× Reiseberichte, Erfahrungen für Reisen nach Lateinamerika, insbesondere Brasilien. Karneval in Rio, Regenwald und Amazonas – der grüne Kontinent steht Euch offen, was interessiert Dich am meisten?

Amazonas in einem Stück befahrbar?

09 Sep 2005 00:53 #1150 von kalleman
Genau meine feststellung. Man sollte portugiesisch koennen und auf die Leute zugehen. Nirgendwo ist es wohl einfacher, einen Kontakt herzustellen. Zudem ist es fuer die Brasilianer unbegreiflich, dass ein einzelner alleine und stumm an einem Tisch sitzt. Na gut, alleine schon zu reisen versteht kein Brasilianer. Aonde esta a tua familia...

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19 Okt 2005 10:05 #1339 von Anonymous
Das klingt nett und süß...
Na gut, wo sonst hätte man auch dermaßen viel Zeit, sich mit den Einheimischen zu unterhalten als auf einem Amazonasschiff. Dort ist man ja quasi gezwungen ins Gespräch zu kommen, ansonsten kann man es gleich bleiben lassen, oder?
Sag mal Kalleman, konntest du große Unterschiede zwischen den Mentalitäten in Nord und Süd erkennen?

Grüße von Denis

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01 Jan 2006 17:02 #2292 von Marco

Bom dia amigos,

da ich das Thema "Amazonas" ganz besonders interessant finde, setzte ich hier mal ein Kapitel über unsere Fahrt von Belém nach Santarém hinein.

Viel Spaß beim Lesen wünscht Marco :D ]




