter vor uns im Gebüsch knackte. Zwei große kapitale Hirsche brachen krachend aus dem Unterholz hervor und kreuzten unseren Weg. Es waren prächtige Tiere, die uns einen gehörigen Schreck einjagten. Es hätte schließlich auch ein Bär sein können. So schnell wie die Hirsche aus dem Unterholz brachen, waren sie auch wieder im dichten Wald verschwunden.
An genau diesem Nachmittag sollten wir eine sehr wichtige Entscheidung treffen. An einem reißenden Fluß, nur ein morscher, umgestürzter Baum diente als Überführung, mussten wir uns für eine Routenvariante entscheiden. Zum einen blieb uns der Weg über den Fluss in das sogenannte »Grizzly Area«, und zum anderen konnten wir einen kürzeren Weg über zwei Gebirgspässe wählen. Nach einer ausführlichen Beratung sprachen wir uns für die kürzere Variante der Tour über die beiden Pässe aus. Wir liefen nicht wie zuerst geplant bis zum Clearwater, sondern über die beiden Gebirgspässe in Richtung Westen. Allein diese Route sollte hart genug werden. Die Tour durch das unwegsame und unberechenbare Gebiet des »Grizzly Area« hätte unabsehbare Folgen für uns haben können. Unsere Proviantvorräte waren äußerst bescheiden, die Füße zerschunden, und meine Zehen blutig und geschwollen.
Sicher, Jan und ich waren in guter körperlicher Verfassung, und es ging anfangs flott voran, doch die Fitness sollte am ersten Gebirgspass wegen des schlechten Schuhwerks schlagartig abnehmen. In einem traumhaften Tal bauten wir gerade unser kleines Nachtlager auf, als drei Männer zu uns kamen. Wie sie uns mitteilten, kamen sie aus den USA. Unter ihnen war einer, der sich als »Native« bezeichnete und indianische Vorfahren hatte. Er wohnte in Arizona, wo, wie er uns ausschweifend mitteilte, seine Katze vor lauter Langeweile Skorpione fing. Die drei machten eine ausgedehnte Wanderung durch die Rockies und hatten umfangreiche Ausrüstung bei sich.
Der »Native« war bester Laune, und wir verbrachten einen lustigen gemeinsamen Abend am Lagerfeuer. Er besaß einen großen Erfahrungsschatz, sah aber um einiges jünger aus als er tatsächlich war. Stories von rasanten Autofahrten in Arizona und über Schlangen und Bären wurden von ihm bildhaft erzählt. Im Zuge der antretenden Dämmerung zeigte er auf die Bergkuppen und konnte genau vorhersehen, wo der Mond in gut zwei Stunden aufgehen wird. Für den nächsten Abend verabredeten wir uns an einer Feuerstelle hinter dem Badgerpass, den wir auf zwei unterschiedliche Routen besteigen wollten. Der Badgerpass ist über 2500 Meter hoch, und die Zeit der gut sichtbaren Wanderpfade war vorbei. Die Landschaft wurde urwüchsiger und das Essen immer weniger.
»Jan, ich glaube, mein kleiner Zeh ist gebrochen...«, teilte ich ihm bei einer kurzen Rast an einem Bach mit.
»Meine Füße tun auch fürchterlich weh.«
»Aber ich glaube, ich kann bald nicht mehr richtig laufen. Es blutet schon.«
Ich saß auf einem Baumstumpf und betrachtete besorgt meine Füße. Der linke kleine Zeh schien gebrochen oder zumindest ernsthaft verstaucht.
»Mensch, Marco. Rede doch nicht ständig davon. Das Beste ist, wenn du deine Stiefel tagsüber einfach anlässt«, erklärte Jan.
Der Hunger wuchs. Jeden Tag gab es nur ein paar Scheiben vom pappigen, trockenen Brot und ein kleines Stück Salamiwurst. Die Bohnen hatten wir längst mit Wasser verdünnt und verspeist. Ein Bärenfilet musste her. Aber wer von uns sollte einen Bären erlegen?
Unsere Stimmung schwankte von Stunde zu Stunde, doch Jan erwies sich als hervorragender Begleiter, der niemals murrte oder sich über etwas beschwerte. Sicherlich taten auch ihm die Beine und Füße weh, und auch sein Hunger war riesig, aber er wirkte relativ gelassen, und ich bin mir sicher, daß wir eines Tages unseren Plan Wirklichkeit werden lassen und in die abgelegenen Northern Territories fliegen. Immer wieder erzählte er mir abends am Feuer, wie sehr es ihm in den Bergen gefalle, und daß er dort richtig abschalten könne. Die Landschaft sei einmalig, und niemals habe er sich die Gegend dermaßen schön vorgestellt.
