Nichts ist spannender und faszinierender als die Realität. So auch beim Fußball. Auf Fanmärschen, in den Fankurven, im Innenraum, von der Beobachterposition ganz oben unter dem Stadiondach aus. Wie auch immer. Den eigenen Besuch in all den Stadien mal außen vorgelassen, interessiert man sich für das Fangeschehen, so sind Hefte wie „Republikflucht“ goldwert. Mit der nötigen Lockerheit und einer Portion Witz, aber auch mit dem nötigen Hintergrundwissen werden die Geschehnisse geschildert und mit Hilfe von hervorragenden Fotos dokumentiert und auf diesem Wege dem interessierten Leser näher gebracht. Mitunter hat man beim Lesen der Berichte das Gefühl, mit dabei in Łódź, Belgrad oder auch in Tegucigalpa zu sein. Logisch, dass nicht jedes Fanzine die gewünschte Qualität hat und tiefe Einblicke in das örtliche Fangeschehen gewährt, doch in Fällen wie „Republikflucht“ ist dies der Fall. Auch nach über 25 Jahren Fußball jeglicher Couleur sauge ich die enthaltenen Informationen auf. Man lernt schließlich niemals aus, und der Fußball und die verknüpfte Fankultur sind dermaßen facettenreich, dass es einem vor Erstaunen immer wieder aus den Latschen haut.
Ultra-Kultur und wissenschaftliche Bücher: Interessante Ansätze versus arge Bauchschmerzen
Kniffliger ist es bei wissenschaftlichen Texten zur Thematik „Fankultur und Ultras“. Ich gebe zu, beim Lesen wissenschaftlicher Arbeiten zu diesem Themenbereich kommen arge Bauchschmerzen auf. Allerdings bin ich vorbelastet und kehrte der Wissenschaft vor einigen Jahren den Rücken zu. Von Kindheit an wollte ich alles selber entdecken, mit eigenen Augen sehen, mit eigenen Ohren sehen. Länder besuchen, Menschen beobachten, das Erlebte in Notizbüchern festhalten. Bei jeglichen Theorieansätzen hatte ich bereits zu DDR-Zeiten in der Polytechnischen Oberschule arge Schwierigkeiten. Theorien fühlten sich seit jeher wie ein stramm gezogenes Korsett an. Vieles wurde mir zu sehr über den Kamm geschoren und in die jeweilige Schublade gepackt. Als ich über Umwegen zu Beginn des Jahrtausends an der Universität landete, wurde es nicht wirklich besser. Ganz im Gegenteil. Von der Germanistischen Linguistik mit all ihren Theorien und Erklärungsansätzen wollen wir erst gar nicht reden, schlimmer war es für mich sogar in Geographie. Vor allem in den Bereichen Wirtschaftsgeographie und Sozialgeographie. In all den Ländern selbst Erlebtes und im Institut wissenschaftlich Aufpoliertes und in aufwändigen Schachtelsätzen Verpacktes waren für mich eines Tages nicht mehr vereinbar. So sah es auch mein Dozent, der meinte, dass ich nur journalistisch / dokumentarisch schreiben könne, aber niemals wissenschaftlich. Richtig. Ich liebe die Praxis auf der Straße. Und ich liebe die eher einfache, direkte Sprache, die auch jeder versteht.
Doch nun landete (auf Wunsch) in meinem Briefkasten das Buch „Ultras - Eine Fankultur im Spannungsfeld unterschiedlicher Subkulturen“. Ich war gespannt auf dieses von Gabriel Duttler und Boris Haigis herausgebrachte Werk, das beim transcript Verlag in Bielefeld erschien. Schließlich ist es kein Buch über etwaige X-Bar- und Sprachwandeltheorien, sondern ein Druckwerk über die Thematik, die mich Woche für Woche beschäftigt. Eine Rezension sollte also kein großes Ding sein. Als ich das gute Stück austütete und all die Fußnoten sah, fühlte ich mich in die Studentenzeit zurückversetzt. Boah, wer will denn so was lesen? Und wo sind die Fotos, die das Ganze wenigstens auffrischen? Außer ein paar sehr wenigen Schwarz-Weiß-Fotos - Pustekuchen! Auch auf dem Buchcover wurde ein mögliches Bild weggelassen. Okay, kann ich einerseits verstehen. Brennende Blöcke als Aufmacherfoto gibt es in der Tat inflationär. Aber ein Vorsänger im Einsatz hätte es doch getan, oder nicht? Und zwar in Schwarz-Weiß. Nett ist indes die Idee, das „ULTRAS“ so zu drucken, als sei der Schriftzug mit roter Farbe mit Hilfe der Rolle auf eine Wand gemalt. „Red Kaos“ aus Zwickau lässt grüßen.