Mit dem Schiff nach Santarém

Es war soweit. Am Abend des 12. Juli sollte das Schiff mit dem klangvollen Namen »Clivia« ablegen und uns nach Santarém bringen. Nach der beeindruckenden Bootstour zum Urwalddorf São Francisco war unsere Vorfreude immens groß. Die Neugierde auf den Regenwald und die Weiten des Amazonas ließen die Befürchtung eines erneuten Zwischenfalls wie die Busentführung dämpfen. Zwar konnte ich mir gut vorstellen, dass kleine, schnelle Motorboote mit finsteren Gestalten von Zeit zu Zeit die Schiffe ansteuern und die Passagiere ausrauben, doch verdrängte die Faszination des Flusses sehr schnell meine Bedenken.
Sechs Stunden vor dem Lösen der Leinen machten wir uns in Belém auf den Weg, um einen guten Schlafplatz auf dem Schiffsdeck zu erhalten. Mit auf einem Markt gekauften Orangen und Keksen liefen Kathrin und ich an den alten Hafengebäuden vorbei zum nummerierten Kai, an dem unser Schiff ablegen sollte. Zwar erklärte uns der Ticketverkäufer, dass man an Bord drei Mahlzeiten bekäme, doch nahmen wir zur Sicherheit ein paar Kleinigkeiten mit.
Endlos zog sich der Hafen hin. Erst nach zwei Kilometern konnten wir das Gelände der Anlegeplätze betreten, nachdem zwei Männer die mit Hand ausgefüllten Tickets kontrollierten und uns den Weg wiesen. Lastkräne und aufgestapelte Metallcontainer sorgten für ein rund um die Welt hafentypisches Erscheinungsbild.
Doch da lagen die weißen Schiffe, die es so nur in Brasilien gibt. Welch ein Anblick. Strahlend weiß angestrichenes Holz und Metall, angebrachte Reifen schützten die Schiffe bei Kollisionen mit der Kaimauer, und auf dem offenen Deck tummelten sich die Leute und schauten zum Ufer hinüber. Die hoch stehende Sonne ließ die weiße Farbe leuchten.
Die Clivia hatte ein Unterdeck, ein Zwischendeck und ein Oberdeck. Unten war die Klasse mit dem niedrigsten Komfort. Dort stank es nach Diesel, laut brummte der Motor, und die Hängematten mussten zwischen den Kisten und Säcken aufgespannt werden. Das Mitteldeck war der Ort des Aufenthalts und Schlafens für die meisten Reisenden. Dort hing eine geflochtene, bunte Matte neben der anderen. Hier waren die Motorengeräusche und der Geruch des Diesels nicht so penetrant. Auf dem Oberdeck befand sich eine kleine Anzahl Schlafkabinen für die gut Betuchten, weiterhin die Kapitänskajüte und die Steuerbrücke. Auf dem hinteren Teil befand sich ein Sonnendeck mit ebenfalls weißen Klappstühlen und Tischen.
Über ein schmales, rutschiges Brett betraten wir die Clivia und wurden sogleich von einer kernigen Frau in Empfang genommen. Streng musterte sie uns, fasste Kathrin an die Schulter und führte sie zwischen den bereits festgemachten Hängematten hindurch zur anderen Seite. Zögernd folgte ich den beiden. Die Frau drehte sich um, ihr Gesichtsausdruck war nun noch ernster, hob die Hand und sagte, dass ich warten soll. Ich rief Kathrin hinterher, doch sie zuckte nur mit ihren Schultern.
Misstrauisch schaute ich mich um. Entsetzt stellte ich fest, dass das Schiff bereits proppenvoll war. Jeder an der Decke befestigte Haken war mit einer Hängemattenschlaufe belegt. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass es üblich war, zwei oder drei Hängematten an einen einzigen Haken anzubringen. Überall waren Hängematten. Hängematten jeder Farbe und jeder Größe. Noch nie zuvor hatte ich dermaßen viele Exemplare auf einem Haufen gesehen. Hinzu kamen die vollgestopften Taschen, Beutel und Tüten. Diese türmten sich unter den Schlafstätten auf den abgetretenen Planken.
Eine niedrige Holzbank stand längs an der Reling. Ich begutachtete sie und nahm sie vorerst in Beschlag. In heiteren Farben malte ich mir die kommenden Nächte aus, denn es war klar, dass noch mehr Passagiere kommen würden. Ich überlegte mir, ob ich auf der schmalen Bank schlafen könnte. Oder doch unter freiem Himmel auf dem Oberdeck? Doch schon verwarf ich diesen Gedanken, fielen mir doch die heftigen Wolkenbrüche und Gewitter ein.
Die kernige Frau ließ nicht lange auf sich warten, mit dem Zeigefinger bohrte sie in der Luft und erklärte mir in barschen Tonfall kurz und knapp: Hier die Männer und dort die Frauen! Es bestand kein Zweifel mehr, das Deck war längs geteilt.
