Erdgeschosswohnung in der Bornholmer Straße. Nordseite. Klassische Kohleheizung. Knackiger Winter 1996/97. Es wurde wahrlich kein Zuckerschlecken. Aufgrund der abendlichen Kneipentouren durch Berlin ging der Kachelofen immer wieder aus und die Temperatur sank rasch unter zehn Grad Celsius. Da in der Küche, in der sich auch die am Fenster eingebaute Badewanne befand, gar keine Heizung zu finden war, froren dort aufgrund der minus 15 Grad Außentemperatur schon bald die Wasserrohre ein. Es half nur eins: Sich beim Schlafen unter zig Decken oder am besten gleich in einen Schlafsack mummeln und tagsüber die Flucht antreten. Unterricht am VHS-Kolleg, in der Freizeit dann auf Achse sein. Da ich jedoch auch Ruhe brauchte, um ein Buch über eine siebenwöchige Reise durch Brasilien zu schreiben, zog ich mich immer wieder an zwei Orte zurück. Zum einen setzte ich mich stundenlang in einen der Lesesäle der Alten Staatsbibliothek Unter den Linden, zum anderen fuhr ich mit der S-Bahnlinie 1 zum Botanischen Garten in Berlin-Lichterfelde. Wohnung, Staatsbibliothek und Botanischer Garten lagen allesamt auf einer Strecke. Und ich liebte diese Linie. Die unterirdischen Bahnhöfe Nordbahnhof, Oranienburger Straße und Unter den Linden verströmten damals wahrlich den Charme längst vergangener Zeiten. Eingesetzt wurden auf dieser Linie zudem die richtig alten S-Bahnzüge. Die mit den ganz schmalen oberen Fenstern zum Aufklappen, den Nieten und den Holzbänken. Wenn diese Züge am S-Bahnhof Oranienburger Straße einfuhren, konnte ich mich kaum satt hören und sehen. Mensch, was vermisse ich diese Geräusche, diesen Geruch, dieses Ambiente!
Einst „Fluchtort“, heute Ziel für Familienausflüge - das Tropenhaus im Botanischen Garten
Vom S-Bahnhof Botanischer Garten stiefelte ich dann mit Notizblock und Lektüre im Rucksack zum Haupteingang des Botanischen Gartens, welcher mit einer Fläche von 43 Hektar und zirka 22.000 verschiedenen Pflanzenarten der Größte in Deutschland ist. Ich hatte mich damals verliebt in diesen Garten mit seinen großen Gewächshäusern. Nach unserer Reise durch Brasilien im Sommer 1996 saß ich dort mit meiner damaligen Freundin auf einem kleinen alpinen Hügel auf einer Holzbank und schmiedete Pläne für die Zukunft. Im großen Tropenhaus schauten wir gemeinsam auf die beeindruckende Wasserpflanze Victoria Regia und ließen unsere gemeinsame Reise noch einmal Revue passieren. Im Winter 1996/97 reiste sie noch einmal für zwei Monate nach Brasilien, und ich kämpfte mich im kalten Berlin von Tag zu Tag.
In Decken eingehüllt saß ich in der Wohnung (bis der blöde Ofen wirklich Wärme abgab, konnte eine gefühlte Ewigkeit dauern) und tippte auf die elektronische Schreibmaschine. Blatt für Blatt wurde eingespannt. Nur nicht verschreiben. Und wenn, musste es unbedingt noch vor dem Zeilenumsprung festgestellt werden. In diesem Fall konnte das Korrekturband genutzt werden. Man glaubt es gar nicht, aber die Bänder zum Schreiben und zur Korrektur konnten richtig ins Geld gehen. Bei heißem Tee und aufgestellter Kerze arbeitete ich mich vor. Die ersten Notizen fertigte ich jedoch in der Staatsbibliothek (dort wälzte ich das eine oder andere historische Buch über Brasilien) und lieber noch im großen Tropenhaus des Botanischen Gartens an. Vor dem Umbau des Tropenhauses war die Luft noch schwüler und drückender. Der marode Charme gefiel mir. Ich hätte dort am liebsten zwischen den Palmen gleich meine Isomatte und meinen Schlafsack ausgelegt und die Nacht verbracht. Ich kaufte mir einen Kaffee, schaute stundenlang auf die sattgrünen Pflanzen und dachte an den Amazonas, den Itatiaia-Nationalpark und an Rio de Janeiro. Und auch an den dortigen Jardím Botânico, der eine Wucht ist und dort natürlich ohne tropische Gewächshäuser auskommt und mal eben 140 Hektar (!) groß ist. Die 128 Königspalmen (Roystonea regia) der Hauptallee Barbosa Rodrigues stammen zum Teil noch aus der Zeit der Entstehung des Gartens.
Ebenso aus der Anfangszeit des Botanischen Gartens in Berlin stammen die meisten Schaugewächshäuser. So wurde mit der Errichtung des großen Tropenhauses im Jahr 1906 begonnen. Von den einst insgesamt 16 errichteten Gewächshäusern sind glücklicherweise noch 15 erhalten. 14 von ihnen bilden einen rechteckigen Komplex. Bemerkenswert: Das große Tropenhaus ist mit seiner Länge von 60 Metern, Breite von 29 Metern und Höhe von etwa 25 Metern noch heute eine der größten Stahl-Glas-Konstruktionen der Welt. Mein Herz blutete, als zu Beginn des Neuen Jahrtausends das große Tropenhaus geschlossen und komplett saniert wurde. Als es im September 2009 wieder eröffnet wurde, zeigte ich mich ein wenig enttäuscht. Die Schwüle von einst war nicht mehr vorhanden, alles wirkte so aufgeräumt und steril.
Mittlerweile habe ich wieder das große Tropenhaus ins Herz geschlossen. Es brauchte halt ein bisschen. Für unsere beiden Söhne sind die Gewächshäuser sowie der absolute Hammer. Mit dem Siebenjährigen muss ich dort immer Verstecken spielen, dem Zweijährigen entfuhr kürzlich mit großen Augen nur ein lautes „Wow!“. Und da sich Kreise im Leben häufig schließen, fahre ich derzeit wieder öfters in den Botanischen Garten, um Vorbereitungen für ein kommendes Buch zu treffen. Das Laptop bleibt zu Hause. Einfach sitzen, die warme Luft einatmen, das satte Grün genießen und die Gedanken schweifen lassen. Notizen ganz klassisch mit Bleistift auf Papier anfertigen. Besser geht es nicht! Und wenn es dann mit der S-Bahn zurück in Richtung Schöneberg geht, muss ich an die 90er denken, als diese alten Züge fuhren. Auch wenn diese längst verschrottet wurden, so bleibt mit dem Botanischen Garten in meinem persönlichen Berlin wenigstens ein Stück Erinnerung ganz real bestehen.
Fotos: Marco Bertram
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