Neuköllner Morgenspaziergang: Barbiere, Bäcker, Biertrinker und „Beat it!“

 
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Der tägliche Gang. Kind an der Hand, Kind auf der Schulter. Zur Schule, zur Kita und dann zum türkischen Bäcker. Die Macht der Gewohnheit und die festgetretenen Pfade im Großstadtdschungel. Im Normalfall will ich morgens um acht einfach meine Ruhe haben, den Kaffee trinken und dann zu Hause am Rechner ans Tageswerk gehen. Heute jedoch wollte ich einmal aus dem morgendlichen Trott ausbrechen und den Tag anders beginnen lassen. Mal kieken, wer entlang der Karl-Marx-Straße und Sonnenallee vor zehn alles auf den Beinen ist. Nachdem die beiden Jungs in Schule und Kita abgegeben sind, folgt Punkt eins wie gehabt. Für einen Euro einen Kaffee beim türkischen Bäcker, dazu für 60 Cent ein Gebäckstück. Dabei ein rascher Blick auf die Schlagzeilen - im Web und in der Zeitung. Während neben mir zwei Männer ihren Tee schlürfen und vor sich eine Packung Guavensaft zu stehen haben, blättere, scrolle und notiere ich. Dass Berlin und Kiel die Flüchtlinge vom Schiff „Lifeline“ aufnehmen möchten, lässt tausende Leser im Netz hitzige Kommentare verfassen. Ein Klick weiter sehe ich, dass Thilo Mischke sich gerade im Osten Kongos aufhält. War er nicht kürzlich noch in Afghanistan? Der Mann ist (positiv) irre, seine Dokus sind wahrlich ein Knaller. Dann lese ich eine Polizeimeldung. In Dresden versuchte ein Mann einen Achtjährigen in ein Auto zu locken. Der Puls erhöht sich, ich beschließe aufzubrechen. Fliegen-Plage in Mahlsdorf, irgendwas über Intimwaxing, alles über das heutige WM-Spiel Deutschland vs. Südkorea. Der letzte rasche Blick in die ausliegende Boulevardzeitung. Nun aber!

Mit einem Notizblock in der Hand schlendere ich die Karl-Marx-Straße entlang. Vom Karl-Marx-Platz kommend soll es vor bis zum Hermannplatz gehen, von dort aus zurück auf der rechten Straßenseite der Sonnenallee. 8:30 Uhr. Ich möchte Neukölln heute mal anders sehen. So, als wäre ich ein Tourist und würde morgens auf Entdeckungstour gehen. Die angenehme Sonne, der leichte Windzug, die Geräusche der Stadt - in der Tat kommen schlagartig Erinnerungen auf. Rio de Janeiro, Budapest, Moskau, Edinburgh, Kairo, Vancouver. Wie oft spazierte ich in den vergangenen 30 Jahren durch die Straßen und Gassen der Welt?! Mal abenteuerlustig, mal melancholisch, mal einfach nur sich treiben lassen. 

„Karls Café“ ist inzwischen geschlossen, ein paar Meter weiter lagern vor einem Geschäft Reissäcke, Kartons mit saudischen Datteln und Melonen. Noch herrscht Ruhe auf den Bürgersteigen, der große Trubel setzt erst noch gegen Mittag ein. Die eine oder andere Reklame, auf die ich sonst im Leben nicht achten würde, fällt mir nun ins Auge. „Ingwer, mehr als ein Gewürz.“, „5 GB in die Türkei.“, „Juckreiz braucht kein Mensch!“ Vor einem Klamottengeschäft beginnen lachende Gerüstbauer gerade ihr Tageswerk. Hat einer von denen ein BFC-Shirt an? Soweit ich das sehen kann - nein. „Halt mal feste!“, höre ich neben mir. Ein Papa drückt seinen beiden in einem Fahrradanhänger sitzenden Jungs ein Brötchen in die Hand. An einer Betonsäule vor mir erweckt ein kleines Graffiti meine Aufmerksamkeit. „Army of Brothers.“

Ich stehe nun an der T-Kreuzung gegenüber der ehemaligen Sparkasse. Ab hier beginnt nun die Baustelle, die sich seit Jahren Meter für Meter in Richtung Hermannplatz schiebt. Ebenfalls gewerkelt wird nun an der seit gefühlter Ewigkeit leerstehenden alten Post. Wagemutig arbeiten die Dachdecker ganz oben am First, unten wird gerade die Fassade gesandstrahlt. „Jemand ne kleine Spende für mich?“ Vor den Läden, wo sich einst das Hertie-Kaufhaus befand, sitzt ein Mann und bettelt um Kleingeld. Selbst im tiefsten Winter schliefen dort am Straßenrand zwei, drei Personen unter Decken. 

