„Los Marco, schnapp dir mal dein Rad und hol bei Rewatex in Köpenick die Sachen ab…“ Von Waldesruh aus düste ich durch den Wald bis zum S-Bahnhof Köpenick und bog dann rechts ab in die Mahlsdorfer Straße. Das VEB Kombinat Rewatex hatte dort eine große chemische Reinigung, und als Knirps reihte ich mich im grauen Flachbau ein und zeigte dann der Frau im Kittel meine Papiermarken. Verrückt! Hätte ich damals Mitte der 1980er ahnen können, dass ich 35 Jahre später dort nach dem Spiel 1. FC Union Berlin vs. Borussia Dortmund auf ein Kaltgetränk sitzen würde? Gegen Dortmund? Bundesliga? Zu abstrakt! Wie sollte das gehen? Die Mauer würde schließlich noch in 100 Jahren stehen, oder nicht? Was deutete 1984 darauf hin, dass der Ostblock inklusive DDR fünf Jahre später zusammenbrechen würde? Nichts! Damals ging ich in die 10. POS in Mahlsdorf-Süd, und Stefan, einer meiner besten Schulfreunde, trug ab und zu einen langen rot-weißen Strickschal. Kumpel Martin hatte indes auf seinem Hausaufgabenheft einen BVB-Aufkleber. Was das solle, fragte der strammrote Mathelehrer. „Bist du jetzt Fan der Berliner Verkehrsbetriebe, oder was?“, fragte der Lehrer. Martin verdrehte nur die Augen und dachte sich vielleicht. Halt´s Maul, du Depp, irgendwann werde ich mal ein Spiel der Borussen sehen! Und zwar live in einem Stadion!
1. FC Union Berlin schlägt den BVB mit 3:1: Ganz Köpenick feiert bis tief in die Nacht
Ob Stefan und Martin gemeinsam am gestrigen zur Alten Försterei pilgerten, entzieht sich meiner Kenntnis. An beide gedacht habe ich auf jeden Fall. Gedacht habe ich auch wieder einmal an die 1990er, als der Ostberliner Fußball (apropos, Hertha ging es bis 1997 ja auch nicht allzu dolle) einfach nichts gebacken bekam. Relativ häufig schaute ich bei den Heimspielen der Eisernen vorbei. Aufstiegsrundenspiele gegen Wolfsburg (1992) und Bischofswerda (1993), Regionalligaspiele gegen Lok Altmark Stendal und Hertha Zehlendorf. Mal kamen 2.000 Zuschauer, gegen Zehlendorf waren es unter der Woche exakt 975 unentwegte Union-Fans. Quasi das letzte Aufgebot. 1995 ging es dem Verein richtig dreckig. Es drohte das endgültige Aus.
Von 1992 bis 1994 stand ich auch einige Male auf der Dortmunder Südtribüne. Das Westfalenstadion war bei weitem noch nicht so groß wie heute. Legendär waren im Block 13 die Enge, die fliegenden Bierbecher beim Torjubel, das reihenweise Herunterfallen und der spontane Einsatz von Pyrotechnik. In Dortmund erlebten Karsten und ich, als direkt hinter uns rote Fackeln aufflammten. Ja, da bekam man schon mal nen bissel Schiss. Vor allem, weil jeder auf der Süd immer gut getankt hatte. Und 25 Jahre später? Da holt sich der BVB 09 eine 1:3-Packung beim 1. FC Union Berlin ab! Was für eine Geschichte! Der Fußball hält immer wieder dicke Überraschungen bereit. Und Totgesagte leben länger! Ab mit dem Fünfer ins Phrasenschwein!
Am gestrigen Nachmittag grillte ich gemeinsam mit unserem größeren Sohn in Mamas Garten in Mahlsdorf. Der Sohnemann ist inzwischen so alt wie ich damals war, als mich Mama mit dem Fahrrad zum Hultschiner Damm oder nach Köpenick schickte. Einkaufen in der HO-Kaufhalle, Wurst holen bei Mückner, Wäsche abholen bei Rewatex. Nach dem Grillen ließ ich es mir nicht nehmen, mit dem Sohnemann nach Köpenick zu fahren. Mit der Straßenbahnlinie, die zu DDR-Zeiten die Nummer 83 hatte. Von Mahlsdorf nach Wendenschloß. Der Verlauf ist noch der gleiche. Nur die einstige Linie 82, die von Hubertus bis Ostkreuz tuckerte, gibt es nicht mehr.
In der Bahnhofstraße und in der Altstadt Köpenick nutzten Fußballfreunde jede Gelegenheit, um das mit Hochspannung erwartete Spiel zu sehen. Gut was los war auch in der großen Kneipe am Müggelheimer Damm, die von BVB-Fans gern genutzt wird. Bunt gemischt wurde auch dort das Spiel verfolgt. Riesig war der Jubel bei den drei Treffern der Eisernen. Nur einmal durften die schwarz-gelben Fußballfreunde jubeln. Und zwar, als García drei Minuten nach der Führung der Union durch Marius Bülter in der 22. Minute ausgleichen konnte. In der zweiten Halbzeit legte Bülter einen weiteren Treffer nach, Andersson machte eine Viertelstunde vor Abpfiff den Sack zu. 3:1!
Immer wieder sauste die Polizei mit Blaulicht durch die Köpenicker Straßen. Am Himmel kreiste ein Hubschrauber. Es soll zu einem Pfeffersprayeinsatz im Gästeblock gekommen sein. Kurzmeldungen tickern auf dem Handy stetig ein. Es soll einen Unioner Angriff über das Dach gegeben haben. Über das Dach? Das klang ein wenig skurril. Aber gut, allein beim Marsch wurden genügend Kanten gesichtet. Nach den beiden Pokalspielen in Dortmund haben sich beide Fanszenen etwas zu erzählen, und nun sollte in Berlin-Köpenick gezeigt werden, wo die Harke hängt.
Nach Abpfiff spazierten tausende Union-Fans mit einem Lächeln im Gesicht durch die Straßen. Am tropisch warmen Sommerabend sammelten sich zahlreiche Fans vor den Kneipen und tranken ein Bierchen. Auch dort, wo sich einst ungefähr die grauen, langestreckten Flachbauten von Rewatex befanden. Jeder quatschte mit jedem. Und alle waren sich einig: So richtig realisieren könne man das 3:1 gegen Dortmund erst am kommenden Morgen…
Fotos: Felix, Marco Bertram, P. Schoedler, Kado