Durch das Gewirr der kreuz und quer hängenden Matten sah ich Kathrin auf der anderen Seite, wie sie sich gerade angeregt mit den neuen Schlafnachbarinnen unterhielt. Die Vorstellung, eingeengt zwischen schnarchenden Männern schlafen zu müssen, gefiel mir überhaupt nicht. Nein, ich wollte auf dem Boden schlafen, auf dem Dach oder auf der harten Holzbank. Es war mir egal, aber nicht inmitten dieses Chaos. Ich dachte an meine winzige Hängematte und sah die nächtliche Katastrophe auf mich zu kommen. Sie würden mir keine Chance geben, keinen Freiraum gewähren und mich als Fremdling zerdrücken. Ich legte meinen Rucksack auf die Bank und bahnte mir einen Weg zu Kathrin, die guter Dinge war und in ihrem Wörterbuch las.
»Was soll denn das? Ich bin völlig bedient. Können wir denn nicht zusammen schlafen? Dort drüben ist gar kein Platz mehr!« polterte es aus mir heraus.
Mit skeptischen Blicken wurde ich von den Frauen betrachtet. Ich war auf der Seite der »mulheres« nicht gern gesehen. Ich war ein »homem« und habe mich auf der Seite der meinesgleichen aufzuhalten. Es gab auf dem Schiff eine strenge Ordnung, und diese galt es einzuhalten. Homem zu homem und mulher zu mulher, bastante!
»Da können wir nichts machen. Es wäre besser, du gehst wieder rüber und suchst dir auch einen Schlafplatz. Wir werden es überleben. Wir treffen uns dann auf dem Oberdeck, okay?« fragte Kathrin.
»Ha, ha. Schlafplatz suchen. Da ist nichts mehr frei. Und das sechs Stunden vor Abfahrt. Ich werde meinen Schlafsack nehmen und oben schlafen. Egal, ob es regnet, ich schlafe im Freien. Auf alle Fälle lege ich mich nicht hier unten hin. Außerdem kannst du meine kleine Hängematte völlig vergessen, die reicht ja nicht einmal von Haken zu Haken!«
Wütend kletterte ich wieder zurück, nahm mein Gepäck und ging anschließend die Metallstufen hinauf zum Oberdeck. Unterdessen wurde das Unterdeck beladen. Säcke und Kisten wurden vom Kai hinuntergereicht. Kräftige, braungebrannte Arme reckten sich nach oben und nahmen die Fracht entgegen. Neben einem Laternenmast stand ein verpackter Kühlschrank, der genauso groß war wie sein daneben stehender Besitzer. Meine Missstimmung verflog wieder, und ich beobachtete das Hafengeschehen.
Kathrin setzte sich kurze Zeit später zu mir und holte die Spielkarten heraus. Wir spielten ein paar Runden, und die grelle Sonne und die hellen Farben des Schiffes ließen meine Augen brennen. Blinzelnd teilte ich die Karten aus. Aufkommende Windböen fegten sie wieder vom Tisch. Es war ein Wunder, dass während der ganzen Fahrt keine einzige Karte ins Wasser fiel. Immer wieder verfingen sie sich in letzter Sekunde an der Reling oder an einem Stuhlbein.
Auf dem Oberdeck gab es einen Kiosk, an dem man Guaranálimonade, Cola, Kekse und Bier kaufen konnte. Die großen, eisgekühlten Flaschen mit der runden Styroporbox. Noch vor Abfahrt holte ich mir das ein oder andere Mal ein kaltes Brahma Choppa und fühlte mich mit der Zeit immer besser. Das Schiff hatte noch gar nicht abgelegt, da kam mir das Oberdeck vertraut und wohlbekannt vor.
Ein Schwarzer schlenderte vom Kiosk geradewegs zu unserem Tisch und fragte auf Englisch, ob er sich zu uns setzen könne. Natürlich könne er, und schon fand ich einen neuen Freund. Schnell waren wir im Gespräch verwickelt, tranken Bier und lachten reichlich. Die Geschichte dieses Mannes war allzu amüsant. Wie er berichtete, kam er aus Ghana und seine Eltern waren äußerst wohlhabend. Er war ein westafrikanischer Kronprinz und befand sich soeben auf einer langen Weltreise, um reichlich Erfahrungen für das spätere Leben zu sammeln.
Lachend stieß er mit mir an und erzählte von seiner Heimat. Afrika sei einfachgehend phantastisch, und ich solle ihn dort einmal besuchen. Ich war begeistert. Er war genauso lustig wie die vielen Schwarzen, die ich häufig am Morgen bei der studentischen Arbeitsvermittlung in Berlin getroffen hatte. Ab und zu arbeitete ich mit Leuten aus Kamerun, Ghana und Benin. Alle hatten eins gemeinsam: Stets lachten sie und waren guter Dinge.
