Es sind genau diese Nachmittage, an denen man sich sagt: Mensch ja, deshalb liebe ich diesen Sport genau wie vor 30 Jahren. Ein gedrehtes Spiel von 0:3 auf 5:3 - das erlebt man nicht jeden Tag. Und in jenem Moment ist es ganz egal, ob man gemeinsam mit 2.000 anderen Fans oder mit zehn anderen Fans jubelt und den Emotionen freien Lauf lässt. Unvergessen zum Beispiel der Auftritt der Amateure des F.C. Hansa Rostock beim Brandenburger SC Süd 05 am Ende der vergangenen Oberliga-Saison. Innerhalb von vier Minuten drehten die Rostocker das Spiel von 0:2 auf 3:2 - und die rund 100 Hansa-Fans kamen gar nicht mehr aus dem Jubeln raus. Beim 3:2 hingen die Fans mit den Bierbechern an den Zäunen - und es schien, als ging es um den Titel oder die Entscheidung im Abstiegskampf. Es ging sportlich um gar nichts mehr, doch der kleine blau-weiß-rote Mob ging ab, als hätten die Hansa-Profis einen Sieg beim verhassten FC St. Pauli eingefahren. So ist Fußball. Überraschend. Emotional. Unerwartet.
Reaktion gezeigt! Von 0:3 auf 5:3 gedreht! Darum lieben wir diesen Sport!
Es sind auch genau jene Momente, bei denen ich mir sagen: Mensch ja, könnte man seinen Söhnen (in diesem Fall war nur der Größere mit dabei) einen besseren Nachmittag bieten? Und das Gute beim Amateurfußball: Es gibt noch Freiheiten. Kein Stillsitzen auf einer Plastikschale in einer modernen Arena. Stattdessen freies Umherlaufen und Erforschen der Umgebung. Irgendwas zu entdecken gibt es auf all den Sportplätzen immer.
Am gestrigen Nachmittag beim Auswärtsspiel des FC Polonia Berlin beim VfB Hermsdorf II wusste die Sportanlage in der Seebadstraße zu entzücken. Wobei der verwaiste Rasenplatz durchaus Wehmut aufkommen ließ. Was sei aus Hermsdorf nur geworden, fragte ein Besucher. Gute Frage. Also beim Kauf der Bratwurst kurz nachgefragt. Der Hauptplatz sei einfach nicht mehr zu halten gewesen. Mal waren es die Maulwürfe, mal waren es die Wildschweine, die für einen kaputten Rasen gesorgt hatten. Seit geraumer Zeit wird nur noch der etwas tiefer gelegene Kunstrasenplatz genutzt. Das Gute: Von oben hat man als Zuschauer einen prima Blick auf das Spielgeschehen, und für den Nachwuchs-Capo bot sich die 1a Gelegenheit, auf dem Zaun sitzend zum Megafon zu greifen.
Bei Ankunft an der Sportanlage war jedoch erst einmal das Erstaunen groß. Fünf Euro Eintritt?! Wie jetzt? Echt? Nen Fünfer abdrücken für ein Kreisligaspiel? Nein, das nicht. Der Eintrittspreis sei für Fußball im Doppelpack. Schließlich spielte im Anschluss der VfB Hermsdorf gegen die SG Stern Kaulsdorf. Weiteres Erstaunen. Stern Kaulsdorf? Was für ein Zufall! Auf dem Kaulsdorfer Sportplatz hatten wir einst in den 1980ern immer unsere Schulsportfeste. Fast jedes Jahr gab es dort für mich Silber beim 3.000-Meterlauf. Aber spielen die Kaulsdorfer aktuell nicht in der Bezirksliga? Und Hermsdorf? Wurde nicht mal in der Berlin-Liga gespielt? Ich kann mich gut daran erinnern, dass unser australischer Fotograf Glenn recht oft beim VfB Hermsdorf zu Gast war.
Und in der Tat, 2015/16 wurde noch in der Berlin-Liga (Verbandsliga) gespielt, am Ende jener Spielzeit ging es runter. Zwei, drei Pünktchen hatten gefehlt für den Klassenerhalt. Am Ende der zurückliegenden Landesliga-Saison musste dann der Absturz in die Bezirksliga hingenommen werden. In genau jene möchte der 2012 ins Leben gerufene FC Polonia Berlin recht bald aufsteigen. Am gestrigen Nachmittag wurde in der Staffel 2 der Kreisliga A die Visitenkarte bei der zweiten Mannschaft des VfB Hermsdorf abgegeben.
Nach dem Auftaktsieg bei Afrisko mussten gegen Cimbria Trabzonspor und beim Frohnauer SC II zwei Niederlagen hingenommen werden. Vor allem das 2:4 in Frohnau schmerzte sehr. In der Anfangsphase wurde Polonia komplett überrumpelt, in der zweiten Halbzeit wurde eine gute Leistung abgeliefert, doch der 0:4-Rückstand war eine zu hohe Hürde. In Hermsdorf würde es die sportliche Wende geben, so hörte man. Es wurde viel trainiert und viel besprochen.