„Der holländische Matjes ist da!“ Wenige Meter weiter heißt es: „Klassische Massagen mit Mineralstoffen.“ An den Arcarden werden gerade die Fenster geputzt, auf dem Mittelstreifen vor dem U-Bahneingang sitzen vier Biertrinker. Genau ab diesem Punkt ändert sich der Straßencharakter schlagartig. Die Bäume auf dem Mittelstreifen geben der Karl-Marx-Straße nun ein völlig anderes Antlitz. Der Abschnitt zwischen Rathaus Neukölln und Hermannplatz ist jedoch bei weitem nicht so frequentiert wie der zwischen Rathaus Neukölln und Karl-Marx-Platz. Was ich nun zu sehen bekomme? Einen Raucherclub, einen Perückenladen, einen Brautmode-Ausstatter, einen Pfandkredit-Laden und ein Stück weiter einen Parkplatz, auf dem gerade ein Mann eine Frau in eine Lücke lotst. An dieser Stelle gibt es einen Durchgang, auf dem sich auch ein bemerkenswert hübsch angelegter Spielplatz befindet. Ich lege eine kurze Pause ein, fertige ein paar Bilder an und staune, dass wirklich kein einziger Mensch zu dieser Uhrzeit diesen Weg entlangkommt.

Weiter geht´s! Eine goldene Lounge, reichlich Barbiere, eine Fahrschule, ein Lagerverkauf, Halal-Läden, ein Erotik-Shop. Aus dem Augenwinkeln erfasse ich kurz das „Fiesta Latina“. Kurz vor dem Hermannplatz ist auf der linken Seite ein Geschäft, das Berufskleidung anbietet, zu finden. Die Leuchtschrift aus alten Zeiten zeigt an: Dieser Laden hat überlebt in der sich ständig im Wandel befindlichen Karl-Marx-Straße. Als meine Uroma in den 1980ern hier immer einkaufen ging, wird diese Einkaufsmeile wohl ein wenig anders ausgesehen haben. 

Vor der Friedhofsmauer sitzt eine Frau und raucht. Ihre Strumpfhose hat unterschiedliche Beine, und die Schminke ist völlig verlaufen. Ich möchte gar nicht wissen, wie sich wohl ihre letzte Nacht gestaltet hat. Willkommen auf dem Hermannplatz! Hunger? Zwei Buletten mit Pommes gibt es dort für schlappe 3,80 Euro! Aber okay, hätte ich jetzt einen Bärenhunger würde ich vor Karstadt den Stand aufsuchen, an dem es leckere Eierkuchen und Kartoffelpuffer gibt. Ein Imbiss der alten Schule. Direkt auf dem Hermannplatz wird gerade der Markt aufgebaut. Obst & Gemüse, Backwaren und Kleidung - dies sind drei Grundbausteine. 

Am Ende des Platzes biege ich rechts ab in die Sonnenallee. Verrückt! Vor 18 Jahren hatte ich dort vor der Apotheke ein Date mit einer kroatischen Frau. Ein Jahr später zog ich nach Neukölln. Seit 18 Jahren bin ich nun mit diesem Bezirk - vor allem aber mit dem überaus angenehmen Ortsteil Rixdorf - verbunden. Und auch nach 18 Jahren kann ich die Sonnenallee entlang spazieren - und ich komme aus dem Staunen nicht mehr raus. Tagsüber ist der erste Abschnitt allerdings kaum begehbar. Menschenmassen drängeln sich dort auf dem Bürgersteig und schieben sich an der Bushaltestelle und am großen Obstgeschäft vorbei. Jetzt kurz nach neun sind die Straßen bei weitem noch nicht so belebt und ich kann auf die kleinen interessanten Details achten.

Auch auf mich wird geachtet. Mit dem Schreibblock in der Hand wecke ich das Interesse der Tee trinkenden arabischen Männer. Es bleibt jedoch bei neugierigen Blicken. Von Stress ist keine Spur. Hier auf diesem Abschnitt der Sonnenallee reiht sich ein Geschäft ans nächste. Shisha-Bars, Obstläden, Handygeschäfte, Wett-Läden, Casinos, eine Goldschmiede, Teppichgeschäfte, Bäckereien, Läden mit Restposten, ein Computer-Fachmann und ein Hühnchen-Grill. Keine Ahnung, wie all diese Läden überleben können. Ein Straßenschild wurde mit einem arabischen Schriftzug ergänzt. An einem Balkon gegenüber wurde eine Palästina-Fahne angebracht. 

