Irgendwo zwischen alten verstaubten Schinken rutschte kürzlich ein schmal gefaltetes Stück Papier heraus. Erst beim genauen Hinsehen entpuppte sich das Faltblatt als überaus interessanter Fund. Ein Übersichtsplan der Berliner U-Bahn der Westberliner BVG. Ein erster Blick auf die farbigen Linien - Kindheitserinnerungen wurden wach. Bahnhöfe mit einem schwarzen Kreuzchen. Die damals bereits lila und blau markierten Linien 6 und 8 unterfuhren einst den Ostsektor der Stadt und hielten nicht auf fünf Bahnhöfen der Linie 6 und sechs Bahnhöfen der Linie 8. So zum Beispiel an den Bahnhöfen Heinrich-Heine-Straße, Bernauer Straße, Französische Straße und Stettiner Bahnhof (Nordbahnhof). Die Bilder von den Geisterbahnhöfen dürfte jeder mal gesehen haben. Anzeigetafel, Reklame, Schilder - das meiste wurde nicht mehr seit dem Mauerbau im August 1961 geändert.
Geisterbahnhöfe und kurze U7: Das Westberliner U-Bahnnetz im Jahr 1970
Beim zweiten Blick auf den Übersichtsplan wurde mir jedoch schnell klar, dass dieser nicht - wie zuerst angenommen - aus den frühen 1980er Jahren stammt. Die Linie 7 fuhr nur vom Zwickauer Damm (das Stück nach Rudow wurde noch gebaut) bis zur Möckernbrücke. Das gesamte restliche Stück bis Rathaus Spandau gab es zu jenem Zeitpunkt noch nicht. Als „im Bau“ markiert wurde bei der Linie 7 allerdings nur der Abschnitt von Möckernbrücke bis Fehrbelliner Platz. Vom nördlichen Abschnitt war noch keine Rede. Bemerkenswert: Als Linie 5 fuhr die U-Bahn eine Station zwischen Richard-Wagner-Platz und Deutsche Oper. Später wurde dieser kurze Abschnitt Bestandteil der Linie 7.
Der Blick aufs Kleingedruckte: Der Übersichtsplan der Berliner U-Bahn stammt aus dem Jahre 1970. Demzufolge wurde er noch eine ganze Ecke vor meiner Geburt - also vor nun mehr fast fünf Jahrzehnten - gedruckt. Mit der Hand wurden rote Linie in Neukölln und Wilmersdorf / Charlottenburg gezogen. Dort wohnten einst meine Uroma und meine Großtante. Wie in vielen anderen Fällen war auch meine Familie komplett geteilt. In unserem Fall lebte sogar mehr als die Hälfte im Westteil der Stadt. In den 70er und 80er Jahren bin ich als Kind und kurz vor dem Mauerfall auch als Jugendlicher mit der Teilung der Stadt aufgewachsen. Die Schwester meines Vaters und meine Cousine hatten wir jahrelang am Grenzübergang im Bahnhof Friedrichstraße abgeholt. Mit zwei, drei Einkaufstüten in den Händen kam sie durch die Aluminiumtür in der unteren gelblich gefliesten Halle. Scheppernd schlug die Tür hinter ihr zu, die Erinnerungen an diese Zeit sind sehr, sehr fest im Geiste verankert. Abends wurde Tante Gitte wieder zum Tränenpalast gebracht. Ein letztes Winken, dann ging sie am Eingang um die Ecke und war verschwunden.
Eine abstrakte Situation. Spannend fand ich immer den Gedanken, dass die Westberliner U-Bahn durch Ostberlin fuhr. Klar wusste ich, dass sämtliche Schächte und Zugänge versperrt und zugemauert wurden, doch immer wieder malte ich mir aus, wie es sein müsste, auf einen durchfahrenden Zug zu springen. Dass muss doch irgendwie möglich sein, zumal die U6 sogar am Bahnhof Friedrichstraße hielt. Die Linie 6 verkehrte bereits damals von Tegel nach Alt-Mariendorf, die Linie 8 fuhr von Gesundbrunnen bis Leinestraße. Gebaut wurde damals auch an der U-Bahn-Linie 9, die im Jahr 1970 nur von Leopoldplatz bis Spichernstraße rollte. In Planung war die Verlängerung bis zum Walther-Schreiber-Platz. Als Linie 3 verkehrte die U-Bahn das kurze Stück zwischen Wittenbergplatz und Uhlandstraße.