Tja, nun lag das 320-seitige Buch auf dem Küchentisch. Mal eben auf einer Bahnfahrt nach Magdeburg oder Rostock lesen? Fehlanzeige. Dafür ist die Kost dann doch zu schwer / trocken. Ganz klar eignet sich ein „Daggl“ oder die angesprochene „Republikflucht“ besser, um sich auf das kommende hochbrisante Spiel einzustimmen. Davon ganz abgesehen hat das neue Buch aus dem transcript Verlag auch ein gewisses Gewicht. Hm, für die Badewanne nach einem langen Arbeitstag? Okay, das beantwortet sich von selbst. Da sollte es dann doch leichtere, unterhaltsame Kost vor dem Schlafengehen sein. Mit dem Buch auf eine Latte ins Café Rix? Eine Möglichkeit. Aber im Café schweiften die Gedanken dann doch eher ab. Also dann doch ganz wissenschaftlich klassisch in aller Ruhe auf dem Bett quergelesen. Ohne Musik, ohne Fernsehgedudel im Hintergrund. Und schon stellte sich die Frage: An wen ist eigentlich dieses Buch gerichtet? An andere Diplom-Sozialwissenschaftler und Diplom-Soziologen? Aber wie viele Männlein und Frauen aus dieser Berufsgruppe haben Interesse an der Ultra-Bewegung? Ein Buch für den allgemeinen Fußballfreund? Hm, eher schwierig. Wenn ich schon leicht muffig werde beim Lesen, wie soll das erst anderen Leuten ergehen?
Stichwort „Muffeln“. Genug gemuffelt. Erst einmal zumindest. Denn das Buch hat wahrlich interessante Abschnitte. Es wird jetzt nicht großartig überraschen, wenn ich sage, es sind die Interviews, die mir persönlich am besten gefallen. Das Interview mit Marco Bartsch über die Entwicklung einer Fanszene am Beispiel der Würzburger Kickers gewährt interessante Einblicke. Das der Verein soeben in die 2. Bundesliga aufgestiegen ist, macht das Ganze zu einem Glücksgriff. Und klar doch, möchte man über die Ultra-Kultur in Italien sprechen, kommt man an Kai Tippmann nicht vorbei. Kurze Fragen, lange Antworten. Wer sich für den italienischen Fußball interessiert, dem sei dieses Interview wahrlich empfohlen. Mein persönliches Highlight ist indes das Interview mit Sven Brux (Sicherheitsbeauftragter des FC St. Pauli) über das Thema „Punk und der FC St. Pauli“. Ein Mann von der Basis, der nun eine wichtige Funktion beim Verein innehat, und somit beide Seiten kennt und versteht. Seine Schilderungen sind überaus interessant zu lesen. Würde das Buch nur aus solchen Interviews wie mit Kai Tippmann und Sven Brux bestehen, ich hätte es an einem Tag regelrecht aufgefressen. Kein Wissenschaftler der Welt kann quasi solchen Schilderungen, die wahrlich Hand und Fuß haben, noch etwas hinzufügen. Und auch das Interview mit Dr. Roland Härtel-Petri über das Thema „Subkulturen und Drogenkonsum“ ist überaus lesenswert. Im Zuge der Interviews sollte man auch das Gespräch mit Jan-Henrik Gruszecki nicht vergessen, bei dem er unter anderen über ein Crowdfounding-Projekt, das dem Sheffield FC dazu verhelfen soll, an seine ursprüngliche Heimstätte Oliver Grove zurückzukehren, spricht. Wahrlich interessant sind zudem seine Statements zur Entwicklung der Ultra-Bewegung.
Würde das Buch schlappe 12 Euro kosten, würde ich sagen: Okay, allein die Interviews sind es wert, man kann beim Kauf nicht viel falsch machen. Kostet es aber nicht. Kann es auch nicht. Zu haben ist das Werk für 29,99 Euro. Natürlich für den potentiellen Käufer eine echte Hausnummer. Andererseits können wissenschaftliche Lektüren noch weitaus teurer sein, von daher pendelt sich dieses Buch irgendwo dazwischen ein. Und was ich nun zu den anderen Kapiteln des Buches sage? Die besagten Bauchschmerzen. Ich bin kein Freund davon, die Ultra-Kultur in wissenschaftliche Theorien zu verpacken. Mir ist das, was in all den Kurven und Blöcken geschieht einfach zu vielschichtig. So frage ich mich persönlich, wie groß ist eigentlich die Schnittmenge der Fanszenen in Rostock und Magdeburg? Und wo fängt eigentlich „Ultra“ an und wo hört es auf? Das ist selbst für mich, der Woche zu Woche zu den verschiedensten Spielen fährt und stets den Blick auf das Geschehen auf den Rängen wirft, alles andere als leicht zu beschreiben. In den Fällen 1. FC Magdeburg und F.C. Hansa Rostock ist selbstverständlich spürbar, dass die jeweiligen Ultra-Gruppierungen federführend bei der Art des Supports und bei etwaigen Aktionen sind. Anderseits mündet im Magdeburger Bock U alles in eine dort zitierte „Blau-weiße Einheitsfront“. Im Fall Rostock ist es halt die „Süd“. Punkt, aus. Als Wand steht man / frau dort hinter der Mannschaft und dem Verein. Egal, ob man nun ein Ultra ist oder nicht.