Ich lasse den Blick weiter schweifen. Drüben befindet sich noch immer das „Café Warschau“. Und sonst? Gemüse-Kebab, Elektroläden, Street Wear, ein ominöser Laden mit der Aufschrift „Soldier of Fortune“. Sultan-Bäckerei, Damaskus-Bäckerei, orientalische Düfte sowie Friseure und weitere Handy-Läden. Allerdings haben Letztgenannte zuletzt merklich abgenommen. Dafür gibt es jetzt mehr Friseur-Salons. Eine Bartform gibt es mitunter für sieben Euro. Wer will, kann sich auch das Gesicht für fünf Euro warmwachsen lassen. Eine Haarentfernung in Ohren und Nase wird bei den meisten Barbieren auch angeboten. 

Ab der Weichselstraße wird es etwas ruhiger. Die Enge lässt nach, mehr Raum zum Atmen. Mein Blick fällt auf die Schaufensterdekoration eines Geschäftes, das Blumen und Dinge zum Wohnen anbietet. Zwischen diversen Utensilien steht auch eine Flasche Gin, ein Stück weiter liegen „Einhorn-Kondome“. Schade, dass der Laden mittwochs geschlossen hat. Ich hätte mich drinnen gern weiter umgeschaut. An der nächsten Kreuzung hockt eine Punkerin lächelnd neben ihrem Schäferhund. Die vorbeilaufenden arabischen Männer werfen ihr erstaunte Blicke zu. 

Zeit für einen weiteren Kaffee. Für 1,50 Euro wird in einem gemütlichen Bäcker ein richtig kräftiges Getränk aufgebrüht. Ich sichte noch einmal die Notizen und beobachte die Leute, die Backwaren kaufen. Läuft man die Karl-Marx-Straße und die Sonnenallee einmal auf und ab und achtet bewusst auf jedes Geschäft und jede Werbung, so ist eine sich rasch einstellende Reizüberflutung kein Wunder. Ich schlürfe den aromatischen Kaffee und fühle mich wirklich wie im Urlaub. Und weiter! In einer großen Kneipe befinden sich bereits die ersten Gäste, oder vielleicht haben sie auch die Nacht durchgemacht. Frisch gezapfte Bierchen stehen auf dem Tresen, die Spielautomaten werden gefüttert, aus den Boxen ertönt „Beat it“ von Michael Jackson. „… You better run, you better do what you can. Don’t want to see no blood, don't be a macho man …“ Im Februar 1983 ist dieser Song erschienen. Wie oft werde ich ihn als Kind und Jugendlicher im Radio und auf Kassette gehört haben? 

Nun doch ein wenig melancholisch - oder besser gesagt, irgendwie zwischen Zeit und Raum hängend - schlendere ich weiter in Richtung Hertzbergplatz. Auf der anderen Straßenseite befinden sich nun das Polizeipräsidium, eine Tankstelle und ein Sportplatz. Die Art der Geschäfte hat sich geändert. Vor eine Taxischule plaudern ein paar Männer mit Kaffeebechern in der Hand. Mehrere Backpacker hocken vor einem angesagten „heiligen“ Café. An einem der verbliebenen Handygeschäfte befestigt der auf der Leiter stehende Besitzer eine Girlande mit deutschen Fähnchen. Nachher geht es drum! Gegen Südkorea! 

Vorbei an einem Gesundheitszentrum und einer Akademie, die übersetzt „Gehirnbaum“ heißt, gelange ich schließlich zum Hertzbergplatz, an dem es rechts zum Richardplatz abgeht. Ein letzter Blick in die Runde. Die Minigolf-Anlage, ein Döner-Imbiss und ein Mango-Kokus-Restaurant. Was für ein Schmelztiegel - die Karl-Marx-Straße und die Sonnenallee. Mir ist das einfach zu viel Trubel, da ist mir die Ruhe des „Böhmischen Viertels“ wahrlich lieber. Doch ab und an kann man sich einen ausgedehnten Spaziergang auf diesen beiden Magistralen geben. Mit einem Lächeln erinnere ich mich an meinen allererste Runde. Es war damals vor dem besagten Date an der Apotheke. Ich wollte einen Brief persönlich im Briefkasten der Kroatin werfen. Sonnenallee? Ach einfach mal S-Bahnhof Sonnenallee aussteigen und hochlaufen! Eine niedrige zweistellige Hausnummer? Kein Thema, so lang kann diese Straße doch nicht sein! Hach, denkste, es wurde ein hübscher Marsch!

Fotos: Marco Bertram

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