Der Weg zum Dreiländereck war nicht leicht finden, und da wir nicht den allergrößten Wert darauf legten, unbedingt vom genauen Messpunkt aus zu starten, kehrten wir um und folgten dem Kolonnenweg in Richtung Posseck und Gassenreuth. Die Sonne neigte sich langsam dem Horizont, und somit beschlossen wir, in der Nähe von Posseck unser Zelt aufzubauen und im Ort ein Gasthaus aufzusuchen. Aus dem Abend im Gasthaus wurde nichts, und nur mit Glück konnten wir einen versteckten Getränkestützpunkt ausfindig machen. Am zentralen Dorfplatz fragten wir einen Jugendlichen, der zufällig der Sohn der Familie war, die diese Einnahmequelle nebenbei führte.
Wandern auf dem grünen Band: Witzige Erlebnisse am einstigen Grenzstreifen
»Ja, meine Eltern haben einen Getränkestützpunkt. Gleich oben nach links. Das letzte weiße Haus. Geht erst einmal vor. Ich muss noch ein Schaf einfangen. Ihr habt nicht zufällig ein entlaufenes Schaf gesehen?«
Wir verneinten und schlenderten zum besagten Grundstück, wo uns ein Hund freudig bellend empfing. Weiterhin fuhr ein Kleintransporter vor, aus dem ein Mann mit einem Schaf auf dem Arm ausstieg und es in einen Schuppen schleppte. Eine jüngere Frau bat uns ins Haus und fragte, was wir denn wünschen. Wir fragten nach gekühlten Getränken, und sie gab keuchend Auskunft. Auch sie nahm kurz zuvor an der Jagd nach dem entlaufenen Schaf teil.
»Ja, sofort. Puh, welch eine Hitze heute. Ich muss mich erst einmal setzen. Was für eine Anstrengung ...«
Ihr Kreislauf drohte zu kollabieren. Sie schnaufte und prustete und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Gekühlt? Da habe ich nur Radler und Wasser. Kein Bier. Das ist aus«, erklärte sie, nachdem sie sich zum Kühlschrank schleppte und einen Blick hineinwarf.
Radler, Wasser und ein sächsisches Joghurt-Molke-Getränk taten es auch. Karsten und ich waren froh, überhaupt etwas zu Trinken bekommen zu haben. Wir bedankten uns und suchten an der kleinen Asphaltstraße, die von Posseck zum oberfränkischen Nentschau führte, einen geeigneten Platz für unser Zelt. In unmittelbarer Nähe zum Grenzstreifen konnten wir eine Wiese ausfindigmachen, die zwar ein wenig verkrautet war, aber in erreichbarer Nähe die einzige Möglichkeit darstellte, ein Zelt ungestört aufzubauen. Die Straße war kaum befahren, und ganz in der Nähe befand sich sogar eine Picknickbank mit einem Holztisch. Die in Oelsnitz nicht ganz so schön begonnene Tagesetappe fand am ersten Abend doch einen guten Abschluss. Bei gekühlten Getränken saßen wir auf der Bank und betrachteten den stimmungsvollen Sonnenuntergang.
Beim Aufbau des Zeltes musste ich an die Minen denken, die sich bis Mitte der 80er Jahre an der deutsch-deutschen Grenze befanden. Mir fiel ein Artikel des Nachrichtenmagazins Spiegel aus dem Jahr 2001 ein, in dem zu lesen war, dass sich noch immer nicht geräumte, durch Witterung versetzte Minen an der ehemaligen Grenze befinden können. Beim Einstechen der Zeltheringe in den steinigen Boden, war mir nicht ganz wohl. Wir nahmen uns vor, in Zukunft möglichst etwas abseits des Grenzgebiets zu zelten.
Am Abend erreichte Karsten ein Anruf eines Journalisten der für die regionalen Zeitungen Frankenpost und Vogtländer Anzeiger arbeitete. Er wollte uns unbedingt am kommenden Morgen am Dreiländereck fotografieren und uns zum Vorhaben befragen. Damit wir nicht die fünf Kilometer zurücklaufen müssten, hole er uns am Morgen gegen neun Uhr in Posseck ab.
