Die Erdoberfläche ist zu 71 Prozent von Wasser bedeckt; die restlichen 29 Prozent fallen auf alle Kontinente und Inseln ab. Daraus ergeben sich etwa 356.000 Kilometer Küstenlinie. Bei 194 (von der UNO anerkannten) Ländern auf der Welt sollte man meinen, dass da für jeden ein bisschen Küste abfallen sollte. Weil bei der Entstehung der Kontinente und der Verteilung von Ländern aber offenbar andere Gesichtspunkte entscheidend waren, als dass jedes Kind in seinem Heimatland an den Strand gehen kann, gibt es eine ganze Reihe an Ländern mit viel Küste und einige Länder ohne Zugang zum Meer.
Usbekistan - Zwischen 1.001 Nacht, Gastfreundschaft und viel Geld
Es gibt sogar zwei Länder, die nicht mal an ein Land mit einer eigenen Küstenlinie grenzen. Das eine ist Liechtenstein, das etwa halb so groß ist wie Bremen und deshalb irgendwo zwischen der Schweiz und Österreich eingequetscht liegt. Das andere ist Usbekistan, ein Land von der anderthalbfachen Fläche Deutschlands mitten in Zentralasien.
Usbekistan ist in vielerlei Hinsicht besonders. Das Land gehörte nach dem Zweiten Weltkrieg zur Sowjetunion und wurde nach deren Zerfall von 1991 bis 2016 von einem Autokraten namens Islom Karimov regiert, der eine persönliche Abneigung gegen Presse- und Meinungsfreiheit hatte und ausschließlich aus dem Grund nicht mehr an der Macht ist, weil ihm sein eigener Tod dazwischen kam. Sein Nachfolger macht zwar erste Anstalten, die Politik zu ändern, hat aber auch noch keine demokratischen Wahlen abgehalten.
Die Inflationsrate (also der Wert, der die Geldentwertung misst und im besten Fall bei etwa zwei Prozent liegt) lag in den letzten zehn Jahren im Schnitt bei elf Prozent. War im Jahr 2013, in dem der folgende Bericht spielt, ein Euro noch etwa 3.000 Usbekische Sum wert, ist der Umrechnungskurs mittlerweile auf 1:10.000 geklettert. Im Laufe der letzten Jahre hat man Banknoten mit Werten bis zu 50.000 Sum (fünf Euro) eingeführt. Im Sommer 2013 haben wir aber noch alles in 1.000 Sum-Scheinen (also 33 Cent-Noten) bezahlen müssen, was dazu führte, dass wir am Ende ziemlich geschickt darin waren, größere Mengen an Geldscheinen in kürzester Zeit zu zählen.
In Usbekistan liegen einige alte, wichtige Städte der Seidenstraße, auf der über 1.000 Jahre lang der Handel zwischen Europa und Fernost stattfand. Grund genug also, mal dort vorbei zu schauen und ein paar Eindrücke aus einer fremden Welt und einer anderen Zeit mit nach Hause zu bringen. Um die Reise möglichst gemütlich und entschleunigend zu halten, hatten wir entschieden, den Weg von Hamburg über Moskau und Sankt Petersburg bis nach Taschkent mit einigen Unterwegshalten in den usbekischen Oasen mit dem Zug zurück zu legen…
Nach drei Tagen Zugfahrt kommen wir an irgendeinem Wochentag (Vielleicht ist heute Donnerstag?) am Nachmittag in Turtgul in der Nähe der usbekisch-turkmenischen Grenze an, wo uns Boris, den wir im Zug kennengelernt haben, ein Taxi besorgt, das wir uns ein paar Kilometer teilen, weil wir in dieselbe Richtung fahren. Der Begriff “Taxi” wird hier in Usbekistan etwas freier definiert als in Deutschland. Zwar gibt es hier auch Fahrzeuge, die wie offizielle, registrierte Taxis aussehen, im Grunde gilt aber jedes Fahrzeug mit vier Rädern und Motor als Taxi.
