Büchsenwurf, Fohlenstall und Fahnenklau: Gladbacher Fußballfibel lässt vieles aufleben

 
5.0 (3)

Entjungferung in der Innenstadt von Mönchengladbach. Und schwupps war der Schal geruppt! Ja, da kiekte ich blöd aus der Wäsche bei einem meiner allerersten Auswärtsspiele. Und auch die Taufe folgte auf dem Fuße. Abendspiel, 29. November 1991. Bayer 04 Leverkusen zu Gast auf dem Bökelberg. Steife Brise und leichte Nässe. Mal war es ein geflogener Bierbecher, mal war es der herbstlich kühle Nieselregen auf den steilen, nicht überdachten Stehrängen des Bökelbergstadions. Noch eine Premiere? Ich glaube ja. Es muss in Gladbach gewesen, als ich die beherzt mit Knüppel schwingenden Einsatzkräfte nach Leibeskräfte vollblökte. So wie noch nie zuvor. Dieses Mistpack solle mal nach Berlin in die Mainzer Straße zum "Schwarzen Block" kommen, dann könne man sehen, ob es noch immer solch eine große Fresse haben und einen Harten machen würde. Wahllos reingedroschen in die zum Bahnhof abziehenden Gästefans. Ich war in Rage. Was für ein beschissenes Kaff! Später relativierte sich das Ganze, nachdem ich sehen durfte, dass nicht nur in Bochum und Gladbach fröhlich mit dem „Goldenen Schlagstock“ geknüppelt wird.

Borussia Mönchengladbach und der Bökelberg. Mit einem extra großen Meißel wurden die Erinnerungen vom 7. April 1992 ins Hirn geschlagen. Für immer und ewig. Jenes Pokalspiel kann man einfach nicht vergessen! Halbfinal-Krimi zwischen der Borussia vom Niederrhein und der Werkself aus der Chemie-Metropole. Von 1991 bis 1994 machte ich meine Lehre in Lev-Town, die daheim und auswärts mitgenommenen Fußballspiele waren quasi meine zweite Lehre parallel zur Ausbildung als Elektroniker für Betriebstechnik. Nach einem Jahr Bayer 04 erfolgte der Blick über den Tellerrand, ab 1992/93 wurde quasi alles mitgenommen, was möglich war. Zwei-, dreimal stand ich sogar mit den Gladbachern im Gästeblock des Müngersdorfer Stadions. Einfach nur, um den Nervenkitzel in höchster Intensität zu erleben. Wenn Gladbach beim 1. FC Köln einen Treffer erzielte und tausende Fans um mich herum ausflippten, fühlte es sich an wie ein geiler Drogentrip. Na, und Schübe gab es genug. Zu meiner damaligen Zeit gewann Gladbach hintereinander 2:1, 4:0 und 3:1 bei den Geißböcken. Innerlich reckte ich den Kölner Hools im Block 38 auch die Mittelfinger entgegen. Andererseits zollte ich auch denen dort oben reichlich Respekt. Wenn sich der kernige Mob bei guten Spielen komplett erhob und das „Mir sin Kölsche Junge“ anstimmte, erpelte es gleich noch mal auf der Haut.

Aber ok, um Geißböcke soll es ja nicht gehen. Vielmehr um Fohlen. Zurück zum legendären Pokalspiel auf dem Bökelberg am Aprilabend 1992. Vor ausverkauften Rängen ging es damals in die Verlängerung. In der 95. Minute brachte Hans-Jörg Criens die Gladbacher mit 2:1 in Führung. Tausendfach hallte das „VfL!! VfL!!“ gen Abendhimmel. Was für eine Atmosphäre! Und dann! In der 119. Minute konnte Andreas Thom für Leverkusen ausgleichen. Nun hätte man denken können, die Werkself hätte einen moralischen Vorteil. Doch denkste! Vier Leverkusener Schützen traten an. Alle vier konnten den Ball nicht unterbringen. Borussia-Keeper Uwe Kamps wurden zum Held des Abends. Da juckte es keinen VfL-Fan, dass auch die Gladbacher Spieler Horst Steffen und Jörg Neun nicht vom Punkt aus trafen. Borussia Mönchengladbach stand im DFB-Pokalfinale - ich stand gefühlt mutterseelenallein im Gästeblock. Das Hin und Her an jenem Abend zerrte an den Nerven. Was für ein Wechselbad der Gefühle. Was für ein geiles Stadion! Was für eine geile Atmosphäre! Gladbach - für mich damals eine echte Hassliebe. 

