Eines gleich vorweg: Die Rostocker haben die Längsten. Das ist wohl unbestritten. Das haben die Hansa-Fans bereits im Mai 1992 im Gästeblock des Müngersdorfer Stadions bewiesen, als mal eben die Hose runtergezogen und das Prachtstück den Kölner Hools im Block 38 präsentiert wurde. Aber Spaß beiseite, vielmehr geht es um die längsten Anfahrtswege in der 3. Liga. Egal wohin. Eine gewisse Strecke ist immer zurückzulegen. Echte Nachbarschaftsduelle sind klare Fehlanzeige. Da ist es nach Magdeburg schon fast nen Katzensprung. Wenn man dies mit dem gestrigen Auswärtsspiel beim SV Waldhof Mannheim vergleicht. Rund 3.500 Hansa-Fans (manche munkeln sogar von knapp 4.000) füllten die gesamte Gästetribüne des Carl-Benz-Stadions und sorgten für eine phantastische Fußball-Atmosphäre. Das war nicht nur Petting - das war geiler Sex. Um es mal gleich auf den Punkt zu bringen. Kein Wunder, dass Kumpel Hansa-Tom vor lauter Freude eine Runde nach der anderen Light-Bier spendierte. Ich konnte gar nicht so schnell trinken - und das soll schon was heißen!
Genialer Rostocker Auftritt in Mannheim - persönliche Zeitreise in die 90er
HotWaldhof Mannheim! Für mich irgendwie das Osnabrück des Südwestens. Im positiven Sinne. Ich ahnte, dass eine Sause ins dortige Stadion ein echtes Saisonhighlight werden könnte. Und das nicht nur aufgrund der heimischen Fanszene, die mit ihren Freunden aus Frankfurt und Basel gut aufgestellt sein würde. Ich hatte den SV Waldhof bislang nur in den 1990ern gesehen. Und das auch nur auswärts. An einem Freitagabend im Südstadion beim SC Fortuna Köln, an einem verregneten Mittwochabend bei Hertha BSC vor rund 4.000 Verwegenen im Berliner Olympiastadion. In den letzten zwei Jahrzehnten hatte ich dann die Mannheimer aufgrund des Absturzes in Ober- und Regionalliga nur noch punktuell aus der Ferne beobachtet. Mensch ja, die müssten mal wieder hoch, meinte nicht nur ich. Nach drei vergeblichen Anläufen klappte es nun mit dem Sprung in Liga drei, und das Auswärtsspiel des F.C. Hansa Rostock wurde nach Bekanntgabe des Spielplanes sogleich fett markiert. Ganz, ganz fett! Mannheim war einfach ein Muss.
Da ich ahnte, dass das Ambiente dem an der Bremer Brücke in Osnabrück ähnlich sein könnte, zog ich dieses Mal die Ränge dem Innenraum vor. Einfach mal Fußball schauen wie vor zwei Jahrzehnten. Nicht eng gedrängt in einem Gästekäfig in der Ecke einer Arena, sondern eher locker mit ein paar Freunden im Sitzplatzbereich stehend. Karte bestellt und eine Mitfahrgelegenheit des Vertrauens fand sich auch. Bei einer Strecke (von Berlin aus) von über 1.200 Kilometer hin und zurück sollte man schon eine Portion Vertrauen in den Fahrer haben, denn er zog das Ganze komplett allein durch! Respekt! Gestern wurde mir noch mal deutlich, was es heißt mit Herzblut seinen Verein zu jedem Auswärtsspiel zu begleiten. Bei Wind und Wetter, auch unter der Woche. Wahnsinn, was Fußballfans - und das weltweit - so alles auf sich nehmen. Das würde mitunter viel zu wenig von den Vereinen und den Medien honoriert, meinte gestern Abend ein guter Freund zu mir. Wohl wahr!
