Blöde Latte! Blödes Abseits! Die Leiden des jungen (und alten) Hansa-Fans

Blöder Pfosten! Blödes Abseits! Die Leiden des jungen (und alten) Hansa-Fans

Rituale müssen sein. Her mit dem Obstler! Samstag, 13:57 Uhr. Gleich ist Anpfiff. Aufgeregt werden die Handflächen auf den Oberschenkeln gerieben. Prösterchen! Fußball vor der Glotze zu gucken, ist ja eigentlich überhaupt nicht mein Ding, jedoch darf das „eigentlich“ fett unterstrichen werden. So langsam kommt man auf den Geschmack. Aber was heißt „Geschmack“?! Selbstverständlich ist es ätzend, dass man seit Monaten nicht mehr in die Stadien und auf die Sportplätze darf. Was soll man nun aber machen? Einfach nur zwischendurch aufs Handy kieken, wie es gerade steht? Noch blöder. Den Ticker verfolgen und nebenbei mit den Kindern spielen? Totale Folter. Das tat ich, nachdem mich Kumpels via WhatsApp geärgert - ja geradezu massiv provoziert - und gefragt hatten, wie es denn gegen die Roten Teufel vom Betzenberg stünde? Im Anschluss setzte ich mich ans Laptop und aktualisierte alle paar Sekunden den Live-Ticker. Abartig. Genauso nervenaufreibend wie in den 90ern, als wir immer auf die Videotexttafel 251 starrten und bei jedem kurzen Flackern der Tafel fast einen Herzkasper bekommen hatten. Wo fiel gerade ein Tor?

Dann lieber doch das Spiel live vor dem Fernseher schauen! Einfach in den Brandenburgischen Wäldern wandern gehen und erst später auf die Ergebnisse schauen, würde aktuell nicht funktionieren. Schließlich spielt der F.C. Hansa Rostock in der 3. Liga ganz oben mit! Spieltag für Spieltag ein Hoffen und Bangen. Bereits Ende der Saison 2019/20 hatte ich einige Spiele vor einer kleinen Leinwand verfolgt. Damals war es wenigstens noch in guter Gesellschaft in einer Kneipe möglich. Nach dem allerersten Lockdown war dies in Juni und Juli wieder machbar. 17. Juni 2020 - mit 4:0 hatte der FCH den FC Carl Zeiss Jena aus dem Ostseestadion gefegt, und der Rückstand auf Rang drei betrug nur ein Pünktchen. Die darauffolgenden Spieltage waren ein Bibbern und Zittern. Immerhin in Sachen Aufstieg und nicht wie 2014/15 in Sachen Abstiegskampf. 

Es wurde gejubelt, gezetert, geschimpft und angestoßen. Die lustige Runde im Kneipchen war immerhin ein kleiner feiner Ersatz für das schillernde, packende Stadionerlebnis. Bitter wurde es jedoch am 27. Juni 2020, als der F.C. Hansa in Würzburg mit 1:3 verloren hatte. Alles oder nichts. Nichts! Was für eine Kacke! Sorry, ja, das muss gesagt werden. Da im Anschluss der KFC Uerdingen mit 1:0 geschlagen wurde, blieb am letzten Spieltag noch eine Minimalchance. An jenem Tag war ich dann wirklich wandern. Oder war ich sogar im Ruhrpott? Ich weiß es gar nicht mehr genau. Mit 2:4 verloren die Rostocker in Chemnitz. Egal. Scheißegal. Die Konkurrenz hatte eh nicht mitgespielt. Ingolstadt gewann beim TSV 1860 München und wurde Tabellenvierter, was zur Relegation reichte, da der Drittligameister FC Bayern München II ja nicht aufsteigen konnte.

Ingolstadt. Da haben wir es. Der Bogen in die Gegenwart ist gespannt. Wie oft hatte man die letzten Wochen auf Ingolstadt geschaut?! Wie haben sie gespielt?! Alles ein Leiden. Das arme Nervenkostüm. Statt in der Gruppe wie am Ende der vergangenen Saison wird nun rein privat geschaut. Ein Haushalt plus ein Gast. Der Gast war / bin ich. Anders geht das momentan ja nicht. Obstler? Obstler! In der Mini-Runde hat inzwischen jeder sein Ritual. Das nicht gewaschene Shirt, der auf dem Tisch abgelegte Schal, das Reiben der Handflächen auf den Jeans. Und Obstler für alle! Erst dann das Bier!