Der Badgerpass erforderte einige Anstrengung. Anfangs war der Wald am Fuße des Berges sehr dicht und besaß reichlich Unterholz. Der Boden war morastig, und man fühlte sich in einen Urwald versetzt. Vor uns im Schlamm des Pfades bemerkten wir die Spuren verschiedener Tiere. In diesem dunklen Wald hätte man ein möglicherweise angreifendes Tier erst sehr spät bemerkt. Zu spät.
Ich malte mir bereits aus, wie sich ein Grizzly aufrichten und laut brüllen würde, um uns anschließend mit seinen Tatzen zu zerfetzen und mit seinen kräftigen Zähnen zu zerreißen. Da wäre noch die Möglichkeit der Elchkuh, die um ihr kleines Kälbchen bangt und schnaubend auf uns zu stürmen würde. Ein ungleicher Kampf in den unwegsamen Wäldern zu Füßen des Badgerpasses. Wie hilflos kann der Mensch sein!
Mit der Zeit wurde der Wald lichter, und in den weiteren Höhenlagen hörte der Waldbestand endgültig auf. Meter für Meter kraxelten wir auf den Gebirgskamm zu. Hitze und Anstrengung ließen den Mund austrocknen. Das an Mineralien arme Gletscherwasser füllte den Bauch, löschte jedoch nicht den Durst. Im Gegenteil. Jederzeit verlangte der Mund mehr Wasser, doch der Magen fasste nicht mehr und schmerzte bereits. Ab der Höhe von 2000 Metern gab es nur noch Gras und Flechten als Bewuchs. Die ersten Schneefelder waren auszumachen, und die Luft kühlte sich merklich ab. Auf einer Wiese mit vereinzelten Geröllfeldern jagten wir eine halbe Stunde lang ein Murmeltier, das wir unbedingt fotografieren wollten.
Tatsächlich schafften wir es, das Murmeltier in eine Ecke zwischen zwei Felsblöcke zu drängen. Ich wollte gerade den Auslöser der Kamera drücken, als es mir durch die Beine entwischte. Blitzschnell drehte ich mich um und machte einen Schnappschuss vom weglaufenden Murmler. Nach weiteren zahlreichen Metern des Aufstieges erreichten wir den Kamm der Bergkette. Oben auf dem Grat wehte ein eiskalter Wind. Der Grat war nur knapp ein Meter breit, auf der anderen Seite ging es gleich wieder steil bergab. An windgeschützten Stellen lag eine zirka zwanzig Zentimeter dicke Schneeschicht, die hart und verkrustet war.
Von oben konnte man das gesamte Tal überblicken, und wir fragten uns, was zu tun sei, wenn unten ein Bär entlang spaziere. Ihn ignorieren und einfach hinabsteigen? Auf dem Kamm abwarten? Falls ja, wie lange? Zum Glück war weit und breit kein größeres Tier auszumachen, und so mussten wir nicht die Nacht auf dem windigen Kamm verbringen. Am Abend trafen wir wie verabredet unsere drei Freunde wieder. Die Feuerstelle befand sich in einer feuchten Niederung, und Moskitos peinigten uns. Der Native und seine beiden Begleiter hatten Moskitonetze dabei, die sie sich über die Köpfe zogen. Mit ihrer professionellen Ausrüstung kochten sie geschwind Nudeln und bereiteten ein großes Abendbrot vor. Sie boten uns an mitzuessen, aber wir lehnten freundlich ab und meinten, dass wir noch genug hätten. Was uns zu diesem Schritt bewegte, wussten wir selber nicht. Minuten später ärgerten wir uns über unsere Dummheit.Im Laufe des Abends fragte uns der Native:
»Have you pissed around your tent?«
Unsere erstaunte Antwort lautete nur:
»No. We haven´t. Why? «
Der Native schlug vor, das Revier abzustecken. Genau auf die Art, wie es gewöhnlich Hunde, Wölfe und Bären tun. Er meinte, die Gegend sehe nach Bären aus, er habe einen Blick dafür.
Wir folgten seinem Rat, egal ob scherzhaft oder ernst gemeint, und markierten den weiten Umkreis unseres Zeltes. Einen Bären hatten wir an jenem Abend nicht gesehen, jedoch ein Stachelschwein, das bereits sehr bedenklich seine Stacheln aufrichtete.