 

So, nun kann der Bogen geschlagen werden. So berichtet Elmar: „Das mit Abstand traurigste Erlebnis, das ich mit unserer Borussia hatte, ist das Pokalendspiel 1993. Diese Niederlage gegen Hannover schmerzt mich so sehr, weil ich - weil eigentlich jeder damals gerechnet hatte, dass man einen Zweitligisten aus dem Stadion schießt.“ Er schrieb 1993, aber er meint natürlich 1992. In Anbetracht solch einer traumatischen Erfahrung kann sich schon mal um ein Jahr vertan werden. Mir wäre das beim Lesen sicherlich auch gar nicht groß aufgefallen, wenn ich nicht 1993 beim DFB-Pokalfinale TSV Bayer 04 Leverkusen vs. Hertha BSC II gewesen wäre. Wo Elmar jene Zeilen schrieb? In der „Borussia Mönchengladbach Fußballfibel“, die als Band 17 in der inzwischen durchaus bekannten Reihe beim Verlag Culturcon Medien (Herausgeber Frank Willmann) erschien. 

Ich hatte bislang alle Fußballfibeln gelesen, und ich war aufgrund meiner persönlichen Erfahrungen auf dem Bökelberg sehr heiß auf dieses Buch. In der Regel haue ich eine Rezension sehr zeitnah raus, doch in diesem Fall benötigte ich einen zweiten Anlauf, um die nötige Ruhe zu finden. Hier im polnischen Cieplice ließ es sich recht gut an. Abschalten bei ein paar Bierchen am Ententeich, das gute Stück noch einmal lesen und schauen, was der Autor Steffen Andritzke auf Papier gebracht hatte.

Seit den 1970ern ist Steffen Andritzke, der als DDR-Kind in Weimar aufwuchs, glühender Borussia-Fan. Und wie das in der Zone so war, konnte er die Spiele der Bundesliga nur vor dem Fernseher verfolgen. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs konnte er endlich die Spiele der Gladbacher live in den Stadien sehen. Es folgten wilde Zeiten, geprägt durch Gewalt und Drogen. Später schwor er den Drogen und der Gewalt ab und verarbeitete seine Erlebnisse und Erfahrungen in seinem Buch „Kulturstadtbanause“. Ganz klar, noch ein Grund mehr, die Gladbach-Fußballfibel mit Neugier von vorn bis hinten durchzuarbeiten. 

 

Also Piwo her, bequem gemacht im Biergarten am besagten polnischen Ententeich und die einzelnen Kapitel zu Gemüte geführt. Einen chronologischen Abriss der Vereinsgeschichte findet man in diesem Buch nicht vor. Da es sicherlich bereits mehr als reichlich Publikationen über Borussia Mönchengladbach auf dem Büchermarkt gibt, tat Steffen Andritzke gut daran, eine eigene Form für sein Werk zu finden. Aber klar, das Rad muss nicht völlig neu erfunden werden. Und somit teilte er das Buch in einzelne Abschnitte ein: „Meine Borussia“, „Alles für die Borussia“, „FP MG“, „Unsere Ultras“, „Wir sind Borussia“ und „Im Stadion“. Steffen Andritzke lässt verschiedene Fans zu Wort kommen, zudem führte er zahlreiche Gespräche mit Personen, die auf verschiedenste Art und Weise mit dem Verein verknüpft sind. Sei es im Fanladen am Eickener Markt, im „Fohlenstall“ oder in der Ultra-Szene.

 

Entstanden ist ein überaus interessantes Buch, das nicht nur für Borussia-Fans, sondern auch für allgemein interessierte Fußballfreunde von Interesse sein könnte. Spätestens bei den Schilderungen von Elmar ab Seite 19 dürfte ein Lächeln über das Gesicht des Lesers huschen. Mensch ja, wie häufig liest man Schilderungen, die bis Anfang der 70er Jahre zurückgehen?! Beim Gewinn der ersten Meisterschale im Frühjahr 1970 war Elmar gerade 10 Jahre alt, und er hatte das „Glück“, dass im Stadion hinter ihm ein strunzbesoffener Fan stand, der ihm ohne Vorwarnung von hinten die Klamotten vollgekotzt hatte. Und?! Es war egal. Das Glück über den Titelgewinn drückte den Ekel weg. Und ja, seitdem hatte Elmar jeden Titel miterlebt. Von Interesse sind auch seine Schilderungen über den berühmten Büchsenwurf beim grandiosen 7:1-Sieg gegen Inter Mailand am 20. Oktober 1971. Inter wurde auf dem Platz plattgemacht - und da soll ein Gladbacher Dussel nichts anderes zu tun gehabt haben, als eine Cola-Büchse auf einen italienischen Spieler zu werfen?! Die Mutmaßung liegt nahe, dass aus dem Getümmel ein italienischer Zuschauer die Büchse geworfen hatte, um einen Spielabbruch zu erzwingen. Festgenommen wurde jedoch ein Gladbach-Fan, der bis heute seine Unschuld beteuert. Ja, was für ein Scheiß, denkt man auch heute nach über 47 Jahren.