Mein Freund aus Ghana schaute zu Kathrin, die wieder die Treppe zum Mitteldeck hinabstieg, und fragte mich, ob sie meine Freundin sei. Ich nickte, und er klatschte sich auf die Schenkel. Ein feines Mädchen, wirklich ein feines Mädchen, war sein Kommentar. Wieder lachte er herzlichst. Anschließend kam er auf seine Frau zu sprechen, die in Ghana auf ihn wartete. Sie sei genauso wie Kathrin eine tolle Frau. Alle Frauen in Afrika seien hübsch, einfach alle. Er ließ seine strahlend weißen Zähne blinken.
Ich fragte ihn, ob er auch Portugiesisch spreche. Nein, kein einziges Wort. Ich konnte es kaum glauben. Da fuhr jemand mutterseelenallein quer durch Südamerika und sprach nicht ein Wort der dort üblichen Sprache. Auch ich lachte und fragte, weshalb er nicht diese Sprache lernte. Er trank einen Schluck aus seinem Becher und erklärte mir dann, dass er dachte, in Südamerika spreche man Englisch. Mir fiel es schwer, seinen Worten Glauben zu schenken, und ich nahm an, er flaxte mit mir.
In den nächsten drei Tagen stellte sich tatsächlich heraus, dass er nicht einmal »guten Abend« auf Portugiesisch sagen konnte. Es sei nun einmal so, erzählte er mir. Vor der Reise fragte er all seine Freunde in seiner Heimat Ghana, welche Sprachen man in Südamerika und Asien benutzen müsse. Stets erhielt er die gleiche Antwort: Englisch und Französisch. Ohne weitere Vorbereitungen flog dieser Schwarze nach Belém und fuhr mit dem Schiff quer durch Brasilien.
Ich fragte mich, wie es ihm gelang, ein Ticket zu kaufen. Doch schon einen Tag später fand ich die Antwort selbst. Wer so gut drauf war und offen auf die Leute zu ging, der kam immer und überall zurecht. Mit Händen und Füßen und freundlichem Gesicht, in jedem Land, auf jedem Erdteil.
Es wurde dunkel, und der Zeitpunkt der Abfahrt war erreicht. Mittlerweile drängten sich noch mehr Brasilianer auf den unteren Decks. Nun hätte ich auch mit gutem Willen keinen Hängemattenplatz gefunden. Der Schiffsdiesel begann zu brummen, und die Bordbeleuchtung wurde mit einem Schlag heller. Langsam entfernte sich die Clivia vom Kai und bahnte sich schwerfällig ihren Weg durch das dunkelbraune Wasser. Musik dudelte aus dem bis spät in die Nacht geöffneten Kiosk. Mit der Zeit hoben sich die Sterne deutlicher vom Himmel ab.
Bald lag Belém hinter uns, und die dunklen Ufer des Amazonas lagen vor uns. Am Bug des Schiffes schäumte das Wasser, und die Planken bebten vom Motorengeräusch. Über Nacht fuhren wir den Nebenstrom entlang, und erst am nächsten Tag stießen wir auf den Hauptstrom. Der Nebenstrom, der sich später mit dem Rio Tocantins vereint und an Belém vorbeifließt, ist relativ schmal, und die Regenwälder zu beiden Seiten waren ursprünglicher als an den Ufern des Hauptstroms.
Besonders eng wurde es zwischen der Ilha dos Macacos und der riesigen Ilha de Marajo, die im Mündungssystem des Amazonas liegt und mit dem Ostufer auf den Atlantischen Ozean trifft.
Der Amazonas ist ein Kapitel für sich, und man muss sich einfach nur einmal seine Ausmaße vor Augen halten. Er ist der wasserreichste Fluss unseres Planeten, vier zehntel Südamerikas werden von ihm entwässert. Der Rio Amazonas hat zehntausend Nebenflüsse, von denen sage und schreibe siebzehn länger als der Rhein sind und zehn mehr Wasser mit sich führen als der Mississippi! Dieser Fluss ist ein Phänomen und schlägt alle Rekorde. Er ist einzigartig und das Herz des größten Urwaldes der Erde, der »grünen Hölle« Südamerikas.
Die Wassermassen werden mit einer Geschwindigkeit von einem dreiviertel Meter pro Sekunde in Richtung Meer transportiert, 120000 Kubikmeter des nassen Elements fließen in dieser Zeit in den Ozean. Bis zu zehn Kilometer breit und hundert Meter tief ist der Strom. Da er kaum Gefälle hat, sind die Gezeiten des Meeres bis zu siebenhundert Kilometer landeinwärts spürbar. Pegelschwankungen von mehreren Metern bereiten den Bewohnern am Ufer ein schwieriges Leben, zudem stellen die »Pororocas« den kleinen Hütten auf Holzpfählen eine große Gefahr dar. Pororocas sind vier Meter hohe Flutwellen, die mit vierundzwanzig Kilometer pro Stunde ins Landesinnere vorstoßen und Boote und kleinere Schiffe leicht zum Kentern bringen.
Nein, einfach ist das Leben am Amazonas nicht. Doch das Land an den Ufern ist frei. Jeder kann sich dort niederlassen, alle drei Jahre eine neue Hütte bauen. Nach jener Zeit sind spätestens die Balken durchgefault, und sich von Fisch und Bananen ernähren, mit der Gewissheit, dass die Insekten einen tyrannisieren und das Blut aussaugen werden.