Man muss sich das mal vorstellen. Kurz nach eins rollte in Rostock der Sonderzug in Richtung Mannheim los, um 2:46 Uhr wurden in Schwerin weitere Fans aufgenommen. Nach Plan traf der Sonderzug auf der Rückfahrt um 1:25 Uhr wieder am Rostocker Hauptbahnhof ein. Satte 24 Stunden für ein Auswärtsspiel deines Lieblingsvereins. Und da sind wir wieder bei der Länge! Da der Sonderzug mal eben 50 Meter länger als der Bahnsteig am Mannheimer Hauptbahnhof war, wurden die Fans gebeten, von hinten nach vorn zu laufen.
Für mich ging es indes um drei Uhr in Berlin los. Ab in die U7 und U6 zum Treffpunkt. In der U7 war gerade von Neukölln nach Kreuzberg das Partyvolk unterwegs, teils im skurrilen Outfit. Stylische Brillen, gewixte Doc Martens (bei echten Lappen), ach so tolle Fashion-Frisuren. Da kam ich ganz in Schwarz mit Funktionsjacke und Cargohose ein wenig wie der Spaßverderber daher. In der U6 über Mitte war indes eher Totentanz. Im Norden der Stadt fand ich im zweiten Anlauf in der stockdusteren Nacht den Treffpunkt auf einem verwaisten Parkplatz. Moin! Na dann mal los!
Tempomat bei 130 eingestellt und entspannt in Richtung Leipzig, Erfurt, Frankfurt und Mannheim. Der Südwesten ist auf meiner persönlichen Landkarte auch nach 30 Jahren Fußball eine eher weiße Fläche. In der Vergangenheit bleib es nur bei einzelnen Ausflügen nach Frankfurt, Stuttgart und Kaiserslautern - und das Ganze ist auch schon eine halbe Ewigkeit her. Der Norden, Berlin-Brandenburg, NRW und Polen waren eher das persönliche Fußballterrain. Davon ganz abgesehen, überlegt man sich mit zwei Kindern eher zweimal, ob man mal eben nach Mannheim oder Saarbrücken fährt zu einem Fußballspiel oder halt doch nach McPom oder ins Berliner Umland.
Dem Morgengrauen nicht entgegen, sondern diesen eher hinter uns im Rücken habend, ging es recht flott in Richtung Main-Region. Zwei Stopps an Raststätten, ein prüfender Blick, ein Käffchen, ein Duftnötchen gesetzt - weiter ging’s! Logisch, dass im Raum Frankfurt, Darmstadt und Mannheim auf weitere Pausen besser verzichtet wurde. Zumal mein Fahrer das HRO auch noch ganz offen in Form des Nummernschildes spazieren fuhr. Auf Anhieb wurde der Gästeparkplatz erreicht, und auf diesem durfte gestaunt werden, woher all die abgestellten Fahrzeuge kamen. Aus wirklich sämtlichen Ecken des Landes kamen die Hansa-Fans vorbei. Da konnte man sich wirklich vorstellen, dass Hansa Rostock einst als Bundesligist in den Top 10 der beliebtesten deutschen Vereine zu finden war.
Manche ließen auf dem Parkplatz leicht schwankend den Ball rollen, manche ließen das verdiente Bierchen die Kehle hinunterfließen, wiederum andere ließen das Bächlein direkt am Auto plätschern. Nach und nach setzten sich die Fans in Richtung Gästeblock in Bewegung und durften wenig später über den Zugang staunen, der aufgrund der Unterführung ein wenig an Millwall erinnerte. Zum einen hatte der Zugang einen angenehm ranzigen Charme, anderseits möchte man sich nicht ausmalen, wenn dort mal mit der Polizei die Luzie abgeht.
Gut vorbereitet war das aufgebaute Carating. Hundertfach wurde bereits das Bier in Plastikbecher gezapft. Nun ja, ganz wie Bier schmeckte das Light-Getränk ohne Schaum nicht, aber gab es in manch einer Arena schon mal Schlimmeres zu trinken. Da es im hinteren Bereich keine langen Schlangen gab, wurde dann doch ein wenig genascht. Recht problemlos erschienen auch die Zugfahrer, die allesamt ein cooles Sondertrikot anhatten, am Ort des Geschehens. Die bereitgelegten Choreo-Materialien wurden nun von eifrigen Helfern in die einzelnen Bereich geschleppt. Der aktivste der Fanszene wählte den zentralen Sitzplatzbereich der Hintertortribüne, und die an den Treppen aufgestellten Ordner konnten es recht bald bleiben lassen, all die Tickets zu kontrollieren. Immer wieder hasteten die Fans auf und ab und schleppten all das Plastik auf die Ränge.
