Dreh die Bomber auf Orange! „FC Sachsen versus Rot-Weiss Essen. Verzweifelt versucht Chemie die Treppe zu halten.“ Die Fresse voll im Dreck! „Auer Hooligans wurden noch vor dem Spiel von der Polizei gestoppt und direkt vor dem Haupteingang ‚abgelegt‘.“ Auch nicht schlecht: „Der schwarze Bus oder Hooligans in Leutzsch“. Richtig, da kommt das Kopfkino wahrlich auf Hochtouren. Sachsen Leipzig im Jahr 2001 mit 1.000 Mann bei RWE in der Hafenstraße. Meine Güte, warum hatten Karsten und ich das damals verpasst?! Der Trost: Im Geiste kann manches nun nachgeholt werden. Es können Fotos betrachtet werden, die ich zuvor noch nie gesehen hatte. Vorgestern lag Band III der grünen Mega-Brocken „Chemie Leipzig und seine Fans“ von Jens Fuge im Briefkasten. Genauer gesagt: Er wurde an der Wohnungstür abgeliefert, da dieses Buch in kaum einen Briefkasten dieser Welt passen würde. Ach herrlich: „Du bist der Schrecken aller Klassen“. Ich fackelte nicht lang und schleppte den chemischen Brocken sogleich in die „Zosse“ in Berlin-Rixdorf, in der ein Feuer im Kamin prasselte und tschechisches Pils aus dem Fass angeboten wird.
Wilde Zeiten: FC Sachsen Leipzig / BSG Chemie Leipzig von 1990 bis Gegenwart
HotLeipzig! Lokomotive! Chemie! Ich hatte es beim persönlichen Rückblick über den 1. FC Lok bereits erwähnt: Der Leipziger Fußball kostete mich bereits Nerven, Schweiß und auch Blut. Sowohl von Leutzschern als auch von Probstheidaern bekam ich bereits kräftig aufs Maul. Bei den Chemikern war das ganz gezielt, bei Lok & Halle war es eher ausversehen. Ganz nach dem Motto: Im Eifer des Gefechtes kann es schon mal heißen „Presse auf die Fresse!“ - wir wussten ja nicht, dass du das warst. Aber gut, es soll hier nicht um Lok, sondern ganz klar nur um Chemie gehen.
Persönliche Rückblicke sind aktuell für etliche Nordost-Vereine geplant (Hansa Rostock und Lok Leipzig wurden bereits abgehandelt, Magdeburg, Cottbus, BFC und Union folgen noch), im Fall der BSG Chemie Leipzig bietet es sich prima an, den (dieses Mal aber nicht ganz so persönlichen) Rückblick mit der Rezension über den aktuellen Brocken aus dem Hause „Backroad Diaries“ zu verknüpfen. Eine Rezension in dem Sinne macht auch keinen Sinn, da ich dieses Mal ohne Einschränkung nur sagen kann: Geil, geil, geil! Kaufen, kaufen, kaufen! Es ist auch völlig schnuppe, ob man Chemie mag oder nicht - dies Augenzeugenberichte und die über 1.500 Fotos wird man regelrecht auffressen. Haben mir Band I sehr gut und Band II gut gefallen, so haut Band III bei mir persönlich voll rein. Es kommt halt alles zusammen. 1990 begann meine persönliche Fußball-Ära, in der es zu Beginn gleich von Null auf Hundert ging. Ich verschlang in den 90ern regelmäßig die FanTreff-Ausgaben - und die Bildunterschriften in Band III des Chemie-Brockens erinnern von Stil und Humor an jene Ära der 90er. Und last but not least ist die BSG Chemie Leipzig für mich eine echte Hass-Liebe - und das bekanntlich mit langer Vorgeschichte.