Am ersten Abend verweilte ich bis zu später Stunde auf dem Oberdeck und blickte auf den dunklen Wald. Das Schiff fuhr erstaunlich nahe am Ufer, die Konturen der Bäume hoben sich am Sternenhimmel deutlich ab.
Von Zeit zu Zeit tastete der Lichtkegel eines beweglichen Scheinwerfers das Wasser und die Uferregion ab, um Treibholz oder ungebetene Gäste mit kleinen Booten rechtzeitig ausmachen zu können.
An Bord war es ruhig geworden, Kathrin lag längst in ihrer Hängematte, und die Beleuchtung war auf ein Minimum ausgeschaltet. Ich verschob den Augenblick des Schlafengehens immer wieder. Am liebsten hätte ich die ganze Nacht mit dem Betrachten der Sterne und des Ufers verbracht. Mit meinen Augen folgte ich dem kreisenden Lichtkegel und hoffte auf einen Jaguar oder ein anderes Tier, das in Lauerstellung auf einer Baumkrone sitzt und die Uferböschung nach Beute absucht. Mitten in der Nacht siegte die Müdigkeit, und ich stieg mit meinem Gepäck auf das Mitteldeck hinab. Dort angekommen, packte ich meinen Schlafsack aus und legte ihn unter die Hängematten auf den Fußboden.
Die Luft war denkbar schlecht. Es roch nach Schweiß, Öl und gammeligen Sachen. Eingeengt zwischen Taschen und Beuteln verkroch ich mich tief in meinen Schlafsack und blinzelte mit einem Auge an Hängematten und Reling vorbei auf das schnell vorüberziehende Ufer. Zum Glück war das Deck zu beiden Seiten offen, so wehte ab und zu ein frischer Lufthauch durch das Schiff.
Über meinem Kopf bewegten sich die Hängematten, ein Arm oder ein Bein hing ständig hinunter und stieß gegen meinen Körper. Dies außer acht lassend schloss ich die Augen und vernahm leises Schnarchen und schweres Atmen. Mit heftigen Bewegungen drehte sich jemand und stieß die anderen an, was ein verschlafenes Gemurmel zur Folge hatte. Die Brasilianer schliefen nebeneinander, übereinander, dicht gedrängt und ohne Rücksicht auf Verluste. Jeder war sich selbst am nächsten. Aber es ging in Ordnung, niemand beschwerte sich, nie kam es zu Streitereien oder Auseinandersetzungen.
Auf der anderen Deckhälfte schliefen die Frauen und Kinder. Dort sah es nicht viel anders aus. Noch nie hatte ich dermaßen viele schlafende Leute auf so engem Raum gesehen. Leicht schaukelten die Hängematten, und das Schiff vibrierte von der Maschine. Das Wasser des Amazonas rauschte am Bug. Der Mond spiegelte sich auf der Oberfläche.
In der Morgendämmerung wurde ich von einem auf mich tretenden Mann, der meine Anwesenheit nicht bemerkte, geweckt. Mit einem Schlag wurde es lebendig auf Deck. Erstaunt starrten mich die Brasilianer an, als ich mich aus dem Schlafsack zwängte und meine Sachen zusammenpackte. Es war sechs Uhr, und ich fühlte mich wie gerädert. Die Augen brannten. Ein wenig Wasser sollte mich aufmuntern, und so suchte ich ein Waschbecken.
Es gab drei Dinge, die mich auf dem Schiff am meisten beeindruckt haben. Die Kinder, die Mahlzeiten und die sanitären Einrichtungen. Letztere waren ein Fall der besonderen Härte. Toilette und Dusche befanden sich zusammen in engen Räumen. Ein Dusch-WC backbord und ein Dusch-WC steuerbord. Links für das weibliche und rechts für das männliche Geschlecht. Den Kindern war es freigestellt, in welcher Sanitärzelle sie ihre Notdurft verrichten und sich mit trüben, lauwarmen Wasser abspülen.
Dies betraf das Mitteldeck, mit dem Unterdeck hatte man selten etwas zu schaffen. Dort spielte sich ein eigenes Leben ab. Nur auf dem Oberdeck traf man gelegentlich die Passagiere, die unten direkt am Motor zwischen dem Frachtgut schliefen.
Kein Fensterchen sorgte auf der Duschtoilette für ein wenig Sauerstoffzufuhr, und in den Ecken und an den Wänden verharrten schwarze Kakerlaken und braungestreifte Käfer. Im Vergleich zu den Innentemperaturen war es draußen an der Reling angenehm kühl. Die unglaublich feuchtheiße Luft trieb dem Toilettenbenutzer den Schweiß aus allen Poren, und der widerliche Gestank nach Fäkalien verschlug einem den Atem.
