Nach der Hinrunde der DDR-Oberligasaison 1963/64 war noch der SC Empor Rostock auf Rang eins zu finden, am Ende jener Spielzeit wurde indes ein Verein Meister, dem zu Beginn der Saison im besten Falle der Klassenerhalt zugetraut wurde. Der BSG Chemie Leipzig gelang als „Rest von Leipzig“ die Sensation schlechthin. Mit enormer Willenskraft hielten die Leutzscher die Rostocker auf Abstand, fuhren Sieg für Sieg ein und zeigten auch am letzten Spieltag keine Nerven. Mit 2:0 wurde bei Turbine Erfurt gewonnen, und über 10.000 mitgereiste Chemie-Fans waren völlig aus dem Häuschen. Trainer Alfred Kunze machte sich in jenem Jahr unsterblich. Seit 1992 trägt die Heimstätte der Leutzscher den Namen „Alfred-Kunze-Sportpark“. Zwei Jahre nach dem 64er Meistertitel unterstrich Alfred Kunze, dass er wirklich ein Genie war, indem er mit den Chemikern auch noch den FDGB-Pokal holen konnte. Im Finale konnte am 30. April 1966 im Stadion Müllerwiese in Bautzen die BSG Lok Stendal mit 1:0 bezwungen werden. In den Runden zuvor wurden unter anderen die BSG Motor Zwickau (2:0), die BSG Wismut Aue (3:2) und der FC Vorwärts Berlin (1:0) aus dem Weg geräumt.
Alfred Kunze - Das stille Genie: Mit Willenskraft zum chemischen Meistertitel 1964
„Wer nicht alles gibt, gibt nichts.“ Dies ist wohl der bekannteste Ausspruch von Alfred Kunze. Ganz klar, die BSG Chemie Leipzig hatte wahrlich zu jener Zeit nicht die spielerisch beste Mannschaft der DDR-Oberliga, doch wusste er, wie man die Spieler bis in die Haarspitzen motiviert und das Letzte aus ihnen herausholt. In der Kabine gab es nur eine recht dünne Bretterwand, und somit ließ er in der Halbzeitpause schon mal Ruhe einkehren und die Spieler lauschen, was nebenan der Trainer der Gästemannschaft seinen Spielern zu sagen hatte. Das Gehörte war mitunter Motivation genug, und besonders bei den Derbys gegen den SC Leipzig (ab 1966 dann 1. FC Lokomotive) ging es richtig zur Sache. Sprichwörtlich mit Schaum vor dem Mund und mit roten Augen ging es auf den Rasen. Nach der Partie konnten die Chemie-Spieler dann nicht mehr laufen, dermaßen ausgelaugt waren sie.
„Steuermann Alfred Kunze: ‚Alle Meisterschaftsstürme überstanden, Jungs, nach 13 Jahren erstmalig wieder fertigmachen zum Empfang der Goldmedaillen!‘“, hieß es in einer Karikatur im Fußballfachmagazin fuwo. Abgedruckt wurde diese Karikatur erneut im jüngst herausgekommenen Buch „Alfred Kunze - Das stille Genie“, das Jens Fuge geschrieben und zusammengetragen hat. Bereits seit Kindheit an ist Jens Fuge Fan der BSG Chemie Leipzig und war zwischenzeitlich auch in verschiedenen Funktionen für die Leutzscher tätig. Das vorliegende Buch ist bereits sein elftes Werk. Einen echten Namen über die sächsischen Landesgrenzen hinaus hatte sich Jens Fuge in der jüngeren Vergangenheit mit dem dreiteiligen Megabrocken „Chemie Leipzig und seine Fans“ gemacht. Dieses Werk brach wohl einige Rekorde.
