Ein klarer Sieg gegen den bereits als Absteiger feststehenden VfB Lübeck wäre einfach völlig fehl am Platz gewesen. Ebenso in der Ferne eine deutliche Führung des TSV 1860 München in Ingolstadt. Nix da! Es sollte wieder einmal spannend und dramatisch werden. Ein Spiel wie die gesamte Saison. Führung der Ingolstädter - Rückstand der Rostocker. Es war nicht zum Aushalten. Oh weh, das Nervenkostüm. Wenn das in die Hose gehen würde. Die Party war am gestrigen Tage nicht nur fest eingeplant, sie war quasi vor den Stadiontoren bereits im vollen Gange! Alles für den FCH! Es wurde marschiert, gezündet, gefeiert und getrunken. Der soooo lang ersehnte Aufstieg in die 2. Bundesliga MUSSTE einfach klargemacht werden. Ohne Wenn und Aber. Eine Extrarunde über die Relegation kam gar nicht in die Tüte. Zumal es eventuell nach Osnabrück gehen würde. Osnabrück! Der Name klingt einfach schon nach Relegationsdrama. Oder gar der SV Sandhausen als Gegner?! Um Himmels Willen.
Emotionaler Dammbruch feinster Güte: Hansa Rostock dabei in Liga zwei!
Das konntest du dir echt nicht ausdenken. Ausgerechnet Soufian Benyamina, der von 2015 bis 2018 beim F.C. Hansa unter Vertrag stand, brachte die Lübecker in der 26. Minute in Führung. Meine Fresse, ging es mir schlecht. Der Blick auf den Rasen verhieß zu jenem Zeitpunkt auch nix Gutes. Nachdem in den ersten Minuten der VfB Lübeck mit Schmackes überrollt werden sollte, der Ball jedoch nicht reingehen wollte, schien die Mannschaft nach dem Rückstand arg verunsichert. Immer wieder rieb ich die Hände an meinen Hosen und wippte mit den Füßen. Ich knautschte den mitgenommenen Schal von meinem größeren Sohnemann und warf immer wieder einen Blick auf die anderen Ergebnisse. Los, Ihr Münchner Löwen, macht Ingolstadt platt! Die Schanzer wollten jedoch nicht plattgemacht werden.
Bereits ab der neunten Minute musste 1860 in Unterzahl spielen, fast zeitgleich wie der VfB Lübeck gingen die Schanzer mit 1:0 in Führung. Schnell ein Blick in die WhatsApp-Gruppe, auch in Berlin lagen bei den Freunden die Nerven blank. Mir wurde symbolisch ein Obstler auf meinen üblichen Platz hingestellt. „Tu was!“, wurde ich angefleht. Ja was denn? Ich saß auf der Tribüne und bekam es mit der blanken Angst zu tun. Ich studierte Mimik und Gestik des Stadionsprechers, der schräg vor mir saß. Er müsste doch so nen Gefühl haben. Scheißende Angst oder doch das lockere sichere Gefühl, dass die Jungs das da unten noch biegen werden. Ich wurde nicht recht schlau. Er ließ sich nix anmerken.
Und dann! Elfmeter für Hansa in der 41. Minute. Bentley Baxter Bahn übernahm Verantwortung, verzögerte kurz beim Anlauf und brachte den Ball schließlich unter. Die Augen wurden feucht, die Fäuste geballt. Alter Schwede, was für eine Entlastung. Es war ja nicht nur das reine Ergebnis. Vielmehr bestand nun Hoffnung, dass das Selbstvertrauen zurück ist und recht fix ein, zwei Tore folgen würden. Es wäre doch lässig, ab der 60. Minute mal bereits locker feiern zu können. Pustekuchen. Das ahnte ich bereits und ging mir erst einmal eine Bratwurst und solch ein bierähnliches Getränk holen. Mir tat der Magen weh, und ich befürchtete, dass es in der folgenden Stunde noch schlimmer werden könnte. Grundlage schaffen - so oder so. Zum Essen würde man wohl kaum noch großartig kommen.
