Die Chemiker hatten mit einem Dreiteiler über die BSG Chemie Leipzig und ihre Fans vorgelegt, nun legte der 1. FC Lokomotive Leipzig mit einem echten Brocken nach. „125 Jahre - Vom VfB zum 1. FC Lokomotive Leipzig - Die Geschichte des Ersten Deutschen Meisters“. Herausgeber ist der Verein, als Autoren wirkten Thomas Franke, Marko Hofmann und Matthias Löffler mit. Namen, die der eine oder andere sicherlich kennen wird. Zu haben ist das Werk für 39,90 Euro. Klingt teuer? Ist es aber nicht, denn das gute Stück ist sage und schreibe 528 Seiten dick, besitzt einen festen Einband, und zu sehen gibt es unzählige Fotos und Abbildungen. Allein bei der inneren Einkleidung blieb mein Auge minutenlang auf den abgebildeten Eintrittskarten hängen. Sportclub Rotation Leipzig. BSG Einheit Leipzig-Ost. 1. FC Lokomotive Leipzig vs. SSC Neapel. FDGB-Pokalendspiel am 13. Juni 1987. Tottenham Hotspur vs. 1. FC Lokomotive Leipzig. 1. FC Lokomotive Leipzig vs. Wolverhampton Wanderers am 24. Oktober 1973. Da war ich gerade mal zwei Monate alt. Tsss, da soll einer noch mal sagen, von Tradition könne man sich nix kaufen. Wenn ich all die Eintrittskarten und Fotos sehe, bekomme ich Gänsehaut. Was da für Geschichten hinter stehen. Wahnsinn!
125 Jahre VfB / 1. FC Lok Leipzig: Ein megafetter, genialer Brocken zum Geburtstag
Apropos Eintrittskarte. Mir fällt doch sogleich die Karte aus der Saison 1993/94 ins Auge. Unübersehbar auf dem Ticket das fett gedruckte „Axtmann“. Dieser Schriftzug sah auch auf den Trikots so hübsch furchteinflößend aus. Axtmann! Die Karte vom Aufstiegsspiel gegen den 1. FSV Mainz 05 ist auch dabei. Das war damals echt eine kleine Sensation, als der VfB Leipzig den Sprung in die 1. Bundesliga gepackt hatte. Unvergessen die Fernsehbilder vom Aufeinandertreffen der Leipziger und des 1. FC Dynamo Dresden im alten Zentralstadion. Die Fetzen, oder besser gesagt die maroden Sitzbänke, segelten durch die Lüfte - und für manch einen Fernsehzuschauer im Schwabenland muss das ja ein echter Kulturschock gewesen sein. Oh Gott, die Ossis drehen durch! Die Sachsen kommen!
Am letzten Spieltag der Saison 1993/94 kamen Karsten und ich auch in den Genuss, ein Erstligaspiel des VfB Leipzig mitzunehmen. Die Vereinsführung des TSV Bayer 04 Leverkusen zeigte sich spendabel und organisierte den Bayer-Fans einen Sonderzug in die Messestadt. Rund 700 Fans nahmen das Geschenk dankbar an und staunten in Leipzig nicht schlecht über die maroden Altbauten. Wohl angeheizt von all den vorherigen Fantreff-Berichten über den VfB Leipzig legten die Leverkusener Hools auch schon mal den Vorwärtsgang ein, um sich ein paar sächsische Sportsfreunde zu kaschen. Viel los war allerdings an jenem Tage nicht mehr. Untergangsstimmung im weiten Rund des Zentralstadions. Die Euphorie war verflogen, der VfB Leipzig musste sich wieder in die 2. Bundesliga verabschieden. Heute wäre das sicherlich kein Akt, damals war der Stellenwert des Unterbaus der 1. Bundesliga bei weitem nicht so hoch.
Über den weiteren Werdegang des VfB Leipzig und des neu gegründeten 1. FC Lokomotive Leipzig hatte ich in der Vergangenheit bereits viel geschrieben. Von daher werfen wir lieber einen Blick in das fette Buch. Wie zu vermuten geht es chronologisch von 1893 bis ins Jahr 2018. Unterteilt ist das Werk in fünf Abschnitte: 1893-1945 Vom Rekordmeister zum Pokalsieger. 1945-1963 Von der SG Probstheida bis zum Leistungszentrum. 1963-1991 Der 1. FC Lok macht sich einen Namen. 1991-2004 Aufstieg und Fall des neuen alten VfB Leipzig. 2004-2018 Der Neubeginn in Liga 11.
Vorneweg gibt es nach dem Grußwort erst einmal einen Stammbaum - und dieser ist wirklich wichtig! Wer stolperte nicht einmal bei der Recherche über den 1954 ins Leben gerufenen SC Lokomotive? Wie jetzt? War das nicht eigentlich die BSG Chemie Leipzig, die es von 1954 bis 1963 in der Form nicht gab? Wie an vielen Standorten war der DDR-Fußball vor allem in den 1950er und 1960er Jahren von steten Namensänderungen und Fusionen geprägt. 1963 entstand in Folge der Fusion des SC Rotation Leipzig und des SC Lokomotive der SC Leipzig, 1966 wurden die Fußballer aus dem Sportclub herausgelöst und es entstand der 1. FC Lokomotive Leipzig. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Fußballsport als SG Probstheida weitergeführt. Aus dieser wurde 1949 die BSG Erich Zeigner und im Jahr darauf die BSG Einheit Leipzig-Ost. 1954 entstanden dann der SC Rotation und der SC Lokomotive, bei der zu jener Zeit zahlreiche Chemiker spielten.