Eingezeichnet waren auch die beiden Linien in Ostberlin. Die Linie 2 fuhr von Pankow Vinetastraße bis zum Bahnhof Kaiserhof (Thälmannplatz), die Linie 5 verkehrte zu jenem Zeitpunkt von Alexanderplatz bis Friedrichsfelde. Der Bau des Abschnitts von Friedrichsfelde bis Tierpark zog sich außergewöhnlich lange hin. Die Verlängerung bis Hönow wurde erst in den 1980er Jahren gebaut, als in Marzahn und Hellersdorf die zahlreichen Plattenbauten hochgezogen wurden. Aufgrund der Teilung befanden sich die Abschnitte Gleisdreieck - Thälmannplatz und Schlesisches Tor - Warschauer Brücke außer Betrieb.
Stand der Dinge im Januar 1970: Das Westberliner U-Bahnnetz umfasste 82 Kilometer mit 100 Bahnhöfen. Auf fast allen Linien bestand werktags eine Zugfolge von fünf Minuten, die im Berufsverkehr weiter verdichtet wurde. Die U-Bahn bot damals tarifliche Vorteile. da innerhalb des Netzes auch mit nichtumsteigeberechtigten Fahrtausweisen für Einzelfahrten der Übergang von einer U-Bahnlinie zur anderen zugelassen war.
Der damalige Verkehrstarif: Ein Fahrschein zum beliebig häufigen Umsteigen (2 Stunden Gültigkeit) kostete 70 Pfennige (ermäßigt 35 Pfennige). Für Arbeitslose kostete dieses Ticket ebenfalls 35 Pfennige, allerdings musste eine Grundkarte mit der 25-Pf-Wertmarke für den laufenden Monat vorgelegt werden. Aber: Zwischen 23:30 Uhr und 04:00 Uhr erfolgte kein Verkauf an Arbeitslose!
Bereits damals gab es Zeitkarten, die stark aufgegliedert waren. So gab es Monatswertmarken, 7-Tage-Wertmarken und 5-Tage-Wertmarken. Zudem konnte als Fahrgast gewählt werden: Eine Strecke U-Bahn, eine Linie Autobus oder Schiff, drei Linien bzw. Strecken, das gesamte U-Bahnnetz, das gesamte Autobusnetz einschließlich Schiff oder das Gesamtnetz. Die Westberliner S-Bahn gehörte nicht zur BVG, sondern wurde von der Deutschen Reichsbahn der DDR mit verwaltet. Demzufolge ließ man in Westberlin zahlreiche Linien verkümmern und setzte voll und ganz auf U-Bahn, Bus und Fähren.
Pendelte man beispielsweise beruflich mit der Linie 6 jeden Tag zur Arbeit und wollte sonst aber nicht die öffentlichen Verkehrsmittel benutzen, so konnte eine Monatskarte für 15 DM erworben werden, die Monatskarte für das gesamte U-Bahnnetz kostete 21 DM, die Monatskarte für das Gesamtnetz kam - im Vergleich zu den Einzelfahrkarten - mit 49 DM recht teuer daher. Als Tourist konnte zudem ein Kreuz-und-quer-Ticket erworben werden, das acht Deutsche Mark kostete und vier Tage lang gültig war. Noch Fragen? Der Kundendienst befand sich im Januar 1970 im BVG-Kiosk Zoo am Hardenbergplatz und im BVG-Kiosk Spandau am Altstädter Ring…
Fotos: Marco Bertram, frontalvision.com