Bevor Boris und sein Sohn abgesetzt werden, notiert sich ersterer Kennzeichen und Telefonnummer des Fahrers und weist eindringlich darauf hin, dass dieser sich bei ihm melden solle, sobald er uns am Hotel abgeliefert hat. Boris gibt sich schließlich erst zufrieden, als Denis ihm telefonisch nach Ankunft in Xiva mehrfach glaubhaft machen konnte, dass es uns wirklich gut ginge.
Wir kennen uns erst seit einigen Tagen, aber Boris sorgt sich so aufopfernd um uns als wären wir alte Freunde, die er in einem fremden Land vor ebendiesem beschützen muss. Bedenkt man, wie naiv und gutgläubig wir den Menschen gegenübertreten, ist das vielleicht nicht ganz unnötig. Andererseits gilt Usbekistan als ein sehr sicheres Land für Ausländer, die nicht gerade eine Revolution planen, die Usbeken als ein sehr gastfreundliches Volk. Mal sehen, wie notwendig Boris’ Vorsicht sein sollte.
Die erste Dusche nach drei Tagen Zugfahrt ist so hammermäßig gut, dass es kaum ins Gewicht fällt, dass das Wasser erst ganz zum Schluss warm wird. Zum Schwitzen soll es in Usbekistan auch noch genügend Gelegenheiten geben.
Um schließlich richtig auf der Seidenstraße anzukommen, unternehmen wir am Abend einen kleinen Spaziergang in die Altstadt Xivas, die im Licht der untergehenden Sonne so ruhig und märchenhaft da liegt als wären wir nicht nur tausende Kilometer hierher-, sondern auch hunderte Jahre zurückgereist. Die alten, nackten Lehmbauten und die türkis gekachelten Minarette sahen wahrscheinlich schon zu den Zeiten, als dieses Stück Erde zum wichtigsten Handelsweg der Welt gehörte, genauso aus wie heute. Käme ein junger Mann in Pumphosen auf einem Teppich angeflogen, niemand würde sich wundern.
Am nächsten Morgen führt uns der erste Weg auf den hiesigen Basar, der direkt am Osttor liegt. Neben dem reinen touristischen Interesse führt uns tatsächlich auch ein ganz praktischer Grund hierher - wir brauchen Geld. Geldautomaten sind in Usbekistan nämlich absolute Mangelware. Selbst wenn man einen findet - wie z.B. in unserem Hotel - heißt es nicht, dass dieser auch bewirtschaftet wird - wie z.B. in unserem Hotel. In weiser Voraussicht haben wir genügend US-Dollar mitgebracht, die wir nun tauschen wollen.
Weil der inoffizielle Kurs auf dem Basar deutlich günstiger ist als der offizielle, suchen wir zuerst mal nach einem Geldwechsler. Dieser ist auch relativ schnell gefunden, denn wer in Usbekistan professionell mit Geld handeln will, der muss eine ganze Menge Scheine dabei haben. Die große blau-weiß karierte Plastiktasche ist schon zur Hälfte aufgebraucht, als uns der gute Mann unsere ersten hundert Dollar in 270 1.000-Sum-Scheine umtauscht. Nachdem diese gezählt sind, verschwinden sie in der Umhängetasche, denn für das Portemonnaie sind es schlichtweg zu viele.
Mit einer gut gefüllten Tasche drehen wir eine Runde über den Basar und lassen uns durch die zahlreichen Obst-, Gemüse-, Öl-, Getreide-, Fischfangzubehör-, Eimer-, Seil-, Fahrrad- und Autoteilfachgeschäfte treiben. Viele Leute sind unterwegs, um den Wocheneinkauf zu erledigen. Jeder ist beschäftigt, niemand hat Stress. Vor allem Obst wechselt eimerweise den Besitzer.
Die Altstadt von Xiva ist auch bei (zugegebenermaßen sehr heißem) Sonnenlicht betrachtet, immer noch ein toller Einstieg für die Seidenstraße, denn es braucht nicht viel Vorstellungskraft, sich auszumalen, wie genau hier vor tausend Jahren zahlreiche Männer mit voll beladenen Kamelen durch die Straßen zogen.