Verwirrend, oder? Wie oft musste ich beim Blick über den Tellerrand bei der Arbeit an den Fußballfibeln über den BFC Dynamo und den F.C. Hansa Rostock nachprüfen, wie genau die Vereine in der Saison XY hießen. Aus heutiger Sicht bei weitem einfacher und übersichtlicher wurde es nach der Umstrukturierung 1965 und 1966. Aber gerade die Zeit vor 1966 ist irre spannend. Für mich persönlich ist die Ära von 1945 bis 1966 mit die faszinierendste Ära des (ost-)deutschen Fußballs. Allein die im Buch abgebildeten Fotos! Ein Gruppenbild - auf den dunklen Trainingsjacken der fette Schriftzug „EINHEIT OST“. Cool, solch eine Jacke hätte ich mal gern. Der Untertitel zum Foto: „21. November 1953. Einen Tag vor dem 4:2-Sieg bei Stahl Thale besichtigte die Mannschaft von Einheit Ost die Baumannshöhle im Harz. Zwei Jahre später fuhr im Bruno-Plache-Stadion „Täve“ Schur am 9. Mai 1955 vor 55.000 Zuschauern einen Etappensieg bei der Internationalen Friedensfahrt ein. Kurz davor gab es ein 1:1 zwischen dem SC Rotation und dem FC Bayern München zu sehen.
Was es nun ganz genau mit dem SC Lokomotive Leipzig auf sich hatte, ist auf den Seiten 120 bis 132 zu lesen. Für Geschichtsliebhaber sicherlich eines der spannendsten Kapitel, schließlich gehört der SC Lokomotive sowohl zur Vereinsgeschichte der BSG Chemie Leipzig als auch des 1. FC Lokomotive Leipzig. „Wer spielt besser als die Brasilianer? Nur die Leipziger Eisenbahner!“ Kein Wunder, dass dieses witzige Foto aus dem Jahre 1958 auch im klasse Werk von Jens Fuge zu finden ist.
Für ein gewisses nostalgisches Kribbeln sorgen auch die Fotos und Texte zu all den Europapokal-Schlachten von 1963 bis Ende der 1980er Jahre. Erste Runde im Messe-Cup am 11. September 1963: Újpesti Dózsa traf in Budapest vor 20.000 Zuschauern auf den SC Leipzig. Im Jahr darauf trafen die Leipziger auf den Wiener Sport-Club, wiederum ein Jahr später war Leeds United der Gegner. Bei Eiseskälte wurde auf einer Schneedecke im Zentralstadion gespielt, beim Rückspiel in Leeds wurden die Leipziger Spieler und Betreuer verwöhnt. Beim offiziellen Bankett gab es Schwedische Vorspeise, Filetbraten in Wein, englischen Käse, Weihnachtspudding und gefüllte Dörrobsttörtchen. Wie gesagt, wir sprechen hier vom Jahr 1965. Das muss für die Leipziger Delegation eine Wucht gewesen sein.
Witzig sind auf Seite 246 die Schilderungen eines Arsenal-Fans, der am 27. September 1978 seine Mannschaft nach Leipzig begleitet hatte. Mit zwei Bussen reiste die Anhängerschaft des Arsenal FC an, immer wieder wurden (wie heute) Zwischenstopps an den Raststätten eingelegt. Im Stadion selbst zeigten sich die englischen Fans ein wenig irritiert, da es auf der anderen Seite eine wüste Keilerei gab. Fans anderer ostdeutscher Vereine waren an jenem Abend nach Leipzig gefahren, um sich mit den Lok-Fans zu messen. Die Arsenal-Anhänger erlebten indes einen friedlichen Abend, später wurde im Spieler-Hotel noch mit der Mannschaft feuchtfröhlich gefeiert. Kopfkino an!
Und so geht es im Buch von Saison zu Saison. Logisch, dass ich rein zeittechnisch noch nicht geschafft habe, all die Texte im Buch zu lesen. Ich hatte mir das eine oder andere Kapitel herausgepickt und erfreute mich an all den Fotos und Abbildungen. Auf Seite 423 gibt es tatsächlich ein Foto vom eingangs erwähnten Bundesligaspiel gegen die Werkself zu sehen. Bernd Schuster konnte sich auf dem Foto gegen Trommer und Opoku durchsetzen. Und ja, mir war völlig entgangen, dass Dragoslav Stepanovic 1999 Trainer beim VfB Leipzig war. Der Start ins Neue Jahrtausend verlief nicht wirklich goldig, aber wie sagte einst „Steppi“? Lebbe geht weiter!
Am 16. Mai 2004 fiel gegen den VfB Auerbach der letzte Vorhang. Der VfB Leipzig war Geschichte. Bereits am 10. Dezember 2003 gründeten 13 Fans in der Gaststätte Treibhaus den 1. FC Lokomotive Leipzig e.V. neu. „Ein Ende ist auch ein Anfang“, hieß es auf einem langen Spruchband beim besagten Spiel des VfB gegen Auerbach. Wohl wahr! Nur wenig später gab es im Zentralstadion einen Zuschauerrekord in der 3. Kreisklasse zu vermelden. Gegen Großdeuben strömten 12.421 Zuschauer auf die Ränge. Der 1. FC Lok war wieder da!
Fazit: Es ist weniger ein Buch über die Fans (wie es beim dreiteiligen Band über die Chemiker der Fall ist), jedoch gibt es so oder so von mir eine klare Kaufempfehlung! Es ist ein klasse Buch geworden - und zwar nicht nur ein Buch für Lok-Fans.
Fotos: Marco Bertram