Ich hatte keine Badelatschen dabei und musste somit barfuß duschen. Breitbeinig und auf Zehenspitzen stand ich über dem Klobecken und ließ das Wasser an meinem Körper hinunterrieseln. Die Nacht auf dem Boden verlieh mir den Geruch der Schiffsplanken, und so blieb mir nichts anderes übrig, als die Zähne zusammenzubeißen und die Nasszelle zu benutzen. Das Wasser sammelte sich auf dem schmutzigen Boden und trommelte auf den lädierten Klodeckel. Mit einem Mal knackte es unter meinen Füßen und ich stellte fest, dass ich den Panzer eines Käfers zertreten hatte. Grenzenloser Ekel ließ mich fast erbrechen.
Der Moment der Türöffnung war eine Befreiung. Frische Luft schlug mir entgegen, und ich sah anstatt des verdreckten Elends den saftig grünen Wald und das bewegte Wasser des Amazonas. Wellen schwappten ans Ufer und kleine Inseln, die nur aus Pflanzen bestanden, trieben am Schiff vorbei. An der hölzernen Außenwand der Kabinen hingen zwei Handwaschbecken, an dem man sich die Zähne putzen konnte. Ein gesprungener, fleckiger Spiegel war über dem Wasserhahn befestigt. Das Wasser hatte eine bräunliche Färbung, die verriet, dass es direkt aus dem Fluss hochgepumpt wurde. Gleich neben dem Spiegel hing ein rot umrandetes Plakat, auf dem auf Cholera hingewiesen wurde, die besonders in den westlichen Regionen Amazoniens vereinzelt auftritt und schwerste Durchfallerkrankungen hervorruft.
Trinke niemals das Wasser des Amazonas! Die schwarzen Buchstaben an der Kajütenwand warnten ausdrücklich davor. Für jenen Zweck standen Plastikbottiche zur Verfügung, die an den Häfen verladen und auf den Decks für die Passagiere bereitgestellt wurden. Die Einwegplastikbecher zum Trinken warfen die Leute wie auch die sonstigen Abfälle achtlos in die Fluten. Einige Meter tanzten die weißen Becher auf den Wellen und gingen dann im Fluss unter, um dort auf dem schlammigen Grund viele Jahre lang unbeschadet zu liegen.
Für die Fische war es ein Festmahl, als nach dem Mittag- und Abendessen das Küchenpersonal die Fleischreste ins Wasser kippte. Das Frühstück fiel für Mensch und Fisch eher mager aus. Neben Milch und Kaffee gab es trockene Kekse und Butter. Die Mahlzeiten an Bord waren ein festes Ritual. Es war keine Überraschung, dass auch das Essen von Frauen und Männern getrennt eingenommen wurde. Am ersten Morgen setzte ich mich einfach zu Kathrin an den Frauentisch. Zuerst beließen es die Frauen bei ernsten Blicken und Tuscheleien, doch beim nächsten Mal wurde ich aufgefordert, auf die andere Seite zu gehen. Proteste und Einwände meinerseits halfen nicht. Es war egal, ob Kathrin meine Freundin war oder nicht.
Zu den festgelegten Essenszeiten befestigten die Leute einen Teil der Hängematten an der Decke, und ein langer Tisch und zwei schmale Holzbänke konnten aufgebaut werden. Auf dem Mitteldeck waren zwei Männer für die Versorgung der Passagiere zuständig. Flink legten sie Teller und Besteck auf den Tisch und schoben die Bänke zurecht. Die ersten Hungrigen warteten schon in unmittelbarer Umgebung, aber wehe, es hätte sich einer von ihnen vorzeitig hingesetzt. Erst auf Handzeichen des kräftigen Küchenbullen durfte ein Platz eingenommen werden.
Beim Frühstück glichen die finster aussehenden Brasilianer mit Tätowierungen, Dreitagebart und Goldketten kleinen Kindern. Sie alberten herum, lachten, tranken warme, gesüßte Milch, die in roten Plastikkanistern serviert wurde, und stopften sich die in aller Eile mit Butter beschmierte Kekse in sich hinein. Den Tisch nicht aus den Augen lassend, warteten schon die nächsten auf ihr Frühstück. Gegessen wurde in drei bis vier Schichten. Noch amüsanter ging es bei den warmen Mahlzeiten zu. Man musste schnell sein, um nicht ausgelassen zu werden. Die Männer schaufelten sich Reis, Bohnen und Fleisch bergeweise auf ihre Teller und aßen anschließend hastig die an jedem Tag übliche Speise. Mittags und abends gab es immer die gleiche Zusammensetzung, doch den Leuten schmeckte es, und sie streuten Farinha in rauhen Mengen auf die Reishaufen.
Viel Zeit zum Essen blieb nicht, denn nach zehn Minuten kam der Mann mit der Schürze und deckte ab. Ein Schlachtfeld hinter sich lassend, standen die Männer auf und verschwanden irgendwo auf dem Schiff. Meistens standen hinter den Speisenden weitere Bordgäste, die ungeduldig darauf warteten, dass man fertig wurde. Der Schürzenmann hatte stets schlechte Laune, verzog sein Gesicht beim täglichen Anblick der Sauerei, wischte mit einem Scheuerlappen die verteilten Reste auf dem Tisch zusammen, schob sie auf einen Teller und warf sie in den Fluss. Augenblicke später standen die abgespülten, noch feuchten Teller wieder auf dem alten Platz, und die nächste Runde konnte per Handzeichen begonnen werden.