Ichan Qal’a ist die einheimische Bezeichnung für die Altstadt, unter dem diese auch als Weltkulturerbe der UNESCO geführt wird. Auf einer Fläche von 400 x 700 Metern finden sich hier zahlreiche Moscheen, Medresen (Koranschulen) und Mausoleen. Dazu kommen etwa 250 Wohnhäuser und fertig ist die Märchenkulisse.
Viele religiöse Bauten sind zu größeren Teilen mit den typischen türkisen Fliesen und Mosaiken verziert. Besonders die Medresen mit ihren riesigen bogenförmigen Eingangsportalen, den Säulen, die die Fassaden prägen, und der Türmen wissen zu beeindrucken.
Von allen Bauten ist Kurze Minarett, das eigentlich mal das höchste der damaligen Zeit werden sollte, der seltsamste. Nachdem 26 der geplanten 70 Meter fertiggestellt worden waren, verstarb der Auftraggeber und sein Nachfolger hielt es offenbar nicht für notwendig, den Bau beenden zu lassen. Und so steht jetzt ein aufwendig verzierter, viel zu breiter Stumpf eines Minaretts neben der alten Stadtmauer aus Lehm.
Am Kurzen Minarett werden wir von einem netten Herrn angesprochen, der uns einen Ausflug in die Wüste und zum Aralsee anbietet. Leider haben wir nicht genügend Zeit für einen solchen Abstecher eingeplant, obwohl der Aralsee sicher sehr eindrucksvoll anzuschauen ist, gehört seine seit den 1960er Jahren andauernde Verlandung zu den verheerendsten menschenverursachten Naturkatastrophen der Welt.
Zu Sowjetzeiten fing man nämlich damit an, den Zuflüssen des Sees Wasser zu entnehmen, um die zahlreichen Baumwollplantagen in Usbekistan und Kasachstan zu bewässern. (Das Thema “Autarkie” war damals stark in Mode.) Weil Baumwollpflanzen aber unheimlich viel Wasser benötigen, wurde den Flüssen so viel davon entnommen, dass sich die Fläche des Aralsees von ursprünglich 68.000 km² auf 8.300km² (Stand 2015) verringert hat, weil einfach nicht genug Wasser nachgeflossen ist. Das ist ein Rückgang von fast 88 Prozent, der dafür sorgt, dass es den Aralsee als solchen gar nicht mehr gibt, sondern nur noch drei kleine Überreste.
Weil unsere Zeit aber wie erwähnt eher knapp ist, gibt es keinen Ausflug für uns. Dafür verabreden wir uns mit dem Herrn für den heutigen Nachmittag, denn dann müssen wir nach Urganch, wo unser Zug nach Buchara abfährt.
Bevor es aber so weit ist, schlendern wir noch weiter durch die Altstadt, die im Prinzip zwar schnell abgelaufen ist, allerdings auch beim zweiten oder dritten Mal nicht langweilig wird. Am frühen Nachmittag zieht ein Sturm auf, der die mobilen Verkaufsstände der Souvernirhändler ins Wanken bringt und den Sand der Wüste in die Stadt trägt. Ein gelblich-beiger Nebel legt sich über Xiva und weil wir heute keine Möglichkeit mehr haben, den Sand, der super an der Sonnenmilch auf der Haut haftet, abzuduschen, flüchten wir in den strohüberdachten Hinterhof eines Teehauses.
Der Taxifahrer holt uns später zum verabredeten Zeitpunkt ab und hat noch zwei Russen an Bord, die in der Trinkwasseraufbereitung arbeiten und unterwegs abgesetzt werden müssen. Nachdem die beiden ausgestiegen sind, erzählt er uns, dass der Preis für 100 Liter Trinkwasser bei etwa vier Dollar liegt, was sich viele Menschen nicht leisten können. Das Grund- und Leitungswasser hat einen ungesund hohen Salzgehalt, aber vielen bleibt nichts anderes übrig als das zu trinken und die daraus folgenden Probleme mit Gelenken und faulenden Zähnen in Kauf zu nehmen. Tatsächlich tragen die meisten alten Menschen mindestens einen Goldzahn oder eine Zahnlücke.
