Flüchten Fans in ein selbstgemachtes Paradies fern der Profimannschaften? Gibt es eine spürbare Zunahme bei ultraorientierten Gruppen? Wie verändert sich in Deutschland das Fandasein? Eine Standortbestimmung gab es am Samstag auf dem Fankongress Berlin 2012 im Kosmos. Auf dem Podium des kleinen Kinosaals 5 fanden sich Referenten ein, die einiges zu berichten hatten und eine muntere Diskussion in Gang brachten. Moderiert wurde die Veranstaltung vom charismatischen Sozialarbeiter Thomas Thiele, der im grünen Sweatshirt ein Blickfang war. Grün wie das Grün seines Lieblingsvereins Celtic FC – wie sich im Laufe der Diskussion herausstellen sollte.
Details vom Fankongress: Identifizieren sich junge Fans über die Fankurve?
Als erstes zu Wort kam Peter Czoch, der an der Humboldt Universität zu Berlin das Seminar „Ultras in Deutschland“ leitet. Die Hauptfrage sei, womit identifizieren sich eigentlich Fans? Freundschaften, Cliquen, mit Freunden gemeinsame Erlebnisse haben, Kämpfe mit anderen Gruppen ausfechten – für die aktive Fanszene der jeweiligen Vereine der Aufhänger? Man sollte die Bilder von damals und heute vergleichen, so Czoch. Die Fanszene sei bunter geworden. Allerdings sehen sich zahlreiche Fußballfans als reine Konsumenten degradiert. Die Kommerzialisierung müsse kritisch hinterfragt werden. Entwickelt haben sich Parallelstrukturen. Es liege ganz klar auf der Hand, dass sich junge Fans / Ultras eher mit der eigenen Gruppierung identifizieren. Man habe sich von alten Werten entfernt, von daher sei eine Lücke entstanden.
Alexander Cierpka ist Diplompolitologe war bereits beim Neuen Deutschland tätig und arbeitet derzeit in der Redaktion von Beckmann. Als zweiter Referent gab er ein Statement zur derzeitigen Entwicklung ab. Der Wandel sei zeitgleich mit der Kommerzialisierung erfolgt, so Cierpka. Für Ultras und Fans gebe es gar keine andere Möglichkeit, als sich über die eigenen Gruppen zu identifizieren. Spieler, Manager, Präsidien gehen am laufenden Band. Union Berlin sei vielleicht hierbei eine kleine Ausnahme. So oder so, für junge Leute sei eine attraktive Subkultur entstanden.
Ob er Angst habe, dass etwas flöten gehe könne. Diese Frage wurde an Unions Urgestein Stefan Hupe, Sportfotograf bei den Eisernen, gestellt. Er sehe nicht die großen Unterschiede von damals und heute. Er war damals in den 70ern nicht zum 1. FC Union gegangen, weil die dort so tollen Fußball gespielt hatten. Da hätte er woanders hingehen müssen. Vielmehr traf Hupe dort in Berlin-Köpenick all die Dinge, die er cool fand. Coole Musik. Dufte Kumpels. Ältere Jungs, zu denen man aufschauen konnte. Saufen. Einfach zusammen sein. 1976 ging er das erste Mal zu einem Spiel im Stadion An der Alten Försterei. Er hatte dort gefunden, was er mochte. So einfach war das. Das war damals so und sei heute doch nicht viel anders, so Hupe. Es gab auch damals eine Identität, nicht weil Union so geil war, sondern weil man Leute im Block fand, mit denen man durch dick und dünn gehen konnte. Das Ganze hatte einen familiären Touch. Gemeinsam sei man durch die DDR getourt – und auch mal zum Intertoto-Cup nach Prag.
Einen Unterschied sieht allerdings auch Stefan Hupe. Ultras neigen dazu, sich als elitär anzusehen. Das komme nicht immer gut an. Da die Senioren-Union, dort der Ultrà-Block. Hey, meinte Hupe, das bekomme man alles gemeinsam hin! Egal ob Kutte oder Ultra!