Im Herbst 1994 düste ich auf eigene Faust nach Leipzig-Leutzsch, um das RL-Duell FC Sachsen Leipzig vs. FC Berlin (BFC Dynamo) zu sehen. In den drei Jahren zuvor hatte ich in meiner Zeit in NRW einiges beim Fußball erlebt. Knüppel aus dem Sack und von hinten volle Kanone auf das Rückgrat, ein holländischer Angriff auf einen deutschen Sonderzug, kreuz und quer fliegende Leuchtkugeln, Boxereien vor den Stadien, komplett zerdroschenes Inventar in Straßenbahnen und Bussen, Oral-Sex in der Reihe vor uns im Fanbus nach Bremen, Schnaps-Leichen, Hetzjagden durch die Straßen, gezogene Schals. Es war ziemlich alles dabei. Um jedoch das erste Mal ein richtiges Ding rein zu bekommen, musste ich nach Leutzsch fahren. Das war allerdings auch nicht schwer. Ich tat einiges dafür, um draußen auf die Schnauze zu bekommen. Mit damals hellblond gefärbten Haaren und Lederjacke saß ich auf einem Sitz und fotografierte die wüst am Zaun rüttelnden BFCer. Da gäbe es jedoch nichts zu fotografieren, erklärte jemand neben mir. Das seien nur die Saupreußen! Als ich etwas forsch eine Antwort gab, wusste all um mir herum, dass ich auch so ein scheiß Saupreuße war.
Als es drinnen noch rumpelte und die Polizei hoch zu Ross den heiligen Rasen des AKS zertrampelte, wartete man draußen bereits auf mich. Mit der klaren Ansage „Du scheiß Berliner!“ bekam ich eine reingebrettert. Das fette Veilchen sorgte am kommenden Tag auf dem VHS-Kolleg für reichlich Gesprächsstoff. Vielleicht hätten mich die Chemiker komplett zusammengetreten und ich würde heute hier nicht mehr sitzen und beim Kaffee diese Zeilen tippen können, wenn nicht just in jenem Moment die weinroten Gästefans von der Polizei zum alten Leutzscher Bahnhof geführt worden wären. „Hey, Ihr feigen Schweine! Fünf auf einen!“, rief jemand von den Berliner Hools - und schon ließen die Chemiker von mir ab.
Ich reihte mich mit ein und durfte nun erleben, wie es am Bahnhof noch mal abging. Erstaunlich, dass die Presse damals schrieb, dass alles verhältnismäßig ruhig blieb. Das gebrüllte „Schießt doch! Schießt doch!“, die fliegenden Schottersteine und der zum Halten gebrachte IC (die (Not-)Bremsen nebelten den gesamten Bahnhof ein) brannten sich fest im Gedächtnis ein. Im Vergleich zu 1990 war es jedoch wahrscheinlich wirklich verhältnismäßig ruhig. Und wenn ich durch die Seiten des Chemie-Brockens blättere, wird eh schnell klar, dass es eigentlich immer und überall knallte zu jener Zeit.
Erstaunlich fand ich damals, dass es beim Rückspiel im Sportforum Berlin-Hohenschönhausen komplett ruhig blieb. 300 Fans des FC Sachsen Leipzig waren damals vor Ort. Immerhin, denn im Jahr darauf waren es nur noch 35. Die erste Saison der neu eingeführten Regionalliga Nordost zog halt wie Hecke, da fuhr der FC Sachsen Leipzig sogar mit 1.000 Mann nach Zehlendorf und 520 Mann nach Spandau. In den folgenden Spielzeiten ließ das Interesse merklich nach. Womit wir bei der Geschichte des FC Sachsen Leipzig wären.
Das meiste wurde bereits mehrfach abgehandelt und muss an dieser Stelle nicht noch einmal ausführlich thematisiert werden, doch ein paar Punkte möchte ich doch fix hervorheben. Ein Blick auf die unmittelbare Nachwende-Zeit. Was für Turbulenzen in der Region Nordost. Die meisten einstigen DDR-Vereine wussten einfach nicht, wohin die Wege führen werden bzw. welchen Weg man einschlagen soll. Rasch sich schnell des alten Namens entledigen wie im Fall des BFC Dynamo, der nun FC Berlin hieß? Einen Mittelweg wählen wie im Fall Dynamo Dresden, bei dem aus der „SG“ ein „1. FC“ und aus dem weinroten Logo ein grünes wurde? In Leipzig-Leutzsch wurde das „Chemie“ ebenso schnell abgelegt. Zum einen brachen die Trägerbetriebe sowieso weg, zum anderen klang „Chemie“ einfach fürchterlich nach den dortigen Kombinaten und übelster Umweltverschmutzung. Manch einer wird es gar nicht wissen: Für 61 Tage hieß der Verein „FC Grün-Weiß Leipzig“, bis es am 27. Juli 1990 zur Fusion mit dem FSV Böhlen (zuvor Chemie Böhlen) kam und der FC Sachsen Leipzig entstand. Ebenso bemerkenswert: Noch als FC Grün-Weiß Leipzig ging es zu einem Testspiel zu Hannover 96 - und rund 1.000 Chemiker sorgten im Niedersachsenstadion für klasse Stimmung.