Am nächsten Morgen erreicht unser Nachtzug den Bahnhof von Buchara, wo wir schnell einen Taxifahrer finden, der uns zum Hotel fahren will. Der gute Mann hat großes Interesse daran, uns am Tag der Weiterreise von dort zurück zum Bahnhof zu bringen, scheitert mit seinem Vorhaben aber fast an der Sprachbarriere. Das ist aber kein allzu großes Problem, denn jeder Usbeke kennt einen, der einen kennt, der in irgendwas Experte ist. Unser Taxifahrer hat einen Telefonjoker, der Englisch spricht. Das Handy wandert ein paar Mal von vorn nach hinten und schon sind Ort und Zeit der Abholung geklärt.
Den Vormittag verbringen wir damit, die Zeit bis unser Zimmer fertig ist, im Kern der Stadt totzuschlagen. Am Labi-Hovus, einem Platz mit einer Medrese und einigen Moscheen an einem künstlichen Teich, gibt es Frühstück. Danach wollen wir den Geldwechsler-Basar besuchen, der auf unserer Karte im Wohngebiet nebenan eingezeichnet ist. Dieses Wohngebiet besteht ausschließlich aus einstöckigen Lehmbauten in Straßen, die alle gleich aussehen und natürlich nicht beschildert sind.
Statt des Basars finden wir schnell einen neuen Gesprächspartner. Der Mann sieht aus als hätte er die 100 Jahre schon lange hinter sich gelassen - ein Gesicht gezeichnet von einem arbeitsreichen Leben, die Haut gegerbt von der unerbittlichen Sonneneinstrahlung, die Zähne längst vergessen. Er spricht uns an und fragt, woher wir kommen. Aus Deutschland? “Dienen, dienen!” Er muss in den Sechzigern Soldat in der DDR gewesen sein, stationiert war er in Potsdam, Magdeburg und Frankfurt.
Den paar Brocken deutsch, die er noch kann, entnehmen wir, dass man in Deutschland gutes Bier trinken konnte. Den Vodka dort konnte man aber vergessen, den musste man sich aus der Sowjetunion besorgen. Als alle Vokabeln aufgebraucht sind, entschuldigt er sich, dass sein Deutsch nicht mehr so gut wäre wie früher, und verabschiedet sich von uns. “Auf Wiedersehen!”. Wir sind einigermaßen baff von dieser Begegnung und ziehen unseren imaginären Hut vor diesem alten Mann, der so glücklich und gelassen wirkt und sich wirklich zu ärgern scheint, dass er sich nicht länger mit uns unterhalten konnte.
Der Weg führt weiter durch das Wohngebiet, der Geldwechsler-Basar ist längst vergessen. Was gibt es hier zwischen den ganzen Lehmbauten noch zu entdecken? Einige Kinder laufen durch die Straßen, winken uns zu und verschwinden kichernd hinter der nächsten Ecke. Ein alter, ausgenommener Kleinbus fristet sein Leben am Straßenrand. Hinter einem geöffneten Fenster steht ein kräftiger Mann mit einem Hackebeil und zerteilt die Überreste eines Tieres, an den gekachelten Wänden seiner Küche hängen Würste zum Verkauf.
Nach einiger Zeit sind über den Dächern des Viertels ein paar Türme mit Leuchten zu sehen. Bei näherer Betrachtung fällt auf, dass es vier Türme in unmittelbarer Nähe zueinander sind. Ein Stadion? Hier zwischen den Lehmhütten? Aber die runde Form der Türme, die eher an Wachtürme erinnert, hinterlässt Zweifel - das wären wirklich sehr untypische Flutlichtmasten. Dennoch, das Interesse ist geweckt und den Weg zurück zum Labi-Hovus würden wir sowieso nicht mehr finden, also weiter.
Hinter dem Wohngebiet, das auf dem technischen Stand von vor siebzig Jahren stehengeblieben scheint, baut sich ein riesiges Krankenhaus vor uns auf, daneben eine vierspurige Straße und - ja, ein Stadion. Der/das Buxoro Sport Majmuasi ist ein Stadion mit etwa 23.000 grünen und blauen Sitzschalen, einer Laufbahn und den hässlichsten Flutlichtmasten der Welt. Im Inneren wird gerade an einigen Sitzreihen geschweißt, ansonsten ist tote Hose.