 

Beim Lesen des nächsten Kapitels dachte ich mir, nun gut, die Zeilen über das Internat der Nachwuchskicker dürfte eher nur Borussia-Fans interessieren. Ein paar Anekdoten hatten mir dann jedoch wirklich ganz gut gefallen, und kurz dachte ich nach, wie es sein muss, als Jugendlicher an der Schwelle zu stehen. Hop oder top. Sprung in den Profifußball - oder eben doch nur Pustekuchen. Was für ein ungeheurer Druck. Besser noch: In Gladbach gab es wohl mal eine Familie mit vielen Töchtern. Der Vater gab den Töchtern mit auf den Weg, dass sie nur einen Freund nehmen dürfen, der bei Borussia spielt, damit die Familie später ausgesorgt habe. Doppelt hält besser, dachte sich ein Mädchen aus einer anderen Familie und machte sich zeitgleich an zwei Jungs aus dem „Fohlenstall“ ran. An dem einen Abend ging sie mit dem einen aus, am anderen Abend mit dem anderen. Was daraus geworden ist, ist im Buch leider nicht zu lesen. 

 

So hätte ich das auch gemacht, schoss es mir durch den Kopf, als auf Seite 31 zu lesen war, dass einer der Fohlenstall-Jungs, bei dem feststand, dass er den Sprung ins Profilager nicht schaffen würde, abends in einer Lokalität eine Schlägerei anzettelte, um später sagen zu können, dies sei der wahre Grund des Rauswurfs gewesen. Klar, wer kommt schon gern als Jugendlicher nach Haus und muss den Eltern am Essentisch erklären, dass es mit der Profilaufbahn doch nicht kappt und all der Aufwand quasi umsonst war. Es soll Väter (und auch Mütter) geben, die vor lauter Enttäuschung nicht mehr mit ihrem Sohn sprechen. Mal eben als möglicher Erstligaspieler innerhalb eines Jahres Millionär werden - oder eben für 1.600 netto pro Monat einem anderen Job nachgehen müssen. Was für ein Unterschied! Was für Welten. Dass aus diesem Grund die eine oder andere Sicherung glüht oder gar durchbrennt - wen wundert´s.

 

Nun möchte ich auch gar nicht das gesamte Buch Seite für Seite durchgehen. Vielmehr wollte ich nur zeigen, dass das gute Stück zum Denken anregt - und natürlich auch sehr gut unterhält. Für jüngere Leser dürfte der Abschnitt über die Gladbacher Ultraszene interessant sein. Ultras - das klingt irgendwie immer noch nach neuerer Bewegung. Aber nein, die Wurzeln gehen inzwischen über zwei Jahrzehnte zurück. Bereits 1995 konnten bei Borussia die ersten Entwicklungen beobachtet werden. Als erste Gruppierung trat das „Commando Ultra Nero Verde“ mit ersten großen Schwenkfahnen und Doppelhaltern in Erscheinung. Drei Jahre später schlossen sich zahlreiche kleine Gruppen zum „Scenario Fanatico“ zusammen. Den ersten großen Rückschlag gab es im Sommer 2001, als „Scenario Fanatico“ verboten wurde. Den Grund möchte ich nicht verraten. Es soll schließlich nicht zu viel vorweg genommen werden. Hey, ein Zehner für dieses Buch - das ist die Sache wirklich wert!

 

Richtig spannend wird es, wenn es um den Einbruch / Diebstahl der Banner der Ultras Mönchengladbach (UMG) geht. Die Hintergründe und all die Folgen als Leser zu erfahren - goldwert. Und richtig auf die Kosten kommt der Leser ab Seite 95, wenn das Kapitel „Lott jonn!“ beginnt. „Wer Dornen sät, darf sein Zelt nicht barfuß verlassen.“, heißt es in einem Spruch der Beduinen. Die Kölner hatten Dornen in Form des Diebstahls der Fahne gesät. Die Früchte dieser Saat gab es am 21. September 2014 zu ernten. 77 Gladbacher hatten es als Mob tatsächlich geschafft, sich am Morgen vor dem Derby unbemerkt von der Polizei sich der Kölner Südkurve zu nähern. Kölner Späher konnten indes die Gladbacher Truppe rechtzeitig ausmachen, so dass sich die Jungs aus der Südkurve noch schnell vorbereiten konnten. Über den weiteren Verlauf gibt es an dieser Stelle auch nichts zu lesen - lieber zum Buch greifen und selber lesen. Nur so viel: Die 77 Gladbacher waren an jenem Tag bis in die Haarspitzen motiviert. Zwar landeten am Ende alle in der Zelle - doch wirklich traurig darüber war niemand. 

 

So, das passt doch als Abschluss. Wollen wir es dabei belassen. Kurzum: Auch diese Fußballfibel hat mir sehr gut gefallen. Klare Kaufempfehlung! Und wer weiß, vielleicht war es ja Steffen Andritzke persönlich, der mir im November 1991 den Schal ruppte. So oder so - auf ein frisch Gezapftes in der Gladbacher Innenstadt! 

Fotos: Claude Rapp, K. Hoeft, Marco Bertram

> zur Webseite von Culturcon Medien (Verlag der Fibeln)

> zur turus-Fotostrecke: Borussia Mönchengladbach

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Artikel wurde veröffentlicht am
24 Juli 2018

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Danke für den Tipp! Prompt gleich bestellt!
M
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