Mit knurrendem Magen schlüpften wir in unsere Schlafsäcke. Die Nacht wurde wieder bitterkalt, und ich schwor, mir nach der Reise einen dickeren Schlafsack zu kaufen. Am nächsten Morgen verabschiedeten wir uns von den drei Nudelessern und zogen weiter in Richtung Pulsatilla Pass. Allmählich zogen dunkle Wolken auf. Mit dem sommerlichen Wetter schien es vorbei zu sein. Zudem wurden die Schmerzen im linken Fuß unbeschreiblich, und die Kräfte ließen merklich nach. Der Pulsatilla Pass war kräftezehrend. Als Lohn des harten Anstieges erwartete uns wieder ein grandiose Aussicht. Während wir auf dem Gipfel saßen und die Wanderkarte studierten, sagte ich:
»Es ist wirklich toll hier, aber lange halten wir das nicht mehr durch. Sag mal, was meinst du? Schaffen wir den Rest bis Lake Louise in zwei Tagen?«
»Tja«, überlegte Jan und schaute nochmals auf die Karte. »Es müsste zu schaffen sein. Es ist aber ein ordentlicher Marsch. Wieviel Brot haben wir noch?«
»Nicht mehr viel. Und nur noch eine kleines Stück Wurst. Das wird hart. Wir hätten doch etwas vom Native annehmen sollen...«
»Ach, fang nicht wieder damit an. Wir wollten es ja nicht anders. Ist auch egal. Na los, komm...«
Am späten Nachmittag begann es zu regnen. Meine Kraftreserven ließen immer mehr nach, und ich konnte mich kaum noch auf den Beinen halten. Unser gestecktes Tagesziel wollte und wollte einfach nicht kommen. Der Regen wurde immer heftiger. Wir liefen über ein offenes Plateau, das einer Teeplantage ähnelte. Nirgends war ein schützender Baum auszumachen. Benommen torkelte ich hinter Jan her. Dann kam der Moment. Für mich war Schluss. Ich war am Ende. War fix und fertig. Ich ließ mich ins Gras fallen und murmelte:
»He, Jan... Geh und schau, wie weit es noch ist... Wenn es weiter als ein Kilometer weg ist, dann bleiben wir hier... Wenn es dichter dran sein sollte, dann probieren wir es nachdem...«
Jan nickte mir zu und entfernte sich. Regungslos lag ich im Gras. Im Matsch. Im Dreck. Der Regen prasselte mir ins Gesicht. Der kühle Regen auf der Haut war angenehm. Auf dem Rücken liegend verharrte ich eine ganze Weile. Ich dämmerte im Halbschlaf und hoffte, dass Jan nie wieder zurückkehren würde.
Ich wollte nur noch liegen. Nur liegen. Ruhe, Stille, ich könnte sterben... Nie mehr bewegen. Oh ja, ich bleibe hier für immer liegen. Regen. Wasser. Kühle. Ich werde sterben. Ganz langsam sterben. Schön, nie mehr wandern. Ich will nicht mehr laufen. Nie wieder. Ich bin absolut am Ende. Meine Sachen sind nass. Schön.
Jan könnte mich hier liegen lassen. Dann würde ich hier liegen bleiben. Egal. Völlig egal... Ist es schon soweit? Sterbe ich jetzt? Ich will nicht mehr laufen...
»Marco!! He, Marco!!« rief Jan, der wieder zurück war und mich sorgenvoll anschaute.
»Marco! Das ist zu schaffen, ich habe dort meinen Rucksack gelassen. Komm, bitte! Geht’s?«
Gute Frage, eigentlich nicht. Ich erwachte aus meinem Dämmerschlaf. Jan nahm meinen Rucksack und ging los. Ich torkelte hinter ihm her. Ich fühlte mich benommen, und mir war kotzübel. Mit den Stiefeln ging es quer durch Schlamm und Pfützen. Ohne Rücksicht auf Verluste. Meine Füße wurden nass. Es war mir gleich. Es war eh schon alles feucht und klamm.
»Jan, gib mir die Wurst!« rief ich.
Mein Heißhunger nahm plötzlich riesige Ausmaße an.
»Die ist in meinem Rucksack, das weißt du doch. Du kannst jetzt nicht die Wurst essen.«
»Jan, mir ist schlecht vor Hunger. Gib mir die Wurst! Wie weit ist denn die Scheiße noch? Ich kann nicht mehr...«, maulte ich.
»Mensch, jetzt benimm dich. Ich trage ja schon deinen Rucksack. Es ist nicht mehr weit. Dort hinten am Hügel.«
Ich konnte nicht mehr klar denken. Ich weiß nicht wie, aber wir erreichten den Platz, stopften die Reste der salzigen Wurst in uns hinein und bauten im Nieselregen unser Zelt auf. Fast hätte ich dabei wieder die Wurst auf die Plane gekotzt. Mit letzter Kraft kroch ich ins Zelt. Alles war nass und kalt. Widerlich. Das zählte nicht mehr. Nur schlafen.