Geplant war eine riesige Blockfahne aus Kunststoff, die den gesamten Bereich überspannen sollte. Aufgrund der Säulen erforderte das Ganze schon wenig Geschick. Zudem wurden in die drei Bereiche blaue, weiße und rote Doppelhalter aus Folie ausgelegt. Noch vor Einlaufen der Mannschaften wurde die riesige Blockfahne hochgezogen - und das Ganze funktionierte wie am Schnürchen. Eine ganze Weile wurde die Tribüne überspannt, danach kamen die Doppelhalter und der dazugehörige Rauch zum Einsatz. Das Gesamtbild: Stark!
Auch auf Heimseite ließ man sich nicht lumpen. Zu sehen gab es einen Panzer, darunter war in großen Lettern zu lesen: „Waldhof kämpft an allen Fronten“. Auch auf der dortigen Otto Siefling Tribüne stieg Rauch - in diesem Fall den Farben Schwarz und Blau - empor. Ein durchaus angemessenes Ambiente für ein Wiedersehen nach 24 Jahren.
Und was das Stadion betrifft, so wurde man nicht enttäuscht. Logisch, dass man sich im Groben das dortige Ambiente vorstellen konnte, doch wie es sich wirklich anfühlt, auf der Gästetribüne zu stehen, ist halt erst vor Ort wirklich möglich. Ganz klar, es fühlte sich ein wenig an wie einst vor 25 Jahren auf der Gästetribüne des Bochumer Ruhrstadions. Was waren das für geniale Zeiten, als dort die Gästestehkurve mal einfach die gesamte Hintertortribüne einnahm. Und in der Tat erinnerte das gestrige Erlebte auch ein wenig an die Bremer Brücke in Osnabrück. Diese Mischung aus einstiger Moderne und schmuddeligem Charme. Genial!
„Der Osten rockt!!!“ hatte ein kantiger Rostocker hinten auf seinem Shirt zu stehen. Wohl wahr. Was gestern Hansa fantechnisch auf die Beine gestellt hatte, war schon erstaunlich. Kumpel Tom kam neben mir gar nicht mehr aus dem Abfeiern raus. Mensch, kiek mal, die alten Hauer aus Schwerin! Und ach, der ist auch wieder da! Hansa hatte von Jung bis Alt alles aufgefahren. Bei einer Anreise von teils über 700 Kilometern eine echte Hausnummer. Aber gut, auf Mannheim hatte sich wirklich jeder gefreut. In Anbetracht dieses Aufgebotes schien es wirklich unwahrscheinlich, dass eine Mannheimer-Frankfurter Koalition die Gäste in Stadionnähe angreifen würde.
Zum Sportlichen: Auf dem Rasen entwickelte sich eine muntere Partie, in welcher der Gastgeber in der Offensive klare Vorteile zu verbuchen hatte. Der Aufsteiger aus der Quadratestadt spielte nach einer eher ruhigeren ersten Viertelstunde munter nach vorn und kam zu teils hochkarätigen Möglichkeiten. In der 18. Minute brachte Diring einen Freistoß auf das Gehäuse und Hansa-Keeper Kolke war zur Stelle. Nachdem wenig später Vollmann für Hansa eine nennenswerte Chance hatte, legte Mannheim gut los. Nach knapp einer halben Stunde traf Koffi den rechten Pfosten, wenig später konnte Diring das Spielgerät nicht unterbringen. In der 35. Minute war Kolke noch einmal zur Stelle, kurz vor der Pause wurde der Ball zu ungenau auf Deville gespielt. Hansa verteidigte häufig direkt vor der Gefahrenzone, hatte aber das Glück des Tüchtigen. Ein letzter Fuß war mitunter zur Stelle und konnte klären. Mit einem 0:0, mit dem die Gästefans zufrieden sein konnten, ging es in die Pause.
