ZIS. Drei Buchstaben, die manch einem Fußballfan die Nackenhaare aufrichten lassen. Gemeint ist die Zentrale Informationsstelle Sporteinsätze, die von der Polizei betrieben wird. In einem Atemzug hierbei fast immer genannt: Die Datei „Gewalttäter Sport“. Dieser Begriff lässt die Pulsadern der deutschen Fußballfans noch mehr anschwellen. Stadionverbote. Eintragung in die Datei auf Verdacht. Polizeieinsätze in den Kurven. Reiseverbote ins Ausland. Und und und. Es gibt Gesprächsbedarf. Zwischen den Ultras bzw. Fußballfans und der Polizei. Genau für diesen Zweck war der Fankongress Berlin 2012 gedacht. Als Höhepunkt wurde am Samstagnachmittag eine Podiumsdiskussion veranstaltet. Wer nicht kam war der Vertreter der ZIS.
Verärgerung auf dem Fankongress 2012: Wo waren die Polizei-Vertreter?
HotMan müsse Ingo Rautenberg von der ZIS in Schutz nehmen, so die Veranstalter des Fankongress. Abgesagt habe schließlich der Chef von Herrn Ingo Rautenberg. Mit Rautenberg hätte man gewiss gut diskutieren können, doch die höhere Ebene beim ZIS habe da einfach den Riegel vorgeschoben. Verdammt schade, so sahen es die Veranstalter, die Kongressteilnehmer und auch die Mehrzahl der Referenten. Davon ganz abgesehen, hätte auch ein Mann wie Bernhard Witthaut, Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei (GdP), dem Fankongress gut zu Gesicht gestanden. Man hätte gespannt sein dürfen, ob er ähnliche Äußerungen wie im ZDF beim Aktuellen Sportstudio auch auf der Podiumsdiskussion gemacht hätte. Verharmlosung von Pfefferspray? Das Thema Polizeieinsatz bei Hannover 96 war auch beim Fankongress ein heißes Thema, doch dazu später mehr.
Samstag. Kinosaal 1 im Kosmos. 16 Uhr. Es war angerichtet. Das Podium war gut gefüllt mit Personen, die einiges zu berichten hatten. Matthias Stein vom Fanprojekt des FC Carl Zeiss Jena, Gerd Dembowski (Sozialwissenschaftler und Moderator der Gesprächsrunde), Jens Volke (Fanbeauftragter des BVB 09), Lasse Gutsch von den Ultras Hannover, Alexander Bosch von Amnesty International Berlin, Stefan Minden (Netzwerk Fananwälte Frankfurt), Nicole Selmer (Journalistin aus Hamburg), Gerald von Gorrissen (Fanbeauftragter des DFB) und Arne Steding von schwatzgelb.de. Sein Artikel „Wir waren im Stadion und haben es überlebt!“ sorgte im Herbst 2011 nach den Vorfällen beim DFB-Pokalspiel Borussia Dortmund – SG Dynamo Dresden deutschlandweit für reges Interesse. Die Kernfragen auf der Podiumsdiskussion: Wie schaut der Alltag in den Fankurven aus? Wie gefährlich ist es in den deutschen Stadien wirklich? Denn: Glaubt man einigen Medienberichten und den Äußerungen prominenter Persönlichkeiten und Funktionären, ist ein Stadionbesuch potentiell lebensgefährlich.
Zu Beginn der Diskussion war auf der Leinwand sogleich eine echte Perle deutscher Medienkultur zu sehen. Ein Zitat aus der BILD: „Nach Pokal-Randale: Jetzt sprechen die Fußball-Bosse!“ Einige Sachen stehen zur Debatte, so der Moderator der Podiumsdiskussion. Es gebe eine Kampfansage in Sachen Stehplätze und Ticketkontingente. Was haben die Medien eigentlich beobachtet? Sprechen der Zahlen (Gewalttaten rückgängig) keine deutliche Sprache? Man müsse das Bild wieder geraderücken.