Somit war es uns doch noch möglich, die Lichtung am einstigen Dreiländereck der Staaten DDR, BRD und CSSR zu begutachten. Wie uns der Journalist mitteilte, sei es nur von bayerischer Seite möglich, problemlos mit dem Fahrzeug zum Dreiländereck zu gelangen. Auf bayerischer Seite befand sich sogar ein kleiner, ausgeschilderter Parkplatz nahe der Lichtung. Hohe, dunkle Bäume umgaben die Wiese, an der sich am Rande ein Holzkreuz mit aufgesetztem Stahlhelm befand. Der Stahlhelm wurde die vergangenen Jahre einige Male gestohlen und musste stets durch ein neues Exemplar ersetzt werden. Das Kreuz erinnerte an einen unbekannten Soldaten und wurde im Juli 1945 aufgestellt.
Ein Stück weiter standen Schilder, die auf die Staatsgrenze zur tschechischen Republik hinwiesen. Vor einem Staatsgrenze-Schild postierten Karsten und ich uns mit unseren Rucksäcken, und der Journalist fertigte ein paar Aufnahmen für den Artikel des darauffolgenden Tages an.
»Etwas freundlicher, bitte! Die Wanderung fängt schließlich erst an!« rief der Journalist und gab weitere Anweisungen, wie wir uns an das Schild zu stellen hatten.
Nach der Beantwortung einiger Fragen wollte er uns nach Posseck zurückbringen, damit wir die ersten Grenzkilometer nicht noch einmal zurücklegen müssten. Auf unsere Bitte hin machten wir einen Abstecher über eine Bäckerei in der kleinen oberfränkischen Ortschaft Nentschau. Bereits am ersten Tag war eindeutig erkennbar, dass die Versorgung mit Wasser und Essen während der kommenden Wochen nicht so einfach sein würde, und somit wollten wir uns in der Bäckerei mit Kuchen, Brötchen und Getränken für die anstehende Etappe eindecken.
»Na, die jungen Herrn können ruhig vortreten. Sie haben ja noch eine Menge vor sich. Ein Stück Kuchen zur Stärkung ist doch genau das richtige. Gehen sie ruhig mal, ach, wir haben Zeit ...« erklärte eine ältere Kundin in der Nentschauer Bäckerei, nachdem der Journalist allen Anwesenden von unserem Vorhaben berichtet hatte.
Auf Holzbrettern wurden große runde Kuchen im vorderen Bereich der Bäckerei abgelegt, mit einem Messer geachtelt und noch warm verkauft.
»Hier wird noch selbst gebacken, greifen sie zu!« erklärte man uns.
Später im Auto erklärte uns der Journalist der Frankenpost, dass die Bäckerei weit und breit der letzte Laden sei. Ansonsten hätten alle kleinen Geschäfte zugemacht. Mittlerweile sei es nur in den Supermärkten außerhalb der Ortschaften möglich, die Dinge für den Alltag zu erwerben.
»Das ist besonders bitter für die älteren Leute. Solch ein Laden ist doch auch ein Treffpunkt, in dem sich das halbe Dorf trifft und plauscht. Das geht nun alles vor die Hunde. Drüben auf vogtländischer Seite gibt es in Posseck gar kein Geschäft mehr. Die kommen jetzt extra hier rüber, um Kuchen zu kaufen. Die Bäckerei ist richtig berühmt in dieser Ecke«, erklärte er.
Auf meine Frage, ob diese Region nach der Grenzöffnung zusammengewachsen sei, gab er zu bedenken:
»Nicht wirklich, viele hier in Oberfranken sehen es nicht gern, wenn die von der vogtländischen Seite hier arbeiten. Viele sind der Meinung, dass die Pendler ihnen die Arbeit wegnehmen. Das ist natürlich völliger Blödsinn. Niemand nimmt jemanden die Arbeit weg, aber zusammengewachsen sind Ost und West noch nicht. Ich merke das ja täglich, da ich für zwei Zeitungen arbeite. Hier für die Frankenpost, und dort für den Vogtlandanzeiger. Eigentlich müsste man eine gemeinsame Zeitung herausbringen!«
Mit Milch, Brötchen, Saft, klitschigen Kuchen und neuen Erkenntnissen machten wir uns in Posseck auf den Weg. Der Journalist machte noch ein paar Fotos von uns auf dem Kolonnenweg, und anschließend trennten sich unsere Wege. Die Kamera lässig in der Hand schlenderte er auf den Betonplatten zurück nach Posseck. Die Sonne stand inzwischen hoch, und es versprach ein außerordentlich heißer Tag zu werden.