Wir finden schließlich irgendwie wieder zurück zum Hotel und machen uns am frühen Abend nochmal auf den Weg in die Stadt. Diesmal wollen wir noch ein paar Seiten aus dem Reiseführer erledigen, denn die Anzahl der besuchten Moscheen und Medresen ist in Buchara noch deutlich ausbaufähig.
Wir spazieren also durch die zahlreichen Händlergewölbe, in denen entweder Touristenkram, handbemalte Teller und Schüsseln oder handgewebte Teppiche verkauft werden. Natürlich sehen wir auch eine Menge Moscheen und Medresen, die allesamt wunderschön und faszinierend zugleich sind. Das Maß an Konzentration und Fingerfertigkeit, mit dem die teils sehr komplexen Muster aus Mosaiken gefertigt sind, liegt mir und meinen ungeschickten Wurstfingern doch sehr fern.
Vor einer Medrese, die sichtbar in die Jahr gekommen und nicht mehr in Nutzung ist, werden wir mal wieder angesprochen. Der ältere Herr scheint Wachmann zu sein, der sich etwas dazu verdienen will. Die wenigen weißen Haare auf dem Kopf lassen die gebräunte Kopfhaut durchscheinen und er ist weiß Gott nicht mehr der schnellste, aber er hat einen Schlüssel für das Haupttor und lässt uns für ein paar tausend Sum rein.
Nachdem das Tor wieder geschlossen ist, holt er seinen Zeigestock heraus und hält uns in bester Lehrermanier einen Vortrag über das Gebäude. Leider ist unser Russisch zur einen Hälfte bruchstückhaft und zur anderen nicht vorhanden. Dennoch entnehmen wir den Worten unseres Lehrers, dass hier sehr viel noch sehr original ist. Die Kacheln, die teilweise von den Wänden gefallen sind, unterstreichen diese Annahme.
Hinter der Fassade der Medrese befindet sich ein großzügiger Innenhof, von dem aus auf mehreren Stockwerken die Lehr- und Wohnräume von Schülern und Lehrern abgehen. Vor einem der vier Portale steht ein großer Baum, der etwas Schatten spendet. Die Fenster haben keine Scheiben, die Räume keine Einrichtung mehr.
Wir dürfen über einen engen, sehr steilen Aufgang in die oberen Stockwerke und sogar auf das Dach, während der Lehrer unten bleibt. Die Stufen sind so schmal, dass das bei seiner körperlichen Verfassung auch absolut angeraten ist. Von oben bietet sich ein toller Blick in den Innenhof und auf die Stadt, die größtenteils unter uns liegt.
Am nächsten Morgen steht schon zehn Minuten vor der verabredeten Zeit unser Taxifahrer bereit und bringt uns wie vereinbart zum Bahnhof. Nach mehreren Ticket- und Gepäckkontrollen, in deren Folge wir uns eher wie auf dem Flughafen fühlen, dürfen wir in die Bahnhofshalle und kurz vor Abfahrt schließlich in den Zug. Nur wenige Stunden später steigen wir in Samarkand aus und halten Ausschau nach Sanat, den wir im Zug aus Sankt Petersburg kennengelernt hatten, und der uns eigentlich abholen wollte. Da er nirgends zu sehen ist, steigen wir das nächstbeste Taxi, das uns für einen wahrscheinlich viel zu hohen Preis ins Hotel bringt.
Kurz nachdem wir unser Zimmer bezogen haben, klopft es an der Tür. Sanat hat uns doch nicht vergessen und ist schon voller Tatendrang, uns seine Stadt zu zeigen. Und da ausruhen nicht auf seinem vollen Programm steht, geht es ohne weitere Verzögerung direkt los.
Weil wir nicht genug von einer gemeinsamen Sprache sprechen, um den Plan für den Tag abzuklären, halten wir zunächst an einem großen Hotel, in dem man Englisch spricht und für uns übersetzt. Wir würden zuerst Mittag essen, dann ein paar Sehenswürdigkeiten gezeigt bekommen und danach gemeinsam in einen Club gehen.