Im aktuellen Buch über Trainerlegende Alfred Kunze trug Jens Fuge zahlreiche Fakten zusammen und ließ unter anderen die grandiose Meistersaison 1963/64 noch einmal lebhaft Revue passieren. Ich muss schon sagen, dieser Abschnitt war mein persönliches Highlight in diesem Buch und ich fieberte beim Lesen regelrecht mit. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass damals der plumpe Versuch unternommen wurde, drei Leistungsträger der BSG Chemie Leipzig mal eben während der laufenden Saison in die Nationale Volksarmee (NVA) einzuziehen. Wehrdienst während des Spielbetriebes - eigentlich auch zu DDR-Zeiten ein Unding. Alle Hebel wurden in Gang gesetzt und Alfred Kunze persönlich wurde vorstellig bei der SED-Bezirksleitung und gab zu Bedenken, dass die Leipziger Fußballfans Kopf stehen und sich das nicht gefallen lassen würden. Mit Erfolg. Nur einer der drei Spieler musste letztendlich in jener Saison zum Wehrdienst. Da für Pacholski die Genossen in Halle zuständig waren, gab es diesbezüglich kein Erbarmen.
Allerdings bestand das Leben von Alfred Kunze nicht nur aus seiner (zweiten) Amtszeit bei der BSG Chemie Leipzig von 1963 bis 1967. Vielmehr erfährt man als Leser einiges aus seinem gesamten Leben. Geboren wurde Alfred Kunze am 8. September 1909 in Leipzig, am 19. Juli 1996 starb Kunze in seiner Heimatstadt. Kunze wuchs im Stadtteil Stötteritz auf und begann seine Spielerkarriere beim VfL Südost Leipzig (heute SSV Stötteritz). Gemeinsam mit seinem Bruder wechselte er 1934 zum SC Wacker Leipzig, wo er bis 1938 spielte. Nach seiner schweren Beinverletzung startete er beim SC Wacker in der Saison 1940/41 seine Trainerlaufbahn.
Was ich persönlich zuvor nicht wusste: Von 1950 bis 1952 trainierte Alfred Kunze auch die Auswahl der DDR. Allerdings absolvierte die DDR-Nationalmannschaft erst ab dem 24. Juli 1952 offizielle Länderspiele, da die DDR erst an diesem Tag als vollwertiges FIFA-Mitglied aufgenommen wurde. Vorher wurden demzufolge inoffizielle Vergleiche veranstaltet, unter anderen im August 1951 zwei Freundschaftsspiele gegen Dynamo Moskau (Foto) im Stadion der Weltjugend in Ost-Berlin.
Ein erstes Mal trainierte Alfred Kunze die BSG Chemie Leipzig in der Saison 1953/54. Den SC Lokomotive Leipzig (nicht zu verwechseln mit dem 1. FC Lokomotive) betreute er 1954/55 und von 1958 bis 1963 (in jenem Jahr gab es wieder die BSG Chemie). Seine weiteren Trainerstationen waren der KVP Vorwärts Leipzig (1953), Lok Weimar (1955/56) und Wissenschaft Halle (1957). Nachdem er 1967 etwas überraschend seine Trainerlaufbahn beendet hatte, war er bis 1976 als Mitarbeiter im Wissenschaftlichen Zentrum des DFV der DDR tätig.
Um sich ein gutes Bild vom Leben und Wirken der Trainerlegende Alfred Kunze machen zu können, kommen im Buch auch sein Sohn und ein Enkel zu Wort. Zudem wurden einige Zeitungsberichte aus alten Zeiten abgedruckt. Zeilen zu lesen gibt es auch von anderen Familienmitgliedern, Freunden und Weggefährten. Da das Ganze durch zahlreiche Fotos ergänzt wird, ist ein Werk entstanden, das man nur empfehlen kann. Man muss wahrlich kein Freund der Chemiker sein, um dieses Buch überaus interessant zu finden. Allein der packende Abschnitt über den Meistertitel 1964 ist es wert, zuzugreifen. Und ja, der legendäre Ausspruch von Alfred Kunze könnte manch einer Mannschaft in die Kabine gehängt werden. „Wer nicht alles gibt, gibt nichts.“ Punkt!
Fotos: Marco Bertram, P. Schoedler, Los Misenas, Bildagentur frontalvision.com
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