Ich glaube, so intensiv Fußball geschaut habe ich seit Jahren nicht mehr. Hansa sei Dank. Vor Ort in den Stadien hatte ich mit Kamera und Notizblock meist viel zu tun, und der Blick schweifte stetig hin und her vom Rasen zu den Rängen und zurück. Nun aber bleibt nur der Blick auf den Bildschirm. Allein das sportliche Treiben befindet sich im Fokus. Inzwischen kenne ich die Spielernamen so gut wie einst in den 90ern, als es irgendwie noch viel einfacher war, sich alle die Aufstellungen zu merken. Damals flutschte es nur so. Aber okay, damals hatte ich auch noch unter der Woche Sportbild und Kicker regelrecht aufgefressen. Und in der Birne war auf den grauen Speicherplatten noch mehr Volumen frei. Gefühlt zumindest. Ich las mal, dass am Ende eines durchschnittlichen Lebens nicht mal ein Drittel der Speicherkapazität des Gehirns genutzt wurde. Wahnsinn! Und trotzdem weigert sich das Gehirn inzwischen, wenigstens die wichtigsten Spielernamen zu merken. Ja, ich weeß - und so einer schreibt Texte und Bücher über Fußball. 

Spaß beiseite, inzwischen bin ich bei Hansa Rostock ganz gut im Bilde und kann mir sogar die Gesichter der einzelnen Spieler merken. Von einigen sogar die Tattoos und die Schuhfarbe und die Dicke der Waden. Tja, und nun war der 1. FC Magdeburg zu Gast, den ich einst als „fehlendes Puzzlestück der 3. Liga“ bezeichnet hatte. Das war aber auch eine Wucht, als der FCM endlich den Sprung aus der Regionalliga Nordost in den Profifußball gepackt hatte. Was für eine Euphorie in der Börde. Und in Köthen. *Zwinkersmilie* Unvergessen bleibt auch das erste Aufeinandertreffen im Ostseestadion nach fast 25 Jahren. Unter der Woche knisterte es am Abend des 23. September 2015 auf den Rängen. Und zwar so, wie ich es zuvor selten erlebt hatte. Gänsehaut und feuchte Augen, als beide Fanlager Vollgas gaben. Das war / ist der Fußball, den wir alle lieben - und der uns „Dank“ Corona derzeit nicht vergönnt ist. Es bleibt der Blick auf den Bildschirm. Und der Obstler. Prost!

Der Rostocker Auftritt bei der SG Dynamo Dresden hatte mir persönlich sehr gut gefallen. Zwar gab es nicht sooo viele Torchancen, doch war erkennbar, das wirklich jeder für den anderen da war. Einer für alle - alle für einen. Es wurde geackert. In der Abwehr wurde manch eine Situation spielerisch geklärt. Der Punkt war verdient - mit diesem Punkt konnte man leben. Richtig genial war auch der 3:0-Sieg bei Türkgücü München. Nachdem in der Anfangsphase Türkgücü die Jungs von der Ostsee regelrecht überrennen wollte, kam Hansa Stück für Stück besser ins Spiel und erzielte letztendlich auch drei überaus schmucke Treffer. Eine echte Teamleistung. Obstler und Bier flossen an jenem Abend in kleiner Runde in Strömen.

Ob das gegen die Magdeburger auch so gut funktionieren würde? Es grummelte dezent im Bauch. Der FCM drehte zuletzt mächtig am Rad und ließ nach dem geplatzten Knoten in Form des 4:2-Sieges bei Viktoria Köln so richtig die Sau raus. Nach einem 1:1 gegen Mannheim gab es drei Siege zu null. 2:0 beim FC Bayern München II, 1:0 gegen den 1. FC Kaiserslautern, 2:0 gegen den FC Ingolstadt 04. Hut ab, was FCM-Trainer Christian Titz aus der zwischenzeitlich komplett am Boden liegenden Mannschaft rauszuholen vermochte. Bereits zuvor bei Rot-Weiss Essen hatte er bewiesen, dass er ein wirklich Guter ist. Nun in Magdeburg konnte er nach drei Niederlagen zum Auftakt seiner dortigen Trainerstation das Ruder komplett herumreißen. 