Kritisch ging es zu, als Geflügel serviert wurde. Schnell lagen nur noch zerbrochene Knochen und Hautfetzen der gebratenen Hühnchen auf dem Holztisch verstreut. Mein Teller war an jenem Tag nur spärlich mit Reis und Bohnen gefüllt. Zwar lebte ich mich schnell ein, tat es beim Zugreifen den Brasilianern gleich und hatte eine Menge Spaß, doch musste an manchen Abenden der Magen mit gekauften Schokoladenkeksen gefüllt werden, da es einfach nicht möglich war, schnell genug zu essen. Kaum hatte man mühsam Fleisch und Reis ergattert, als die Hälfte davon den Fischen zum Fraß vorgeworfen wurde. Diese plätscherten im Wasser und balgten sich.
Generell aßen die Kinder bei den Müttern mit, da es bei ihnen ein wenig sittlicher zu ging. Bei den Männern wurde keine Rücksicht genommen. Ich hatte zwei Brasilianer kennengelernt, die gut befreundet waren und den ganzen Tag zusammen auf dem Oberdeck verbrachten. Bei den abendlichen Bratnudeln zählte die Freundschaft nicht mehr. Lachend nahm sich der eine den ganzen Restinhalt der Schüssel und knallte dem anderen diese zum Hohn auf den Tisch. Erstaunlicherweise lachte auch dieser und aß ohne zu murren trockenen Reis mit Farinha.
Nach dem Essen suchten mich die Kinder stets auf dem Oberdeck auf, damit ich ihnen etwas aufzeichnete oder zeigte, und sie mir anschließend die portugiesische Bedeutung erklären konnten. Sie hatten viel Spaß dabei und waren für mich die besten Sprachlehrer, denn kein Erwachsener hätte so viel Geduld und Ausdauer gehabt, mir hundertfach zu erzählen, dass Löffel auf portugiesisch »colher« und Milch »leite« heißt. Ich saß auf einem sonnigen Platz, und die Kinder mit den braunen Augen und dunklen Haaren standen interessiert um mich herum oder ließen sich von mir auf den Schoß nehmen. Grinsend kam ein kleiner frecher Junge mit einem Teelöffel, hielt ihn mir unter die Nase und fragte mich nach dem Namen. Colher, colher, colher ...
Er kicherte, zeigte auf den Wald und stellte die nächste Frage. Auf einen Bogen Papier zeichnete ich die Weltkarte und erklärte anhand dieser, wo Europa und Brasilien liegen. Nun war ich der Lehrer, und die Kinder lauschten gespannt. Einige Male schrieb ich meinen Namen auf das Papier. Es half nichts, für sie hieß ich weiterhin Marcos statt Marco. Ich hatte keinen Brasilianer kennengelernt, der meinen Namen richtig aussprach.
Da war die zehnjährige Karina Marques de Aservedo. Lächelnd wie eine junge Dame blätterte sie in meinem Sprachführer und zeigte auf die portugiesischen Begriffe. Meine Aufgabe war es, das dazugehörige deutsche Wort vorzulesen. Sie lauschte, nahm mir das Buch aus der Hand und suchte einen neuen Begriff.
»Aqui! Bacalhau!« sagte sie und schaute mir erwartungsvoll in die Augen.
»Stockfisch.«
»Como?« rief Karina und lachte.
»Stockfisch.«
Nicht nur in unseren Ohren klingt dieses Wort lustig, und immer wieder musste ich es ihr vorlesen. Wenn ich mir den Spaß machte und einfach etwas anderes sagte, zog sie an meinem Arm.
»Não! Bacalhau!«
»Stockfisch.«
»Ah ...«
Die kleine Karina Marques zupfte eines Nachmittags an meinem T-Shirt und erzählte in einfachen Sätzen, dass ich sie später heiraten könnte. Wenn sie größer sei, sollte ich zurück nach Brasilien in die Stadt Manaus kommen, sie würde auf mich warten. Gerührt nahm ich das Notizbuch und ließ Karina die Adresse einschreiben. Mit sorgfältig gemalten Buchstaben füllte sie vier Zeilen des Heftchens und reichte es mir anschließend. Sie schaute mich etwas traurig an und verschwand mit den anderen Jungen auf dem Mitteldeck. Zum Abschied bastelten mir die Kinder ein Papierhütchen und schrieben ihre Namen und Kringel auf die Seiten. Renan Mesquita, Roberto d´ Avila nuner Lima, Helamã ...
Nur ihr Name fehlte auf dem Hütchen. Zwar sah ich Karina noch einige Male auf Deck, aber sie sprach kein Wort mehr zu mir. Sie lächelte im Vorbeigehen mit halb geschlossenen Augen, und ich wusste, dass sie eines Tages eine attraktive Frau sein würde.