Gute Fotos von jenem Spiel in Hannover zu finden, war selbst für Jens Fuge schwer. So gibt es vom Oberrang nur ein arg verwaschenes Foto einer „Seife“ bzw. Pocketkamera zu sehen. Von manch einem anderen Spiel gibt es indes technisch erstaunlich gute Fotos zu sehen. Wie in den Bänden I und II wurde auch bei Band III aus dem Vollen geschöpft. Einfach irre, was alles zusammengetragen wurde. Logisch, dass aus der neuen Zeit dann sowieso massig gute Bilder vorhanden war. Band III hätte gut und gern doppelt so dick werden können, erklärte Jens Fuge in Anbetracht der Tatsache, dass zahlreiche - auch von mir - zur Verfügung gestellte Fotos gar nicht berücksichtigt werden konnten.
Kommen wir noch mal auf die Vereinsgeschichte nach dem Fall des Eisernen Vorhangs zu sprechen. Ich möchte diesbezüglich eine Passage aus dem Vorwort zitieren: „Die eigene Erfolgslosigkeit, gepaart mit Chaos und Unfähigkeit, kostete mindestens eine Fan-Generation. Ab und an, wenn die Hoffnung mal wieder flackerte, strömten die Massen zuhauf nach Leutzsch oder begleiteten die Mannschaft auf ihrem Weg. Gera 1993, Jena 1995, Tennis Borussia Berlin 1997, VfB 2000, Hof und Schönberg 2003, St. Pauli 2003, Eilenburg und Greifswald 2008 sind einige der unvergessenen Stationen. Ein bisschen wenig für 22 Jahre FC Sachsen… Und kein Ersatz für Aufstiege in den bezahlten Fußball oder die Teilnahme an Pokalfinalen oder sogar dem Europapokal, wie es jahrelangen vergleichbaren Konkurrenten wie Cottbus, Aue oder Union Berlin gelang.“
Als Aufsteiger war der FC Sachsen Leipzig 1990/91 bei der letzten anfangs noch zu DDR-Zeiten ausgespielten Oberliga-Saison dabei. Die ersten beiden Vereine (es wurden der Meister F.C. Hansa Rostock sowie Dynamo Dresden) qualifizierten sich für die 1. Bundesliga, die Vereine auf den Plätzen drei bis sechs waren auf direktem Wege 1991/92 in der 2. Bundesliga mit von der Partie. Die Plätze 7 bis 12 spielten die letzten beiden Ost-Vertreter für die 2. Bundesliga aus. Wirklich doll war die damalige Regelung nicht. Fußballtechnisch war es nur eine Angliederung. Eine echte deutsche Einheit in Sachen Fußball hätte anders aussehen müssen. Im Westen musste niemand Abstriche machen, im Osten gingen zahlreiche Vereine vor die Hunde. Der FC Sachsen konnte als Tabellenzwölfter den Strohhalm in Form der Qualifikationsgruppe 2 nicht packen. Ausgerechnet Erzrivale VfB Leipzig wurde in Gruppe 2 Erster vor dem EFC Stahl, dem FSV Zwickau und dem FC Sachsen Leipzig und war somit in der ersten gesamtdeutschen Zweitligasaison mit dabei. In Gruppe 1 konnte sich sich überraschend der BSV Stahl Brandenburg gegen den FC Berlin, den 1. FC Union Berlin und den 1. FC Magdeburg durchsetzen.