Der Tabellenplatz spielte keine Mandoline, es wurde ein Duell auf Augenhöhe. Und das, was bei Hansa Rostock bei den Auftritten bei Türkgücü München und Dynamo Dresden so gelobt wurde, zeigten am Samstagnachmittag die Magdeburger. Das berühmte „Einer für alle - alle für einen“ wurde auf dem Platz in die Tat umgesetzt - und der F.C. Hansa tat sich mit der hart kämpfenden FCM-Mannschaft wahrlich schwer. Thore Jacobsen arbeitete sich in der 7. Minute mal gleich nach vorn, verzog jedoch den Schuss, sodass der Ball rechts am Pfosten vorbeitrudelte. Stichwort trudeln. In der 25. Minute passierte etwas, was es zuletzt bei Hansa nicht zu sehen gab: Einen völlig unnötigen Ballverlust im Mittelfeld. In jenem Moment ahnte man es schon, oh Mann, Magdeburg reagierte schnell. Andreas Müller schickte Baris Atik, und dieser eilte allein auf das Rostocker Gehäuse zu und schob den Ball vorbei an Markus Kolke in die Maschen. 

1:0 für Magdeburg. Bedrücktes Nippen am Bier. Verdammte Axt! Das würde wirklich schwer werden. Was sagen die anderen Ergebnisse? Was macht Ingolstadt? Immer dieses Ingolstadt. Mit Grauen muss ich beim Namen Ingolstadt immer an die grausame Relegation im Mai 2010 denken. Unser Magazin befand sich damals noch in den Kinderschuhen. Unser größerer Sohnemann war damals erst paar Wochen alt, und ich verfasste nur aus der Ferne zwei kurze Berichte. Der F.C. Hansa Rostock stieg ab in die 3. Liga, kam jedoch ein Jahr später noch einmal für ein Jährchen hoch in Liga zwei. Ingolstadt. Ja, was machte denn Ingolstadt am gestrigen Nachmittag? Noch stand es 0:0 gegen den FC Bayern München II.

Hoffnung in Sachen Hansa nach einer halben Stunde. Nach einer Ecke bekamen die Magdeburger den Ball nicht aus der Gefahrenzone, und plötzlich hatte John Verhoek den Ausgleich auf dem Fuß. Er traf das Leder jedoch nicht richtig, und FCM-Schlussmann Morten Behrens konnte sich die Kugel greifen. Zum Mäusemelken. Aber so was von! Bier her! Und noch nen Obstler dazu. Vielleicht hilft das. Kurz vor der Pause wurden dann nicht nur Mäuse gemolken, sondern gleich ganz fette Ratten. Oder auch Feldhamster. So nen Pech! Zuerst schoss Löhmannsröben, doch sein Schuss blieb hängen, als nächstes versuchte sich Verhoek, und seinen Schuss konnte Behrens nur zur Seite abwehren. Bentley Baxter Bahn reagierte schnell und zog aus spitzem Winkel mit Schmackes ab. Alles richtig gemacht, außer, ja außer, dass die Kugel derb an den rechten Pfosten klatschte. Das hätte es sein können. Sein müssen. 

Pause. Mund abwischen. Nen Stück Puddingkuchen reinschieben und nochmals Mund abwischen. Das war zu wenig in Halbzeit eins, da musste nun im zweiten Spielabschnitt noch viel mehr kommen. So sah das auch Hansa-Trainer Jens Härtel, der nach der Pause mal eben drei neue Kräfte ins Spiel brachte. Oliver Daedlow für den Gelb-Rot-gefährdeten Jan Lohmannsöben, Nik Omladic für Philip Türpitz, Lucas Scherff für Tobias Schwede. Auf dem Platz änderte sich jedoch nicht allzu viel. Die Magdeburger blieben bissig und kampfstark und kamen in der 58. Minute fast zum 2:0. Kolke warf sich Conteh entgegen und konnte Schlimmeres verhindern. Zehn Minuten später durften aus Sicht der Rostocker wieder die viel zitierten Mäuse gemolken werden. Nach einer prima Ecke, einer folgenden Kopfballverlängerung von Verhoek und dem bereitstehenden Riedel hatten wir den Ball bereits drin gesehen, doch war Dominik Ernst auf der Linie zur Stelle und klärte. Ach Menno, so machte das echt keinen Spaß. Noch mehr Obstler und weiterhin geriebene Handflächen statt des so sehr ersehnten Ausgleichs.