Arne Steding von schwatzgelb.de kam als erstes zu Wort. Das Thema Fußballgewalt werde extrem aufgebauscht. In den 90ern und vor allen Dingen in den 80ern ging es deutlich rauer zur Sache. Die Themen sollen sachlich betrachtet werden, das Verhältnis soll bewahrt werden. Schließlich ist der Anteil der Straftaten in Betracht der zig Millionen Stadionbesucher verschwindend gering. Die Berichterstattung werde der Realität keineswegs gerecht.
Gerald von Gorrissen (Fanbeauftragter des DFB) ließ indes noch einmal Hendrik Große Lefert (Sicherheitsbeauftragter des DFB) entschuldigen. Es hatte terminlich einfach nicht gepasst. Zum Thema: Ja, die 80er Jahre waren in der Tat gefährlicher, doch seien die aktuellen Probleme nicht abzustreiten. Diese Probleme seien nur gemeinsam lösbar, denn auf dem Tableau mancher Politiker befinden sich neue Themen. Verringerung der Stehplätze, Begrenzung der Ticketkontingente für Auswärtsfans. Niederländische Verhältnisse in Deutschland?
Matthias Stein aus Jena geht seit den 70ern ins Stadion. Im Herbst wurde eine beispielslose Medienhysterie angefacht. Man habe bereits Versuchsballons steigen lassen. Fankarten. Kontingente. Zudem sei der Rückzieher der ZIS sehr, sehr ärgerlich!
Nicole Selmer nahm die Medien teilweise in Schutz. Aus gutem Grund. Wollten teilweise die Ultra- und Fangruppierungen nicht mehr mit der Presse sprechen. Dies sei kein günstiger Weg, denn andere nehmen dann den Platz ein und verschicken Pressemitteilungen zu den passenden Zeiten. Das Misstrauen der Fans / Ultras sei verständlich, trotzdem solle man auch anrufen. Und zwar bei Leuten, zu denen man Vertrauen habe. Zudem solle man ruhig auch mit Blogs und kleineren Portalen bzw. Magazinen zusammenarbeiten. Das Internet biete Möglichkeiten, die Fans nutzen sollen. Allerdings nicht nur allein zum eigenen Wohl, mahnte Nicole Selmer an.
Zu Wort kam nun Stefan Minden vom Netzwerk Fananwälte Frankfurt. Seit Anfang der 70er Jahre gehe er ins Stadion und zwar zu Eintracht Frankfurt. Er hofft auf eine ausreichende Berichterstattung was den Fankongress 2012 angeht. 2007 fand der letzte Fankongress des DFB statt. Damals glänzte die DFL durch Abwesenheit. Fünf Jahre später sei immer noch nichts geschehen. Immerhin sei nun der Fankongress da. Fans reichen die Hände, doch sie greifen ins Leere. (Kopfschütteln bei Gerald von Gorrissen) Die Polizei treibe es auf die Spitze, so Stefan Minden. Das sei äußerst bedauerlich. Die Medien sollen dies ruhig anmerken.
Ja, er habe tierisch Angst ins Stadion zu gehen. Deshalb tue er das nur in Begleitung von tausenden Fans, so Jens Volke (Fanbeauftragter des BVB 09). Schmunzeln und heiteres Gelächter im Saal. Spaß beiseite. Die Hysterie gehe ihn sehr auf den Keks. Sicherlich gebe es beim Fußball auch unerfreuliche Dinge, doch dafür gebe es ja jetzt diesen Kongress. Über eine Fortsetzung in der Zukunft würde er sich sehr freuen.
Auch Lasse Gutsch von den Ultras Hannover 96 beklagte die übertriebenen Darstellungen. Gefüttert werden diese in der Regel durch die Pressemitteilungen der Polizei. Bestes Beispiel sei ein Vorfall nach dem Auswärtsspiel beim Hamburger SV. Mit der Bahn ging es zurück. Auf Grund einer Zugverspätung ging es über Uelzen. Später ging es mit dem ICE nach Hannover. Bei Ankunft gab es einen Böller. Nicht erfreulich, aber eben halt nur ein Böller. Fix waren die polizeilichen Einsatzkräfte zur Stelle. Später hieß: Bei Ankunft von zirka 500 Hannover-Fans gab es Randale. Die Zeitungen schrieben später: 500 Hannover-Fans randalierten am Hauptbahnhof. Eine Riesenmeldung. Solche Übertreibungen seien auf gut Deutsch gesagt einfach zum Kotzen, so Lasse Gutsch.