Und ja, wenn ich allein sehe, wie groß die Unterschiede zwischen Block U und der Süd sein können, da fällt es mir schwer, allgemeine Theorien und Ausarbeitungen zur Ultra-Bewegung zu lesen. Vielleicht ist es aber auch eine Art der Sättigung, dass man gar nicht mehr so viel über die Ultra-Bewegung hören mag. Zu oft wurde in Talk-Shows und Dokumentationen die Schublade „Die Ultras“ aufgezogen. Immer wieder schüttelte man wütend den Kopf. Nein, nein, nein, es gibt nicht „Die Ultras“! Was haben Ultras in Koblenz mit denen des BFC Dynamo gemeinsam? Um nur ein beliebiges Beispiel zu nennen. Von daher rumort es jaaaanz softe in der Magengegend, wenn ich mir Texte wie „Ultra ‚cool‘, ultra hart und ultra männlich“ oder „Doing Gender und Ultra“ zu Gemüte ziehe. Davon ganz abgesehen begehrt es innerlich immer wieder auf. Warum kann manches nicht einfacher auf den Punkt gebracht werden? Warum immer wieder diese umständlichen Formulierungen und Schachtelsätze? „XY (1994) vermerkt bezüglich …“ Ich fühle mich zurückversetzt ins Seminar. Wer sind all die Leute, die zitiert werden? All die Anmerkungen und Fußnoten lassen mitunter kaum ein flüssiges Lesen zu. Okay, okay, nun dürfte mir gleich ein „Warum fragst du so blöd? Das ist nun mal ein wissenschaftlicher Text!“ entgegenballern. Andererseits ballere ich zurück: „Schön und gut - und wer soll das lesen?“ zurück. Das „Für wen machen wir eigentlich den ganzen Scheiß?“ - diese Frage stellte ich mir hunderte Mal in den Hörsälen und Seminarräumen. Nur für uns? Köcheln im eigenen Sud? An der Uni fühlte ich mich immer dermaßen abgeschottet von der realen Welt - so dass ich beschloss, die Welt lieber selber zu erkunden und mit einfacheren Worten - quasi für jedermann - zu beschreiben.
Oh mein Gott, ja. Was ist denn nun mein Fazit? Soll dieses Geschreibsel etwa eine Rezension sein? So was in der Art. Einfach stillschweigend in die Ecke würde ich ein mir zugeschicktes Buch nicht legen. Nehme ich die interessanten Passagen im Buch über Street Art und Hip Hop dazu, so komme ich glatt zu einer Fifty-Fifty-Situation. Schwerlich kann ich jedermann / jederfrau empfehlen: Los ab, kauft Euch diesen Wälzer! Wer jedoch völlig offen und interessiert ist und zudem das nötige Kleingeld über hat (und nicht die 29 Euro mühsam zusammenkratzen muss), der kann gern zugreifen. Interessante Kapitel / Interviews wird jeder finden! Versprochen!
Fotos: Marco Bertram, Frank Langkabel, Karsten Höft
> zu den turus-Fotostrecken: Fußball in Deutschland und Europa
Benutzer-Bewertungen
Die Wissenschaft ist übrigens nicht darauf aus, etwas zu erklären. In diesem Fall möchte sie ein Katalog an Präventionsmaßnahmen erstellen. Meiner Meinung nach haben solche Dinge keine guten Auswirkungen auf das Kurvengeschehen. Das kann natürlich nur verhindert werden, wenn niemand Fragebögen oder ähnliche sachen abgibt. Relevante Leute/Gruppen geben ja auch nie was ab. Es sind ja in der Regel nur Kloppis. Eigentlich ist das ja auch schon bekannt. Und auch die "Großen" haben festgestellt, dass die Auswertung der Statistiken sinnlos verschwendete Zeit war.
Interessant wird es bei den psychologischen Ansätzen, wo ich selbst als großer Kritiker sagen muss, dass es doch relativ der Wahrheit entspricht.
Sozialpsychologen z.B. sagen: "Hobbys gibt es nicht..."