Gegen den letzten Punkt legen wir ein Veto ein, weil wir für den Abend bereits andere Pläne haben. Dinamo Samarkand empfängt nämlich im örtlichen Stadion die Mannschaft aus Shurtan. Da spielt der 12. gegen den 13. der aus 14 Mannschaften bestehenden Usbekischen Professionellen Fußballliga (Nein, den Namen habe ich mir nicht ausgedacht.). Das können wir uns keineswegs entgehen lassen.
Bevor dieses kulturelle Highlight allerdings auf dem Plan steht, geht es erstmal mit Sanat durch die Stadt. Wir starten mit einem üppigen Mittag in einem Restaurant, in dem ich die einzige Frau bin, und entsprechend komisch angeschaut werde. Dann geht es weiter ins Gur-Emir-Mausoleum, in dem Amir Timur, seines Zeichens usbekischer Nationalheld und unerschrockener wie grausamer Eroberer aus dem 14. Jahrhundert, mit seiner Gang begraben liegt.
Das Gebäude ist riesengroß und - wenig überraschend - aufwendig mit Fliesen und Mosaiken in allen Farben besetzt. Im Hauptraum liegen - unter einer unbeschreiblich großen türkisen Kuppel - nackte Steine in Form von Gräbern, die symbolisieren, an welchen Stellen die echten Gräber im Gewölbe darunter stehen. Die Atmosphäre im Raum ist trotz der vielen Besucher angemessen und ruhig. Es strahlt kaum natürliches Licht ins Innere, stattdessen sorgen einige Strahler für indirektes Licht, das das viele Gold auf den Steinen toll in Szene setzt.
Vor dem Mausoleum liegen ein paar alte Steine und unter einem schützenden Dach befindet sich ein großes Becken, das einem interessanten Zweck diente. Bevor Timurs Männer nämlich in eine Schlacht zogen, mussten sie einen Becher eines Saftes trinken, der sich in diesem Becken befand und sie auf Adrenalin für den Kampf brachte. (Ob es unter den Soldaten auch einen gab, der als Kind mal in den Zaubertrank gefallen war und später keinen mehr trinken durfte, ist nicht überliefert.) Nach dem Kampf mussten dann alle Soldaten noch einmal zu dem Becken kommen, das wieder komplett gefüllt war, und einen weiteren Becher trinken. So konnte anhand des Saftes, der dann noch übrig blieb, ausgemacht werden, wie viele Männer gefallen sind. Wie praktisch.
Anschließend bringt uns Sanat in seinem weißen Chevrolet zum Registan, der als eines der bekanntesten Wahrzeichen der Seidenstraße gilt. Auf einem kleinen Platz stehen sich hier drei riesige und wunderschöne Medresen gegenüber, was insgesamt zu einem wirklich beeindruckenden Ensemble verschmilzt. Die drei Koranschulen sind die bisher am aufwendigsten verzierten Gebäude, die wir auf der Seidenstraße zu Gesicht bekommen. So unglaublich viele, filigrane Muster und Schriftzeichen grenzen schon fast an Wahnsinn.
Leider ist die Atmosphäre etwas gestört durch eine große Bühne, die den halben Platz einnimmt und mit ihrer kalten, klobigen Bauweise so unfassbar unpassend wirkt, dass man sich fragt, ob da jemand in der Stadtverwaltung eine Wette verloren hat.
In den Innenhöfen der Koranschulen finden sich eine große Anzahl an Souvenirgeschäften und ein paar der wenigen Grünflächen der Stadt. Statt uns in Ruhe an diesem tollen Ort sattsehen zu lassen, besteht Sanat darauf, eine Reihe peinlicher Touristenfotos zu machen, von denen das schlimmste zwei russische Pelzhüte beinhaltet, die in einem der Souvenirläden verkauft werden. (Aus Respekt den geopferten Tieren gegenüber soll an dieser Stelle auf ein Teilen dieses Bildes verzichtet werden. Stattdessen zeigen wir lieber ein Bild der beeindruckenden Gestaltung eines Innenhofes.)