Union sei allerdings ein eher kleinerer Verein, wand Alexander Cierpka ein. Verglichen mit den großen Bundesligisten wie der FC Bayern München, der FC Schalke 04, der Hamburger SV oder auch Hertha BSC. Die Frage sei, wie schaffen es all die anderen Fanszenen? Man müsse Lehren aus der Pyrotechnik-Debatte ziehen. Schließlich stehe die Stehplatz-Debatte kurz bevor!
Gutes Stichwort. Wie sieht es eigentlich derzeit beim F.C. Hansa Rostock aus? Wie sind dort die Entwicklungen? Gefragt wurde Uwe Busch von hansafans.de. Seit Ende der 90er Jahre lebt Uwe Busch in Rostock und besucht seit jeher intensiv die Spiele des FC Hansa. Er kam genau zu jenem Zeitpunkt, als zu Beginn des neuen Jahrtausends vor Ort die Suptras ins Leben gerufen wurden. Der Vereins stand damals den Jungs von den Suptras völlig teilnahmslos gegenüber. Man ließ die Suptras anfangs einfach gewähren. Zwischenzeitlich gab es eine Zusammenarbeit, später wurden Gespräche kurzerhand beendet. Immer wieder kam es zum Wechsel der Vereinsführung. Einen völligen Bruch gab es, als aus dem geliebten Ostseestadion die DKB-Arena wurde. Lass die mal machen, der Verein sind wir, war nun die Meinung zahlreicher jüngerer Fans. Erst später wurden Fans / Ultras auch wieder in der Vereinsarbeit aktiv, so Uwe Busch. 2008 wurde sogar ein Fanvertreter in den Aufsichtsrat gewählt. Mit den Stimmen der Ultras. Zudem wurde das alte Vereinslogo wieder zurückerkämpft. Man sehe durchaus, dass auch der Verein als solches bei den Fans eine Rolle spielt. Eine Zeitlang sei es im Block kleidungstechnisch sehr schwarz gewesen, in letzter Zeit seien wieder verstärkt die Vereinsfarben blau und weiß in die Blöcke zurückgekehrt. Das sei erfreulich, so der Autor von hansafans.de. Mit dem neuen Vorstand gebe es auch wieder einen Dialog. Mit Bernd Hofmann sei möglich was zuvor mit Dirk Grabow nicht möglich war. Gespräche. Zwar gehöre derzeit die Südtribüne bis zum Ende der Saison der Geschichte an, doch prinzipiell gebe es Hoffnung auf eine positive Entwicklung beim FCH.
Jemand aus dem Publikum hinterfragte nun die Werte. Was seien denn die wahren Werte eines Fußballklubs? Berufung auf alte Werte? Das könne bei manchen Vereinen schwierig werden. Das Beispiel FC St. Pauli wurde angeführt. Stichwort Judenvertreibung während des Dritten Reichs. Der FC St. Pauli habe damals eine schlechtere Rolle gespielt als der HSV. Oder der TSV 1860 München, der gern als Arbeiterverein angesehen wird. Man solle nicht vergessen, dass 1860 einst der reichere Klub in München und somit eines der Gründesmitglieder der Bundesliga war.
Alexander Cierpka fragte indes: Wie könne man die Fankultur generell besser verkaufen. In den Redaktionen fehle häufig das Verständnis. Beispiel der Schweinske-Cup 2012 in Hamburg. Dort habe es gescheppert, weil Fans ihre Fahnen verteidigt haben. Gescheppert? In Cierpkas Redaktion bekamen die Kollegen große Augen.
Volker Goll, der das Fanprojekt der Kickers Offenbach mit aufgebaut hatte und der IG Stadionbau angehört, erklärte indes, dass er nicht der Meinung sei, dass früher alles besser war, wie so häufig zu vernehmen sei. Das Zugpferd sei nach wie vor der Fanblock. Ein guter Zustand der Fanszene sei fast wichtiger als der Vereinszustand. Früher gab es mehr körperliche Auseinandersetzungen, dann kamen die Choreos. Es sei wichtig die Sache mit Alt und Neu zu besprechen. Old school versus junge Ultrà-Kultur? Es mache wenig Sinn, beides einfach nur gegenüberzustellen.