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09 Feb 2006 22:41 #2999 von flo

Marco schrieb: von Belém aus fährt eigentlich fast jeden Tag ein Schiff in Richtung Manaus und Santarém.
And don´t forget: Die Hängematte!

Nun ja, nicht mehr! Bin grad im belem am Durchfragen... und brauche diese Infos. Schiffe fahren nur noch je eines Montag, Dienstag, Mittwoch (deren 2) und Freitag...

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10 Feb 2006 02:09 #3001 von Thommy O.
Aber gibt es nicht mehr die etwas kleineren Boote? Da gab es damals jeden Tag eines...

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15 Feb 2006 14:20 #3019 von kalleman
Aber es gibt doch noch jenste Boote, die nur Teilstrecken fahren. Z.B. Belem-Monte-Alegre oder belem_Santarem. Sind eh meist schneller als die grossen.

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15 Feb 2006 15:27 #3022 von Thommy O.
Es gibt super viele Boote. Es gibt auch die, die ueberall halten, ansich nur Dinge transportieren, aber auch gerne etwas dazuverdienen. Ein Freund ist damals zwei Monate durch die Gegend gefahren und alles ausgetestet...

Aber wie nun die Abfahrtszeiten sind - wenn man denkt, alles ist vorbei, dann erst kommt die Loesung, Brasilien halt.

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