Es folgten für den FC Sachsen drei Jahre NOFV-Oberliga (3. Liga) und von 1994 bis 2001 Regionalliga. Die Saison 2000/01 war ein echtes Highlight, denn in der RL Nord (es gab zu jener Zeit nur zwei Staffeln) hatte es der FC Sachsen unter anderen mit Fortuna Düsseldorf, Eintracht Braunschweig, Preußen Münster und Rot-Weiss Essen (Stichwort Treppe halten) zu tun. Ausgerechnet am Ende jener Saison musste der FC Sachsen Leipzig aufgrund fehlender Lizenz zwangsabsteigen.
Es wurde ein Leiden ohne Ende. Zweimal rappelte sich der Verein sportlich nochmals auf. 2003 und 2008 erfolgte jeweils die Rückkehr in die Regionalliga Nordost. Es nutzte nichts. Es gab große Träume, die finanziellen Schwierigkeiten blieben, der Umzug in die neue Arena (Zentralstadion) brach dem Verein letztendlich endgültig das Genick. Was 2004 gegen Dynamo Dresden in der modernen Arena noch ganz schmuck aussah - ich war damals mit vor Ort -, endete später im totalen Desaster, als nur noch zwischen 1.000 und 2.000 Hartgesottene den Weg auf die Ränge fanden.
Als ich im August 2009 beim Derby FC Sachsen Leipzig vs. 1. FC Lokomotive Leipzig vorbeischaute, waren in der Heimkurve die „Diablos“ schon verschwunden. Bereits in der Saison 2008/09 ging die neu ins Leben gerufene BSG Chemie in der 3. Kreisklasse ins Rennen und hatte einen Zuschauerschnitt von 378. Als die BSG Chemie 2011/12 in der Sachsenliga spielte, kamen bereits 1.033 Fans im Schnitt zu den Heimspielen. Beim FC Sachsen Leipzig gingen indes die Lichter aus. Ende Juni 2011 wurde der Verein abgewickelt. Das folgende Projekt „SG Leipzig-Leutzsch“ fand keinen Erfolg. Schon bald war die BSG Chemie Leipzig wieder der alleinige Mieter im AKS und bestreitet nun seinen beachtlichen Weg.
Der FC Sachsen und die neue BSG Chemie. In Band III ist auf den 660 Seiten einiges zu finden. Abgearbeitet werden die einzelnen Epochen. Extra Kapitel bekamen unter anderen „Der schwarze Bus“, die „Diablos“ - Hierbei sollte angemerkt werden, dass die Geschichte der Diablos auf 170 (!) Seiten eine Zäsur darstellt. Niemals zuvor hat eine Ultra-Gruppierung solch intensive Einblicke gestattet. -, die zahlreichen Fanclubs, die bekanntesten Chemie-Fans, sowie die Freundschaft zwischen Frankfurt und Chemie. Sehr lesenswert sind die Abschnitte über den ewigen Kampf zwischen Lok und Chemie. Faszination, Gänsehaut und Kopfschütteln. Nee danke, solch einen Angriff wie jenen auf die „Sachsenstube“ möchte man besser nicht hautnah erleben. Die Augenzeugenberichte geben den einen oder anderen Kampf gut wieder. Eine optimale Lektüre, um beim Bierchen zu schmökern. Nun ist dieser Brocken wahrlich kein Büchlein für zwischendurch in S- und U-Bahn, doch das Mitnehmen in ein gemütliches Kneipchen der Wahl ist es wahrlich wert. Kaufen, kaufen, kaufen! Dieses Buch ist jeden Cent wert.
Ach kommt, ein Beispiel bringe ich noch. „25.2.1995. Halbfinale im Sachsen-Pokal, FC Sachsen - Aue 3:1. ‚Locke‘, Weißenfels, Jahrgang 1975: Vor dem Stadion kam es zum Match mit den Auer Hooligans. Der Anführer ‚Punkt‘, er war zwei Köpfe größer als ich, kam direkt auf mich zu. Ich machte Zeichen, dass ich nicht seine Gewichtsklasse sei, und er stürmte an mir vorüber und widmete sich dem nächsten.“
Fotos: Marco Bertram, Marco S., Michael, Felix, P. Schoedler
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