Nachdem wir dann doch alles ausreichend bestaunen konnten, geht es schon wieder weiter. Sanat sammelt unterwegs noch seine Frau und Tochter ein und dann fahren wir in seine Wohnung in einem Plattenbaugebiet, das auf den ersten Blick wenig einladend wird. Wir sind einerseits gerührt von dieser Geste, andererseits fühlen wir uns nicht ganz wohl dabei. So gut kennen wir uns nun auch wieder nicht, dass er uns gleich zu sich nach Hause bringen muss. Oder ist das vielleicht so ein kulturelles Ding? Man weiß es nicht und wir wollen ihn nicht beleidigen, also spielen wir mit.
Wir werden auf die Couch im Wohnzimmer gesetzt und mit Melonen und Tee verköstigt, während Sanat und seine Frau uns unterhalten. Sie spricht zum Glück ein bisschen mehr Englisch als er und in kritischen Situationen hat natürlich auch Sanat einen Telefonjoker, der in der kommenden Stunde bestimmt achtmal bemüht wird.
Schließlich lädt er uns ein, von unserem Hotel in seine Wohnung zu ziehen, was wir aber entschieden ablehnen. Das ist dann doch ein bisschen zu viel des Guten. Sanat hat bisher kein Geld von uns angenommen, weder für das Essen noch für die Eintrittskarten, die er besorgt hat, und langsam machen wir uns Gedanken darüber, was er eigentlich vor hat. Er ist zwar ein netter und lustiger Typ, aber scheint nicht die Art Mensch zu sein, die das alles aus reiner Gastfreundschaft macht. Wer so selbstverständlich wie er an allen Warteschlangen der Stadt vorbei gehen darf, ohne angesprochen zu werden, und in einem Land wie diesem so vertraut mit den Polizisten plauscht, lässt unsere inneren Alarmglocken läuten. Ein bisschen Vorsicht scheint angebracht.
Am Abend bringt uns Sanat wie vereinbart zum Dinamo Stadion, wo er uns am lizensierten Ticket-Kleinwagen unsere Eintrittskarten für zusammen 3.000 Sum, also einen Euro, besorgt. In einem Fiat Uno sitzen hinter einem Plakat, das fast die gesamte Windschutzscheibe verdeckt, zwei Männer und verkaufen die Tickets.
Wir sind ein bisschen zu spät am Stadion und so läuft das Spiel bereits seit einigen Minuten als wir uns auf der Tribüne hinter dem Tor einen Platz suchen.
Das Dinamo Stadion ist eine flache Schüssel mit etwa 15.000 Plätzen, von denen vielleicht 2.500 belegt sind. Ein Teil der Haupttribüne ist überdacht und das gesamte Spielfeld von einer Laufbahn aus Betonplatten umgeben. Das Flutlicht bescheint die gesamte Rasenfläche fast gleichmäßig und Innenraum und Zuschauerbereich sind durch einen zweieinhalb Meter hohen, hellblauen Zaun voneinander getrennt. Auf der Tribüne sitzen einige Polizisten, einen privaten Sicherheitsdienst gibt es nicht.
Das Spiel ist der Klassiker, der es nominell versprach zu werden, und mit wenigen Highlights gesegnet, von denen eins definitiv die Szene ist, in der der Dinamo-Torwart seinen Gegenspieler vollkommen grundlos und unbedrängt austanzt. Das Publikum geht voll im Spielgeschehen auf, auch wenn es keine organisierte Stimmung im europäischen Sinne gibt. Geht ein Ball verloren, ist ein langgezogenes “Näääähhh!” zu hören, wird eine Situation nicht energisch genug gespielt, sind vereinzelte “Rabota!”-Rufe zu vernehmen. Das Spiel endet schließlich mit 2:1 für Dinamo, nachdem Shurtan zwischenzeitlich für den Ausgleich sorgen konnte.
Zurück am Hotel geben wir Sanat ein bisschen Geld, um uns für alles zu bedanken, was er den Tag über für uns getan und bezahlt hat. Er verspricht, uns das Geld am nächsten Tag wiederzugeben, aber eigentlich wollen wir das gar nicht. Wir sind schließlich nicht ganz unglücklich, als er am nächsten Morgen nicht wie vereinbart auftaucht. Es war zum Schluss doch alles ein bisschen komisch mit ihm. Außerdem wollen wir den Tag etwas entspannter und weniger durchgeplant angehen, nachdem ein Großteil der letzten Nacht auf der Schüssel verbracht werden musste.
