Es war eine Reise ins Ungewisse. Damals im Herbst 2006 war das Netz noch nicht in dem Maße mit Informationen über den Balkan angereichert, wie es in der Gegenwart der Fall ist. Mit dem Fahrrad ging es damals vor über 11 Jahren zu zweit von der ungarisch-serbischen Grenze aus quer durch Serbien bis runter ins bulgarische Kjustendil. Immer entlang des einstigen Eisernen Vorhangs. Somit führten unsere Wege meist über ruhige grenznahe Straßen und Wege. Von Norden kommend radelten wir von Horgoš aus über Kanijza, Kikinda, Žitište und Boka nach Plandište. Der Abschnitt von Plandište nach Vršac hatte sich ganz besonders im Kopf eingebrannt. Und das im wahrsten Sinne des Wortes. Die spätsommerliche Sonne schien mit voller Kraft, auf dem aufgeheizten Asphalt der Straße fuhren wir mit 35 km/h, damit der Fahrtwind uns hübsch um die Ohren strich. Nachdem in Plandište und Margita eine der zahlreichen kleinen Geschäfte aufgesucht und dort eine erfrischende Limo getrunken wurde, freuten wir uns nun auf das Etappen-Abschluss-Pivo in der Stadt Vršac, die sich nordöstlich von Belgrad nahe der serbisch-rumänischen Grenze befindet.
Vršac und Bela Crkva: Wo Weinberge die sanften Weiten der Vojvodina ablösen
Wir überholten ein Pferdefuhrwerk und traten richtig in die Pedalen. Ein Blick auf das Tacho! Oh ja, das ließ sich gut an! Links und rechts waren die für die Vojvodina typischen endlosen Mais- und Sonnenblumenfelder zu sehen. Am Horizont erhoben sich verlockend die ersten Hügel. Nach den Tagen im flachen Norden Serbiens verspürten wir Lust auf Abwechslung und auf eine neue sportliche Herausforderung. Schnell hatten wir uns in Serbien eingelebt, eine Portiönchen Abenteuer in Form von knackigen Anstiegen war nun gewünscht.
Es war damals nicht die erste Reise auf den Balkan. Zudem war ich seit Anfang der 1990er Male etliche Male individuell in ganz Osteuropa und Russland unterwegs, doch eine zweiwöchige Radtour ohne vorher fest abgesteckte Route und zuvor gebuchte Unterkünfte ließ im Vorfeld doch die eine oder andere Frage aufkommen. Wie verhält sich das mit der Sicherheit auf den Straßen, mit der Versorgung in abgelegenen Ortschaften, mit der Suche nach einem Zimmer für die kommende Nacht? Um es vorweg zu nehmen: Probleme gab es keine. Sämtliche Sorgen wurden vom Fahrtwind der Vojvodina in alle Richtungen verstreut. Und auch im Südwesten des Landes sollte es keine unangenehmen Erlebnisse geben.
Kilometer für Kilometer näherten wir uns Vršac, und die bis zu 641 Meter hohen Berge (Vršački breg / Vršačke planine) vor uns erhoben sich immer mehr gen Himmel. Schnurgerade fegten wir über die glatte Straße hinweg, am späten Nachmittag rollten wir in der 35.000-Einwohner-Stadt Vršac, die vielen aufgrund des dort ansässigen Basketballclubs (von 1992 bis 2012 Hemofarm Vršac) ein Begriff ist, ein. Vršac befindet sich in der südöstlichen Ecke der Provinz Vojvodina im Verwaltungsbezirk (Okrug) Južni Banat, der insgesamt knapp 300.000 Einwohner hat.
Beim Durchfahren der Straßen von Vršac boten sich einige Fotomotive, im an zentraler Stelle gelegenen Hotel Srbija erhielten wir ein Zimmer und konnten auch die Fahrräder problemlos sicher unterstellen. Auch wenn Vršac nicht so viele Einwohner hat, so wirkt das Treiben im Zentrum durchaus städtisch lebendig. Der Hauptplatz und die Fußgängerzone laden zu einem Spaziereingang ein, eine hübsche Einkehrmöglichkeit zu finden ist - wie überall auf dem Balkan - wahrlich keine große Kunst.
Absolut sehenswert ist die Kathedrale des Heiligen Gerhards. Diese ist in der Gegenwart die größte römisch-katholische Kirche Serbiens und war einst die zweitgrößte im ehemaligen Jugoslawien. Auf dem Berg oberhalb der Stadt lädt die Festung von Vršac mit einem Turm aus dem 15. Jahrhundert zu einer Besichtigungstour ein. In der Stadt selbst gibt es zudem einige serbisch-orthodoxe Kirchen zu sehen. Bemerkenswert: Das Rathaus (Magistrat) wurde im schottischen Landhausstil (18. Jahrhundert) errichtet. Und wenn es nicht nur ein Bierchen sein soll, bieten die Weinkeller der Stadt die Möglichkeit, den Rebensaft der dortigen Region zu kosten.
Auf der 2006er Tour ließen wir es in der dortigen Region etwas gemächlicher angehen. Mit Ruhe und Gemütlichkeit radelten wir am kommenden Tag von Vršac nach Bela Crkva (Weißkirchen). Vorbei an den sanften Hängen, auf denen der Wein angebaut wird. Hier und dort legten wir ein Päuschen ein, tiefenentspannt erreichten wir am Nachmittag Bela Crkva, das knapp 11.000 Einwohner hat und an der Straße zum serbisch-rumänischen Grenzübergang liegt. Noch ein paar Kilometer gen Süden und man stößt auf die Donau, an der sich die Frage stellt: Weiter auf rumänischer oder serbischer Seite?
Bela Crkva hatte uns sehr zugesagt. Am milden Septemberabend schlenderten wir durch die ruhigen Nebenstraßen, die mich mit ihren Straßenbäumen und dem schummerigen gelben Licht der Straßenlaternen ein wenig an Irkutsk erinnerten. Sicherlich gibt es aufgrund der Größe in Bela Crkva nicht so viel wie in der Nachbarstadt Vršac zu sehen, doch ein Zwischenstopp lohnt allemal. Interessant: Bela Crkva war 1972 Schauplatz einer werktreuen Verfilmung von Leo Tolstois Roman „Krieg und Frieden“ durch die BBC. Dabei wurde das winterliche Moskau des Jahres 1812 von Bela Crkva „gedoubelt“. Bei den Dreharbeiten kamen zirka 1.000 Soldaten der jugoslawischen Armee als Komparsen zum Einsatz. Ebenso bemerkenswert: In der Nähe von Bela Crkva befindet sich Češko Selo („tschechisches Dorf“), der einzige Ort Serbiens, in dem die tschechische Ethnie die Bevölkerungsmehrheit stellt.
Für uns ging es damals nach einer Nacht in Bela Crkva auf rumänischer Seite weiter die Donau entlang, bis wir bei Kladovo wieder die rumänisch-serbisch Grenze passierten und weiter auf einer sehr spannenden Route durch Serbien bis nach Pirot und Dimitrovgrad radelten, doch ist dies ein anderes Kapitel…
Fotos: Marco Bertram