In kurzen Hosen saß ich auf der staubigen Schwelle der Eingangstür und schaute meiner Mutter zu, wie sie etwas Milch in eine Schale goss und diese auf den Weg vor unserem Holzhaus in Waldesruh stellte. Ich schaute einer Katze zu, wie sie die Milch ausschleckte und strich ihr vorsichtig über das von der Sonne erwärmte Fell. Ich muss knapp drei Jahre alt gewesen sein, und dieser Moment blieb in meinem Gedächtnis fest verankert. Genaus wie mein dritter Geburtstag im August 1976, als im Korridor der Geburtstagstisch aufgebaut war und meine Mutter später dann zu mir meinte: „Ich komm gleich wieder, ich bin nur kurz beim Konsum was einholen!“ Aus dem gleichen Jahr müssten auch die folgenden Erinnerungen stammen. Ich wurde von meinen Eltern mit der Bahn nach Zeesen gebracht, und vor dem Bahnhof wartete bereits mein Opa auf mich. Er umarmte mich und setzte mich anschließend in einen Handwagen. Während meine Eltern zurück nach Ost-Berlin bzw. Waldesruh fuhren, schob mich mein Opa den Kuckucksweg entlang. Das Gefühl beim Hineingesetztwerden und bei der Fahrt auf dem Sandweg hatte sich bis heute tief im Innern erhalten.
Zeesen: Rückkehr an den Ort der frühesten Kindheitserinnerungen (1976)
Ich verstand damals nicht so recht, was passierte und wo ich eigentlich war. Der Weg ähnelte ein wenig dem von Heidemühle rüber zur Friedrichshagener Chaussee, und ich fragte mich, warum wir mit der Eisenbahn dorthin fuhren, wenn Heidemühle doch nur ein Katzensprung von Waldesruh entfernt lag. Ich ahnte ja nicht, dass der Spaziergang (für mich war es ja eine Fahrt im Handwagen) zum Wochenendgrundstück in der Goethestraße führte. Und noch viel weniger ahnte ich, dass ich meine Eltern zwei Wochen lang nicht sehen würde. In den 1970ern flogen sie jeden Sommer in die Ferne. Mal nach Bulgarien, mal nach Rumänien, und einmal auch in den Kaukasus und nach Sotschi. Während dieser Zeit wurde ich stets bei meinen Großeltern abgeliefert. Wobei der Begriff „Großeltern“ schon fast abstrus wirkte, da meine Oma damals gerade einmal 40 Jahre alt war. Sprich fünf Jahre jünger als ich es jetzt bin. Manch eine Passantin war in Berlin-Friedrichsfelde, wo sie ihre Wohnung hatten, immer schockiert, wenn ich meine Oma beim Einkaufen als „Oma“ anredete. Gut und gern hätte sie halt auch meine Mutter sein können.
Der vom Bahnhof Zeesen zum Zeesener See führende Kuckucksweg wirkte für mich als Kind unfassbar lang. Die feuchten Niederungen, die Wiese und die alten Bäume am Wegesrand wollten einfach kein Ende nehmen. Am Goetheweg ging es schließlich rechts rein. Noch ein paar Meter und das recht große Wochenendgrundstück war erreicht. Vorne standen hohe Tannen, hinten verbarg sich ein dunkles Holzhaus mit Veranda und anschließendem Schuppen (das Heiligtum meines Opas). Meine Oma hatte mit Sicherheit bereits im Garten den Tisch gedeckt und mir erst einmal alle Ecken des Hauses gezeigt. Die restlichen Erinnerungen an die frühesten Besuche auf diesem Grundstück sind nur noch bruchstückhaft erhalten geblieben. Einzelne Bilder und Sequenzen. Der Geruch des warmen Holzes, der Geruch der Farben und Öle im Schuppen, der Gang zum Plumpsklo hinter dem Haus, die Holzeiter in der Küche, die zum oberen Schlafbereich des Hauses führte, der kleine in der Ecke stehende Fernseher in der Veranda.
Selbstverständlich war ich auch später als Jugendlicher und Erwachsener dort, bis meine Oma nach dem Tod meines Opa das Grundstück schließlich verkaufte, doch die intensivsten und schönsten Erinnerungen sind diese von den Sommeraufenthalten in den 70ern. Unvergessen, als mich mein Opa das erste Mal an einer waldigen Stelle des Zeesener Sees ins Wasser hob. Ich kannte bis dato nur die Sandstrände des Müggelsees und des Bötzsees, und dieses düstere, begraste Uferstück gruselte mich. Zwar gab es ein Stück weiter auch eine Badestelle, doch meine Großeltern zogen es vor, gleich auf Höhe des endenden Kuckucksweges kurz ins Wasser zu gehen.
Nachdem meine Eltern im Sommer 1980 ihren Skoda gekauft hatten, fuhren wir nie wieder auf dem Schienenweg nach Zeesen, das südlich von Königs Wusterhausen liegt und bis zum 26. Oktober 2003 eine eigene Gemeinde war. Heute gehört Zeesen als Ortsteil zu Königs Wusterhausen. In Zuge dessen musste wohl auch die Goethestraße in Bürgerswalder Straße umbenannt worden sein.
Nach rund 40 Jahren fuhr ich kürzlich das erste Mal wieder mit der Bahn nach Zeesen. Von Berlin-Ostkreuz aus ist es mit der Regionalbahn, die von Eberswalde nach Senftenberg fährt, eine angenehme Tour. Direktes Durchfahren in 23 Minuten. Das Aussteigen am Bahnhof Zeesen war berührend. Die weiße altdeutsche Schrift auf dem Klinkerbau ist noch dieselbe wie damals. Und plötzlich kamen auch die Erinnerung an diese düstere Unterführung hoch. Was soll ich sagen? Der Kuckucksweg wirkte noch genauso wie damals im Sommer 1976. Fast nichts hat sich geändert. Wehmütig spazierte ich bei schönstem Sonnenschein den Weg entlang und ließ meinen Gedanken freien Lauf.
Während die Bürgerswalder Straße (Goethestraße) inzwischen befestigt wurde und kaum noch an früher erinnert, ist der Kuckucksweg bis zum Ende hin noch komplett sandig. Vorbei an der Gärtnerei geht es zum See. Zwischen Erlen und anderen Laubbäumen geht es ans Wasser, wo einzelne Ruderboote liegen. Die Zeit scheint stehengeblieben. Um jedoch einen ganzen Tag dort am Wasser bzw. in der Umgebung zu verbringen - dafür war es noch zu früh. Zu emotional. Lieber eines Tages mit einem Freund oder den eigenen Söhnen wiederkehren. Mit jemanden, mit dem man sich austauschen kann. Als ich so ganz allein am See stand, wurde die Wehmut dann doch zu groß. 40 Jahre. Eine gefühlte Ewigkeit. Und doch andererseits nur ein kurzer Zeitsprung.
Fotos: Marco Bertram
- Brandenburg