An einer Bank legten wir eine kurze Pause ein und machten uns über den fränkischen Pflaumenkuchen her, der vor Streuseln, Zucker und Butter nur so strotzte. In der heißen Sonne war dieser Kuchen nicht das passende Essen, und nach einigen Bissen warf ich das süße Gebäck den Vögeln und Insekten im einstigen, mittlerweile zugewucherten Kfz-Sperrgraben zu. Diese Graben, die mit Betonplatten befestigt wurden, waren nun optimale Sonnenplätze für Eidechsen und Schlangen. Der Beton war mittlerweile brüchig, und kleine Birken wuchsen aus den Spalten zwischen den Platten. Der Kolonnenweg war dagegen auf dem sächsischen Abschnitt tatsächlich gemäht und machte einen gepflegten Eindruck. Erde und Gras füllten mittlerweile die Löcher in den Platten, und somit kamen wir die ersten Kilometer gut voran.
Bis Blosenberg hielten wir uns exakt am einstigen Grenzverlauf, dort mussten wir jedoch erstmalig auf eine Landstraße ausweichen, da die Autobahn 72 zu überqueren war. Diese Art von Problem sollte während der Tour in Richtung Priwall noch einige Male auftauchen. Da unsere Wasservorräte bei diesem heißen Wetter schnell sanken, sprachen wir in Heinersgrün einen Mann in seinem Grundstück an, ob er uns nicht Leitungswasser abfüllen könnte. Bereitwillig ging er mit den leeren Plastikflaschen ins Haus und kehrte wenige Minuten später mit dem kühlen Wasser wieder.
»Das ist das Beste, was man zum Trinken bekommen kann. Kaltes, frisches, vogtländisches Wasser aus dem eigenen Tiefbrunnen. Wo soll es eigentlich hingehen, Jungs?«
So fertig und durchgeschwitzt, wie wir bereits am zweiten Tag aussahen, hatten wir kein gutes Gefühl, bereits zu solch einem Zeitpunkt der Tour von unserem Endziel zu berichten. Wir taten es trotzdem und ernteten nur ein erstauntes Kopfschütteln.
Wir wanderten die Landstraße weiter nach Kandelhof und Gutenfürst Vorstadt, wo sich eine riesige ehemalige LPG langzog. Dort bogen wir nach links ab, überquerten eine Eisenbahnlinie und stießen wieder auf den Kolonnenweg, auf dem sich wenige Kilometer weiter das Bild grundsätzlich änderte. Das Dreiländereck von Bayern, Sachsen und Thüringen war erreicht, und ein Weitergehen auf dem Kolonnenweg war an dieser Stelle ein Ding der Unmöglichkeit. Schlagartig wucherten meterhohes Gras, Wacholder und dorniges Gestrüpp zwischen und auf den Betonplatten.
Wir hofften, dass der ehemalige Grenzstreifen nicht die kommenden hunderte Kilometer so aussehen möge und wichen auf eine grüne, gemähte Wiese aus, auf der sich einst der Kfz-Sperrgraben und der Minenstreifen befand. Da war er wieder, der Argwohn, es könnte doch noch eine Mine übrig geblieben sein und gerade jetzt zu Tage treten, nachdem sie vielleicht jahrelang tief in der Erde verborgen blieb...
Anmerkung: Der Text entstammt aus dem Tagebuch, das während und nach der Wanderung geschrieben wurde. Im Sommer 2003 ging es für Karsten Höft und Marco Bertram zu Fuß von Prex nach Priwall. Über 1.000 Kilometer entlang der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze. Während der sechswöchigen Tour entstanden über 3.000 Dias, die später in einer Wanderausstellung und in den Diavortrag einflossen. Beide - Ausstellung und Diavortrag - sind aktuell zu sehen. Zu den Infos:
> zur turus-Fotostrecke: deutsch-deutsche Grenze
> Infos zur Wanderausstellung: Bereits Gras über der deutsch-deutschen Grenze?
> Infos zum Diavortrag: Zu Fuß von Prex nach Priwall
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