Ich stand in der langen Schlange und blickte innerlich noch einmal zurück. Was für eine verrückte Saison! Ich weiß noch ganz genau, als wir zu dritt in einer Küche das Hinrundenspiel gegen die SG Dynamo Dresden geschaut hatten. Die Emotionen hielten sich in Grenzen. Wir tranken paar Bier, und eher flüchtig huschten die Blicke über den Fernseher. Das sollte sich zu Beginn des Jahres dramatisch ändern. Spiele vor dem Fernseher sind wirklich nicht so mein Ding, doch wurde das Schauen der Partien von Spieltag zu Spieltag intensiver. Hansa hatte sich in der Tabelle oben festgebissen. Am 6. März 2021 wurde das Heimspiel gegen den 1. FC Kaiserslautern gedreht, Damian Roßbach machte in der 90. Minute mit dem Kopf das 2:1 und ich zerlegte - wie einst in den 90ern, als sich das Schauen von Fußballspielen vor dem Fernsehbildschirm noch intensiver und emotionaler anfühlte - fast vor Freude meine Bude.
Ähnlich laut wurde es drei Tage später, als am Lotter Kreuz der KFC Uerdingen 05 mit 1:0 bezwungen wurde und Torhüter Markus Kolke in der Nachspielzeit einen Elfmeter halten konnte. Ran mit dem Obstler! Da ging wirklich was. Vergleichsweise entspannt wurde das Auswärtsspiel bei Türkgücü München. Nachdem die krasse Sturm-und-Drang-Phase der Hausherren in der Anfangsviertelstunde überstanden war, konnte Hansa recht geschmeidig mit 3:0 gewinnen. Beim folgenden 1:0-Sieg gegen Halle hieß es indes wieder zittern bis zur letzten Sekunde. Und das trotz spielerischer Überlegenheit.
Ein echter Stich ins Herz war der späte Ausgleichstreffer des SV Wehen Wiesbaden. Stille im Raum. Dem Himmel sei Dank kam auch die Konkurrenz nicht wirklich aus den Puschen. Wirklich dem Kollaps nahe war ich nach dem 3:2-Sieg beim SV Meppen. Nach der 2:0-Führung dachte man noch, cool, endlich mal keine Zitterpartie. Denkste. Meppen glich aus, und erst in der 90.+1. Minute brachte Türpitz mit seinem genialen Treffer die Erlösung. Ich war danach fix und alle, war eine Stunde lang trotz Bier und Obstler nicht mehr ansprechbar und bekam langsam echte Bedenken, was Herz und Kreislauf betrifft.
Würde das so weiter gehen, müsste bald „just for men“ als extra-strong-Version gekauft werden. Schlimmer noch, die ersten grauen Haare könnten wegen des wöchentlichen Stresses auch noch ausfallen. Und richtig, auch gegen den direkten Konkurrenten aus Ingolstadt wurde es ein Spiel auf Biegen und Brechen, das am Ende 1:1 ausging. 0:0 gegen Zwickau, 1:0 in Unterhaching. Ich denke, wir alle sind - zumindest gefühlt - um etliche Jahre gealtert. Das ging an die Substanz. Die zusätzliche Portion Stress gab es noch im Vorfeld des gestrigen Spiels gegen die Jungs aus der Marzipanstadt. Gefühlte 100-mal schaute ich am Donnerstag mobil ins Mailfach. Wo bleibt die Nachricht von Marit? Am frühen Abend trudelte sie schließlich ein. Auch für Pressevertreter war der Schnelltest Pflicht. Auch das noch. Googeln, Drähte heiß laufen lassen, einen Termin am Freitag um 19:30 Uhr gemacht. Am Moritzplatz würde es nur 1,5 Zentimeter tief in die Nase gehen. Gut zu wissen, bin ich in Sachen Nase extrem empfindlich.