Und dann! Es waren im zweiten Spielabschnitt mal gerade zwei Minuten gespielt, als Omladic den Ball zu Breier spielte und dieser aus kurzer Distanz vollenden konnte. Jubelorgie auf der Gästetribüne, die Hansa-Fans kamen nun richtig in Schwung. Ein erhoffter Auswärtssieg?! Gerade wurde in der 60. Minute eine Uffta gestartet, als Christiansen aus zirka 16 Metern den Ausgleichstreffer erzielen konnte. Jubel, Trubel, Heiterkeit nun auf der Heimseite. Vor insgesamt 13.025 Zuschauern konnte der SV Waldhof jedoch nicht an die gute erste Halbzeit anknüpfen. Hansa hatte die Partie besser im Griff, kam jedoch selbst kaum zu richtig fetten Möglichkeiten.
Am Ende blieb es beim 1:1, das auf Heimseite aufgrund des zwischenzeitlichen Rückstandes mehr gefeiert wurde. Etwas zögernd kamen die Hansa-Spieler dann doch noch an den Zaun zum Abklatschen. „Geile Pyro, oder? Geile Pyro, oder?“, fragte ein Fan jeden vorbeilaufenden Spieler. Diese schauten nur ungläubig und ließen sich nix anmerken. Draußen hatte die Polizei kräftig aufgefahren, doch soweit erkennbar hielt sich diese am gestrigen Tag angenehm zurück.
Rückfahrt! Die Strecke zog sich im Gegensatz zur Hinfahrt dahin wie Kaugummi. Halb dösend wurde mit einem Auge auf die vorbeiziehenden Landschaften geschaut. Langsam wurde es dunkel und den Gedanken wurde freier Lauf gelassen. Erinnerungen an einstige Auswärtsfahrten in den 90ern wurden wieder wach. Damals ging es häufig mit einem Kumpel aus Frankfurt(Oder) im weißen Golf durch die Lande. Was würde wohl die Zukunft bringen, fragte ich mich damals. Würde ich auch in 10 oder gar 20 Jahren noch zum Fußball gehen? Nun stand ich am gestrigen Nachmittag selber im Block des Carl-Benz-Stadions, und es schien, als sei die Zeit ein stückweit stehengeblieben.
Plötzlich konnte ich auf der rechten Seite den riesigen „Monte Kali“ nahe der einstigen deutsch-deutschen Grenze sehen, und Erinnerungen an die über 1.000 Kilometer lange Wanderung im Sommer 2003 kamen wieder hoch. Wo ist die Zeit geblieben? Mein lieber Scholli! Wenig später legten wir Rast ein und oben am Himmel fegten die Wolken regelrecht am Himmel entlang. Eine milde Brise und die Dämmerung ließen an einstige Tramp-Touren denken. Vor 28 Jahren pennten ein Freund und ich in Frankreich an Raststätten und hofften auf ein zügiges Weiterkommen am nächsten Morgen. Die Brise und die dunklen Wolkenfetzen ließen auch Erinnerungen an die Segeltour im November 1999 aufkommen. Kurs halten! Immer voran! Dem Sturm und den meterhohen Wellen trotzen! Schiffbruch? Aufstehen - und weiter geht’s im Leben! Wieder Kurs aufnehmen!
Während der Wind blies, leuchteten ein Stück weiter die Lichter auf den dortigen Burgen nahe der A4 zwischen Erfurt und Gotha. Das mittelalterliche Burgenensemble „Drei Gleichen“ scheint in der Tat einen Ausflug wert zu sein. Wieder mal etwas dazu gelernt. Einsteigen und weiter ging´s. An der Büchse Bier nippelnd döste ich hinten vor mich hin. Respekt an den Fahrer, der uns sicher bis nach Berlin gebracht hatte. In seinem Auto fühlte man sich wie in Abrahams Schoß. Gleiches galt für die Gästekurve in Mannheim. You’ll never walk alone! Weiter geht’s! Segel setzen, Kurs aufnehmen!
Fotos: Marco Bertram, Matthias