Nach dem Zusammenpacken am kommenden Morgen und einer letzten Bestandsaufnahme erfolgte der Aufbruch. Die letzten Energiereserven wurden in uns geweckt, und auf ging es zur Schlussetappe. Der Regen hatte aufgehört, und ich war sauer über die Tatsache, dass ich mich am Tag zuvor dermaßen hängen ließ. Bin ich doch ein Waschlappen, der nicht wildnistauglich ist? Diese Frage stellte ich mir einige Male. Ich wollte kein Weichling sein. Ist doch alles eine psychologische Sache. Eine Sache der Einstellung. Eine Frage des Kopfes.
Ich begann wie ein Geisteskranker mit hohem Tempo loszulaufen. Ich gab die Geschwindigkeit an, stolperte über herausragende Baumwurzeln und eilte ins Tal. Bis zum Abend wollte ich das kleine Städtchen Lake Louise erreichen. Egal wie. Egal, ob ich danach zusammenbreche. Wir wanderten in einem Stück durch. Nur an den Bächen legten wir hastige Trinkpausen ein. Den ganzen Tag lang ging es bergab, und ich fluchte bei den stechenden Schmerzen, die mit jedem Schritt in den Füßen auftraten.
Unser letzter Schlafplatz lag in einer Höhe von etwa 2000 Metern, und Lake Louise befand sich etwa 600 Meter über dem Meeresspiegel.Am Nachmittag begegneten wir den ersten Wandersleuten, die von Lake Louise aus Tagestouren in den nahen Bergen unternahmen. Bald erreichten wir eine befestigte Straße und säuberten in einem nahen Fluss unsere vom Schlamm besudelten Stiefel und Hosen. Später mussten wir feststellen, dass der falsche Weg genommen wurde. Statt dem sehnsüchtig erwarteten Ort Lake Louise bekamen wir eine Bergstation zu sehen. Die asphaltierte Straße endete an einem großen Platz, auf dem Geröll und gestapelte Baumstämme lagerten.
Wir hatten die Karte falsch gedeutet. Enttäuscht ließen wir uns auf einem Baumstamm nieder und starrten auf die feuchte Erde. Unsere Energie war verbraucht. Keiner von uns beiden konnte sich vorstellen, auch nur noch einen Schritt zu gehen. Wie ein Skilangläufer nach einem olympischen Wettkampf erreichten wir den Zieleinlauf und fielen auf den Boden. Nur schade, dass es bei uns der falsche Zieleinlauf war! Dem Körper schien es egal. Für ihn war die Wanderung beendet. Humpelnd schlichen wir zum Gebäude der Bergstation.
Wenigstens gab es dort ein Restaurant. Die Zeit des Hungers war vorbei. Jan und ich betraten das fein eingerichtete Restaurant und wurden von den Anwesenden bestaunt. Mit unseren nach der letzten Nacht wild abstehenden Haaren, den schmutzigen Hosen und den bärtigen, ausgemergelten Gesichtern schlurften wir auf einen Tisch zu. Zufällig fiel mein Blick in einen Türspiegel. Ich erschrak. Das sollte ich sein? Meine Güte, wie sehr konnte man innerhalb einer Woche sein Aussehen verändern. Nach einer ersten provisorischen Reinigung auf der Toilette kam die große Stunde des Fressmahls. Milch, Cola, Orangensaft, Hot Dogs, Blue Berry Muffins, Nusskuchen und Schokolade… Nach dem Essen war uns das Glück hold. Ein Busfahrer erbarmte sich unser und nahm uns bei der Fahrt seines leeren Busses ins Tal mit. Es war einer dieser gelben Schulbusse, bei denen man an der Rückseite einsteigen kann.
In Lake Louise angekommen, überquerten wir eine Straße, um in einem kleinen Geschäft einkaufen zu gehen. Beim Passieren der Straße wurden wir fast von den Autos überrollt, denn wir konnten nur über das Pflaster schleichen. Es ging einfach nicht schneller, die Beine drohten vollends zu versagen.
Wir lernten das Gefühl kennen, wie es sein muss, wenn man als kranker, lahmer Mensch gerne möchte, aber die Gliedmaßen nicht mehr wollen. Für einen gehörigen Batzen Geld kauften wir die verschiedensten Leckereien und schlurften zu einem Campingplatz, auf dem wir die nächsten Tage verbringen wollten. Für die knapp 800 Meter Wegstrecke benötigten wir ganze 30 Minuten. Ein beeindruckendes Resultat!
Fotos: Marco Bertram, Jan M.