Umso größer war das Entsetzen bei den rund 20 mitgereisten Fans und Freunden des FC Polonia Berlin, als es nach 23 Minuten bereits 3:0 hieß - und zwar für den VfB Hermsdorf II. Jannick Hugel brachte nach einem Abwehrfehler in der neunten Minute den Ball zum 1:0 per Heber über den Polonia-Keeper Adam Szymczyk unter. Einen weiteren schweren Patzer der gesamten Polonia-Hintermannschaft gab es nur fünf Minuten später. Wieder war es Jannick Hugel, der für die Hermsdorfer traf.
Polonia suchte jedoch gleich nach einer passenden Antwort. In den unteren Ligen können Rückstände schon mal schneller aufgeholt werden. Grund dafür sind unter anderen die teils deutlich kleineren Kunstrasenplätze. Während auf Naturrasen die meisten Abstöße irgendwo kurz hinter der Mittellinie auftreffen, landen sie auf den kleineren Kunstrasenplätzen schon mal gleich vorn mitten in der Gefahrenzone. Das Hermsdorfer Gehäuse schien jedoch vernagelt, selbst hochkarätigste Möglichkeiten konnten nicht genutzt werden. Auf der Gegenseite setzte sich Andreas Habedank vermutlich nicht ganz regelkonform durch und schloss von schräg rechts zum 3:0 ab. Jegliche Diskussionen halfen nix, der Schiedsrichter zählte den Treffer.
Nun Ruhe zu bewahren, schien nicht ganz einfach. Vorsorglich wurde der mit Gelb belastete Steven Florczyk ausgewechselt, für ihn kam in der 24. Minute Adam Brizinski ins Spiel. Bereits zuvor gab es in der 11. und 19. Minute zwei teils verletzungsbedingte Auswechslungen. Erwähnt werden muss an dieser Stelle zudem, dass der eigentlich sonst im offensiven Mittelfeld auflaufende Mateusz Kuras dieses Mal wieder in der Innenverteidigung ranmusste und - nachdem sich Polonia gefangen hatte - eine gute Leistung ablieferte.
Die dritte Niederlage in Folge? Selbst die zwei Niederlagen in Folge waren bereits Negativ-Rekord beim FC Polonia. Also dann? Eine Niederlage in Hermsdorf kam einfach nicht in die Tüte! Polonia drückte nun weiter, und auch die angereisten Fans ließen den Kopf nicht hängen. Von Minute zu Minute wurden diese nun lauter und gaben den Spielern echten Rückhalt. Nachdem direkt vor dem Pausentee Kevin Gawin der 1:3-Anschlusstreffer gelang, war wohl jedem auf Gästeseite klar: Hier ging noch was!
Stimme geölt mit einem Bierchen - und dann ging’s los! Die sich bereits warm machenden Spieler der SG Stern Kaulsdorf staunten nicht schlecht, was die kleine Polonia-Fan-Truppe auf die Beine stellte. Zu Gute kam in diesem Fall auch die bereits erwähnte Erhöhung, so dass Rufe und Gesang prima über den Sportplatz hallten. Kaum waren im zweiten Spielabschnitt sechs Minuten gespielt, da besorgte Konrad Cudny das 2:3. Der Stimmungspegel hob an, die Mannschaft drückte weiter. Nur eine Minute später umkurvte Dominik Drabik den Hermsdorfer Schlussmann und machte den Ausgleich klar.
Nun gab es kein Halten mehr. Als das vermeintliche 4:3 für Polonia fiel, schäumte bereits freudig das Bier aus der Flasche, doch wurde dieser Treffer nicht gegeben. Egal, nur wenig später war es wirklich soweit. Hermsdorf brach auseinander und Sebastian Czardybon traf aus dem Gewühl heraus zum 4:3 für die Gäste. Das Spiel war nun gedreht. Und es sollte nichts mehr anbrennen. Polonia nahm nun etwas das Tempo raus, kontrollierte aber weiterhin die Partie. Endgültige Sicherheit brachte das 5:3 in der 82. Minute, erzielt durch Michael Wolynski.
Eins, zwei, drei, Oberkörper frei! Nach Abpfiff wurde der Auswärtssieg gefeiert und wenig später vor dem Vereinsheim noch mit einem Bierchen angestoßen. In der Sonne wurde sich an die helle Hauswand gelehnt, und bei dem leichten Wind, der über die Wiese strich, schien es, als säße man irgendwo an der Küste in einem Strandkorb. Als dann später auch Abdul Afu Katerji die Kabine verließ, bekam er noch einen Lobgesang zu hören: „Ein Hoch auf unseren Schiedsrichter!“ Warum? Ganz einfach, er hatte unter dem Strich eine gute Leistung gezeigt. Bis auf die Situation vor dem 3:0 gab es nichts zu bemängeln. Mit einem Lächeln und einem Gruß verließ der Schiedsrichter schließlich das Vereinsgelände.
Und wir? Wir schauten noch kurz beim Auftritt der Kaulsdorfer vorbei. Diese hatten jedoch gestern nichts zu feiern. Mit 0:5 geriet die SG Stern beim Aufstiegsfavoriten unter die Räder. Und apropos, der Auftritt der Fans war der „Fußballwoche“ im Kurzbericht sogar eine Zeile wert. So heißt es wortwörtlich: „Polonia nutzte die Hermsdorfer Schwäche eiskalt, stellte nach den frühen Gegentoren um und spielte sich, angefeuert von 20 lautstarken Anhängern, in einen Rausch.“
Fotos: Marco Bertram