Gern hätte er mit der Polizei diskutiert, erklärte anschließend Alexander Bosch (AI). Zum Fußball gehe er zum SV Meppen und zu Ajax Amsterdam. Er möchte indes betonen, dass zunehmend Gewalt von der Polizei ausgehe. Applaus im Publikum. Ändern könnte dies eine bundesweite Kennzeichnungspflicht. Allein in Berlin wurde diese bisher eingeführt.
Aus dem Publikum heraus kam nun Thomas Schneider, Fanbeaufragter der DFL, auf die Bühne. Locker flockig mit dem Touch eines sympathischen Philosophie-Lehrers. Ein gewiss nettes Auftreten, doch sein etwas oberlehrerhaftes Erklären der Dinge kam beim Fankongress überaus nicht gut an. Der Applaus wurde ihm komplett versagt. Drei Minuten für den Thomas? Warum nicht. Das Einladungsmanagement müsse besser laufen, so der DFL-Fanbeauftragte. Zur ZIS: Vielleicht sei ja dies das Problem. Schließlich seien die Ultras vor Ort in den Stadien auch nicht gesprächsbereit. Und die DFL? Die hielt sich bewusst ein wenig zurück, schließlich sei es ja ein Fankongress für Fans. Ungläubige Blicke in den Reihen und auf dem Podium.
Zum Kernthema. Zu den Fakten. 17,5 Millionen Menschen besuchten 2010/11 die Spiele der 1. und 2. Bundesliga. Es gab 5.818 Straftaten, 846 Personen wurden offiziell verletzt. Das entspricht einem Anteil von 0,033 bzw. 0,005 Prozent.
Matthias Stein aus Jena zog sogleich andere Veranstaltungen heran. Zum Beispiel das Oktoberfest. Ein leichter Anstieg der Verletzten? Diese Anzahl bekomme man problemlos mit einem gepflegten Pfefferspray-Einsatz zustande, so Stein. Er wolle die bereinigten Zahlen sehen. Wie viele Personen wurden durch die Polizei verletzt? Und wie viele Fans kamen durch den Einsatz von Pyrotechnik zu Schaden?
„Die Entwicklung ist erschreckend!“ Theo Zwanziger in einem BILD-Artikel. Hinter dem Podium leuchtete die Schlagzeile auf der großen Leinwand. Alle haben dazu beigetragen, dass die Hysterie so hochkochte, erklärte Gerald von Gorrissen vom DFB.
Wie geht eigentlich Jens Volke, Fanbeauftrager des BVB 09, mit dieser Diskrepanz um? Das Ganze sei ermüdend und nervig. Ständig müsse man sich rechtfertigen. Wegen Kleinigkeiten gebe es ständig Hysterie. Ein Becherwurf mit Urin bei Schalke 04? Gewiss nicht schön. Aber zwei Personen von 60.000?! Schade sei, dass andere Dinge viel zu kurz kommen. Über positive Sachen werde viel zu wenig geschrieben.
Zur Sprache kamen nun noch einmal die üblen Vorfälle bei Hannover 96. Was passierte dort genau, wurde Lasse Gutsch gefragt. An jenem Tag war der Ordnerdienst strenger. Nach einer Stunde kamen zwei völlig fremde Ordner in den Block und nahmen wortlos Fahnen mit. Gewiss kam es hierbei zu Beschimpfungen. Ohne Vorwarnung kam nun die Bereitschaftspolizei in die Fankurve. Ohne jegliche Kommunikation. Dafür mit um so mehr Pfefferspray. Ein Ultra wurde von einem Polizisten fast vom Oberrang gestoßen. 36 Verletzte waren zu beklagen. Alle durch Pfefferspray. Wofür? Für nichts! Man hatte Pyrotechnik gesucht. Gefunden wurde nichts. Mit Kommunikation hätte man alles regeln können. Doch leider sei man einfach reinmarschiert. Totale Eskalation. Leider kein Einzelfall. Jede Fanszene habe gewiss ihre eigenen Erfahrungen. Fazit: Die Gesamtzahl der Verletzten müsse differenzierter betrachtet werden, so Lasse Gutsch.