Aber dann! Jubel! Endlich drin! Lukas Scherff hatte den Ball hereingebracht und Verhoek köpfte am zweiten Pfosten zum 1:1 in die Maschen. Geilomat! Die Freude währte jedoch nur wenige Sekunden. Der Pfiff ertönte - und man ahnte es bereits. Da half auch der erhobene Zeigefinger von Verhoek nix. Die Fahne war oben, der Treffer wurde nicht gegeben. Resignation machte sich breit. Das würde wohl nix werden. Als dann in der 90. Minute FCM-Spieler Ernst im Strafraum zu Boden ging, blieb die große Aufregung aus. Nun war es auch egal. Namensvetter Sören Bertram trat an und machte vom Elfmeterpunkt aus das 2:0 für den 1. FC Magdeburg. Stille im Raum. Totale Tristesse. Wie steht es in Ingolstadt? 2:1? Oh Mann, was für ein Mist. Die Felle schwammen davon. Erinnerungen an die vorangegangene Saison kamen wieder hoch. Das Hoffen und Bangen - am Ende die leeren Hände.

Neun Jahre kickt der F.C. Hansa Rostock nun bereits am Stück in der 3. Liga. 2015 stand der Verein sogar mit einem Bein in der Regionalliga. Dank des Erfurter 1:0-Sieges gegen Unterhaching konnte dann doch noch die Klasse gehalten werden. Dann lieber Hoffen und Bangen im Aufstiegskampf. Da will man dann doch lieber nicht meckern. Und dann! Ingolstadt kassierte das 2:2 - und der F.C. Hansa Rostock blieb in der Tabelle auf Rang zwei. Müde, schlapp und ausgelaugt musste sich trotzdem erstmal gesammelt werden. Drei Bier später sah die Welt dann doch wieder rosiger aus. Während auf dem Fernseher gerade die Unioner das 1:1 bei Bayern München machten, breitete sich wieder Optimismus aus. Nun gilt´s! Freitagabend! Vorlegen beim FC Bayern München II! Siegen! Drei Punkte holen! Und schau mal einer an, auch die SG Dynamo Dresden hatte beim Tabellenletzten mit 0:2 verloren.

Mein lieber Herr Gesangsverein. Das werden noch nervenaufreibende Spieltage. Sieben Partien sind noch zu absolvieren. Mit flauem Gefühl blicke ich vor allem dem Heimspiel gegen Ingolstadt entgegen. Je mehr sich das Saisonfinale nähert, desto kribbliger wird es nun. Würde ich im Innenraum stehen und nebenbei das Geschehen auf den Rängen beobachten, wäre es vielleicht nicht ganz so dramatisch. So aber - der Blick voll auf die Glotze. Voll aufs Spielgeschehen. Jede Sekunde. Ein echtes Leiden. Und ja, ganz ehrlich. Ich hätte mir nicht erträumen lassen, dass ich noch einmal so hippelig vor dem Fernseher sitzen und 90 Minuten lang Spiele verfolgen würde. Fußball - dat is im Stadion und auf dem Sportlatz. Glotze aus! Ich war dafür und verabscheute die Glotze. Nun aber bleibt einem nichts anderes übrig. Mit Maske ganz allein auf der Pressetribüne zu sitzen, war auch Hardcore. Dann doch mit einem Bier in der Hand als Blitzableiter. Freitagabend wieder. Obstler her! Handflächen trocken rubbeln. Auf geht´s Hansa, kämpfen und siegen!

Wer die etwas trostlose fußballfreie Zeit überbrücken möchte, dem sei die 512-seitige Lektüre ans Herz gelegt: Ende 2020 kam der 512-seitige Wälzer„Kaperfahrten - Mit der Kogge durch stürmische See“aus der Druckerei. Mitgearbeitet haben an diesem Buch rund 20 Personen (Heiko Neubert, Mia B. "Chelsea", Aumi, Keili, Klischi, Anika...), anzuschauen und zu lesen gibt es Berichte, Anekdoten und Fotos aus dem Zeitraum 1988 bis 2020. Das Buch ist direkt beim Herausgeber / Autor Marco Bertram bestellbar:Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! 

Weitere Infos zum Buch gibt es auch auf der privaten Webseite: www.marco-bertram.de 

Fotos: Marco Bertram, Arvid Langschwager

Artikel wurde veröffentlicht am
12 April 2021
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