Irgendwann am Nachmittag brechen wir auf zum Basar, der unter einem riesigen Wellblechdach untergebracht ist. Im Angebot auf den Marmortheken sind säckeweise Trockenobst, Getreide und Reis. Frisches Obst und Gemüse wird in rauen Mengen vertrieben, Melonen sind auf bis zu zwei Meter hohen Stapeln zu finden. Wie auf jedem Basar herrscht auch hier geschäftiges Treiben, Handeln, Schleppen. Die Bäcker schieben ihre Handwagen voller verzierter Fladenbrote durch die Gänge. Es ist alles sehr bunt und wuselig.
Der einzige Fleischstand befindet sich auf einer Holzpritsche, auf der das rohe Fleisch auseinandergenommen wird und ungekühlt herumliegt bis es jemand kauft. Auf einer Stufe neben den Marktständen sitzt eine Reihe Frauen, die Quark oder Frischkäse aus offenen Eimern heraus verkauft. Abgefüllt wird mit dem Löffel oder der Hand in ein kleines Plastiktütchen. Eventuell findet sich in all dem ein Erklärungsansatz für die unruhige letzte Nacht.
Wir machen einen Abstecher zum Shohizinda-Komplex, in dem es auf einem Hügel einige wunderschöne Mausoleen zu sehen gibt, und verbringen den Abend in der Nähe des Registan, wo sich um zahlreiche Eisdielen und Cafés herum das Leben der Einheimischen abspielt. Auch zu späterer Stunde sind viele Eltern mit ihren kleinen Kindern hier unterwegs, die Eisessend, Dreiradfahrend und lauthals lachend für einen sehr ausgelassene, entspannte Atmosphäre sorgen.
Am nächsten Tag führt uns die Reise mit dem Zug aus der Provinz heraus in die usbekische Hauptstadt Taschkent und von dort weiter nach Almaty in Kasachstan, wo diese Reise enden soll.
Diese Tagen in Usbekistan gehören zu den eindrücklichsten aller Tage, die ich bisher auf Reisen verbringen durfte. So unglaublich viel Gastfreundschaft und Offenheit habe ich danach an keinem anderen Ort mehr erlebt. Die Menschen in Usbekistan hatten ein echtes Interesse an uns und waren ernsthaft erfreut darüber, dass andere Menschen ihr Land besuchen und ihre Kultur kennenlernen wollen, wenn es ihnen selbst aufgrund der starken Armut, die hier vorherrscht, oft nicht möglich ist, ins Ausland zu reisen.
Die architektonischen Meisterleistungen, die hier mitten in der Wüste schon vor hunderten Jahren erbracht worden sind, sind absolut beeindruckend und in ihrer Vielfalt und Schönheit kaum angemessen zu beschreiben. Jede Moschee, jede Medrese, jedes Mausoleum für sich wäre es wert, ganze Seiten zu füllen. Ihre Einzigartigkeit zu beschreiben, fällt mir schwer, weil ich nicht ausreichend Worte dafür habe. Man muss es selbst gesehen haben, um das zu verstehen.
Letztendlich wirkte Boris’ große Vorsicht etwas übertrieben auf uns. Allerdings kennt er, der aufgrund seiner Geschichte als Oppositioneller keine Berufserlaubnis mehr besitzt, das Land doch deutlich besser als wir. Auch wenn wir mit Sanat zuletzt unsere Zweifel hatten, fühlten wir uns zu keinem Zeitpunkt in irgendeiner Weise in Gefahr. Überall auf der Welt muss man seine Augen offen halten, natürlich auch in Usbekistan. Aber es überwiegt am Ende ganz klar die Herzlichkeit, mit der uns die vielen wildfremden Menschen in ihrem Leben willkommen geheißen haben.
Bericht & Fotos: Anika (Zug nach Irgendwo)
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