Zudem habe man schon immer gegen Dummheit im Vorstand gekämpft. Von denen in der Vereinsspitze wurde man immer nur als Kutte vom Kiosk angesehen. Das habe sich auch später wenig geändert. Schlaue Vereine sprechen mit ihren Fans, denn hätten die Offenbacher Fans nicht jahrelang gekämpft, hätte man jetzt beim OFC ein Drecksloch. Habe man jetzt jedoch nicht. Man müsse einiges aus der Jugendprotestkultur übernehmen. Wichtig seien Schlüsselpersonen, denn bereits mit wenigen Personen könne man verdammt viel erreichen, so Goll. Früher habe man dagegen stets gedacht, es mache eh keinen Sinn vorzusprechen. Die Ziele seien natürlich bei jedem Verein anders. Beim VfB Stuttgart kämpften die Fans für das alte Logo von 1893, woanders gebe es dagegen ganz andere Prioritäten.
Apropos. Vereinslogo. Ein Fan meldete sich zu Wort. Auch bei Hertha BSC kämpfe die Ostkurve für das alte runde Logo ohne die Umrandung, merkte er an. So etwas sei eine wichtige Basis für die Identifikation.
Zurück zu Hansa Rostock. Dort gebe es derzeit einen radikalen Umbruch in den Fanblöcken. Und trotzdem fänden sich alle zusammen, denn schließlich ist der FC Hansa im Norden der einzige Verein, so Uwe Busch. Das war schon zu DDR-Zeiten so. In den Bezirken Rostock, Neubrandenburg und Schwerin gab es nur eine Kraft: Hansa Rostock. Einen gewissen Einfluss haben zudem die älteren Fans, wenn gleich es von außen betrachtet wirke, die jungen Fans und Ultras machen komplett ihr eigenes Ding.
Die abschließenden Anmerkungen aus der Runde: Heute sei einiges leichter. So auch bei Borussia Dortmund. Die dortigen Ultras hatten eine Lücke gefüllt, weil viel Scheiße lief. Zuvor gab es kaum eine richtige Fanszene mehr. Allerdings sollen die Ultras nicht das Rad überdrehen. Alexander Cierpka empfahl, die Fans sollen mehr mit den Medien arbeiten. Sie sollen sich einfach trauen, denen was zu sagen. Wer sind denn die wahren Experten auf diesem Gebiet? Die Fußballfans! Volker Goll ergänzte, dass die Fans Geschichte machen. Chroniken, Traditionspflege – da machen manche 20-jährige mehr als ein Verwaltungsrat! Zudem soll man nicht vergessen, wie alles anfing. Eine erste Demo von 300 Fans, die für den Erhalt der Stehplätze demonstrierten. Dann die Fandemo 2010 in Berlin mit tausenden Teilnehmern. Was für ein Anwachsen. Und nun ein eigener Fankongress. Solche Dinge seien extrem wichtig, denn man wolle an die Stehplätze ran.
Thomas Thiele erklärte nun, was ihn bereits seit einer halben Stunde auf den Lippen lag. Als hoffnungsvolles Beispiel zog er den schottischen Fußball heran. Seit Jahren fahre er regelmäßig zu Spielen des Celtic FC nach Glasgow. Als Schottland-Liebhaber hatte er jahrelang mitgelitten, weil die Fankultur am Boden lag. Gespräche waren 15 Jahre lang undenkbar. Nun käme Bewegung rein. Der schottische Verband zeige sich gesprächsbereit. Stehplätze könnten teilweise wieder zurückerobert werden.
Mit all den Anekdoten und Denkanstößen im Kopf verließen die Teilnehmer die überaus interessante Veranstaltung des Fankongress 2012 und begaben sich anschließend zur Podiumsdiskussion „Wir waren beim Fußball und haben es überlegt“. In Kürze auch dazu mehr.
Fotos: Marco Bertram
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