Zu Wort kam nun wieder Alexander Bosch. Niemand lache, dass Amnesty International überhaupt hier sitze und seinen berechtigen Platz habe, so Moderator Gerd Dembowski. Das in Hannover sei ein typisches Beispiel, erklärte Bosch. Immer wieder käme es zum lockeren Einsatz von Pfefferspray, bei Demonstrationen und beim Fußball. In die Medien käme es nur, wenn Polizisten selbst verletzt werden. So wurden schon mal ab und an Zivilpolizisten von Kollegen ausversehen verletzt. Die Anzeigen in Hannover liefen alle ins Leere. Wie so oft. Die Enttäuschung in den deutschen Rechtsstaat sei deshalb verständlich. Die fehlende Kommunikation von Seiten der Polizei sei ein echtes Problem, da sollte drüber nachgedacht werden, so Bosch.
Die Polizei solle einfach mal anders auftreten, so Matthias Stein. Selbst die viel gescholtene USK könne dies. Festnahmen gehen auch anders. Man müsse nicht immer eine Schneise schlagen. So gebe es auch viel seltener Solidarisierungsaktionen unter den Fans gegen die Polizei.
Stefan Minden fügte an: Man stelle sich das mal auf dem Münchner Oktoberfest vor. Ein Maßkrug fliegt. Das Zelt wird umstellt. Pfefferspray rein, die Personalien werden von allen festgestellt. Was wäre dann? Die Statistik würde in die Höhe gehen. Ein weiteres Problem: Die Sprühgeräte der Polizei werden immer größer. Diese seien echte Distanzwaffen. Ein fetter Strahl, der fünf Meter Umgebung freiräumt. Was bei rauskommt? Dämliche Sprüche, flankiert von flotten Politikersprüchen.
Nicole Selmer erklärte, das Problem gehe über den Fußball hinaus. Fußball sei eine Art Versuchsfeld. Sie wünsche sich ein größeres Denken. Über die Stadien hinaus. Es sollte auch Debatten geben, wie Innenstädte gestaltet werden. Alkoholverbote an öffentlichen Plätzen. Kontrolle und die Rechte der Bürger. All die Punkte, die Fußballfans bereits zu genüge kennen. Man müsse Bündnispartner außerhalb des Fußballs suchen – das wäre ein kluger Gedanke!
Fußballfans bzw. Ultras sollen sich selbst hinterfragen? Natürlich muss man sich als Gruppe auch selbst hinterfragen, so Matthias Stein. Doch dafür brauche man Raum. Und dieser Raum werde einem vielerorts genommen. Jegliche Verantwortung werde einem abgenommen. Man müsse Vertrauen geben, dann könne manches besser klappen. In Jena gab es schon mal klare Ansagen der Capos in Richtung eigene Fans. Und trotzdem war das folgende Feedback negativ.
Was könne man nun mitnehmen? Gerald von Gorrisson erklärte, dass er von der Morgenveranstaltung (Fan-Freiheiten / Pyro-Kampagne) mehr mitnehmen konnte, trotzdem sei auch die Podiumsdiskussion erfreulich gewesen. Es sei Gesprächsbereitschaft vorhanden, das werde er auf jeden Fall mitnehmen. Die Polizei müsse nun auch beim DFB thematisiert werden. Und dass sich Fans auch selbst regulieren können, habe man beim brisanten Duell Hallescher FC – 1. FC Magdeburg in Leipzig gesehen. Dort habe eine Bengalische Fackel gebrannt. Der Capo des HFC und andere Ultras haben den Zündler gestellt und der Polizei überführt. Das sei ein gutes Signal.
Abschließend kamen die Begriffe Selbstregulierung und Selbstbereinigung zur Aussprache. Harsche Worte von Seiten des Anwalts Stefan Minden. Erklärungsversuche des Fanbeauftragten der DFL. Wieder locker stehend, mit dem Mikro in der Hand. Nein, gut an kam dieses Auftreten ganz gewiss nicht...
Fotos: Marco Bertram
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