Die Sache im Testzentrum verlief reibungslos. Mein Tester war Nulldrei-Fan und wir flaxten ein bisschen. Draußen holte ich mir erstmal beim Späti eine Kanne Bier. Schon wieder Pulsschlag sonstewat. Das Ergebnis. Her mit dem Ergebnis! Bäng! Negativ. Eine ordentliche pdf-Datei zum Ausdrucken. Das funzte. Per WhatsApp trudelten jedoch wieder die Nachrichten rein. Wie nach Rostock fahren? IC oder doch RE? Meine beiden Reisebegleiter hatten Bange aufgrund der möglichen Kontrollen. Da beide am Hansa-Buch mitgewirkt hatten, konnte ich beiden einen Redaktionsauftrag ausstellen, doch Bedenken gab und gibt es immer. Wenn, wie, wäre, was auch immer, irgendwas mit Fahrradkette.
Mich verschlug es am Freitagabend noch in einen Biergarten. Ich hatte ja den Test parat. Ein Liter Bier, dann ab ins Bett! Wer konnte schlafen? Niemand. Kurz nach fünf war ich hellwach und überbrückte die Zeit. Die Fahrt war entspannt, das Stelldichein an der Roten Erde vor dem Spiel war prima. Endlich wieder Fußball mit Fans. Überall böllerte und brannte es. Im Leichtathletikstadion hatten sich zahlreiche Hansa-Fans eingefunden. Es wurde sich warm gesungen, es wurden die Shirts und teils auch die Buchsen gelüftet, es wurde gefackelt und geräuchert. Eine geile Nummer! Jetzt ein frühzeitig gesicherter Sieg - und dann kann gerockt werden!
Beim 1:1-Pausenstand verharrte ich in der Bratwurst-Schlange und hatte die berühmten Köddel in der Buchse. Ich traute dem Braten nicht. Kurz vor der Pause hatte Ingolstadt zum 2:0 nachgelegt. Was, wenn die Löwen komplett auseinander brechen würden und Ingolstadt plötzlich 5:0 führt?! Nicht auszudenken, wenn nicht mal das Unentschieden reichen würde. Noch ein dummer Gegentreffer - und das könnte es womöglich gewesen sein. In der Offensive wurden in der laufenden Saison höchst selten die Partien gewonnen. Was zum Tragen kam, war die Arbeit nach hinten. Einer für alle, alle für einen - das stand bei Hansa nicht nur auf dem Papier. Wie oft wurden Bälle leichtfertig im Mittelfeld vertändelt, aber wie oft wurde der Ball auch wieder von einem Mitspieler zurückerobert?!
Kurz nach Wiederanpfiff hatte ich endlich mein alkfreies Bier und meine Wurst. Rein mit dem Grillgut! Den Gerstensaft quasi auf Ex! Immerhin waren nun die Magenschmerzen weg. Das Hoffen und Bangen blieben. Nesteln an der Spiegelreflex, Wischen am Handy, Rubbeln an den Knien. Immer wieder der Blick auf die Anzeigetafel. In der Schlussphase brachte der F.C. Hansa Rostock das Remis clever und routiniert über die Zeit. Als der Schiedsrichter die Partie abpfiff, brachen sämtliche Dämme. Welch ein Jubel, was für sagenhafte Emotionen! Neun Jahre nach dem bitteren Abstieg aus der 2. Bundesliga war die Wiederkehr nun in trockenen Tüchern. Wie bereits nach dem 3:2-Sieg in Meppen hatte ich gar nicht mehr die Kraft, um auch irgendwas zu brüllen. Ich ballte die Fäuste und weinte still vor mich hin. Ich war gerührt, ich war glücklich, ich dachte an meine beiden Söhne, ich genoss eher still.
Im Sekundentakt trudelten nun auf dem Handy die Grüße und Glückwünsche ein. Auf der Südtribüne ging indes gut die Post ab. Von außen kamen nun zig hunderte Hansa-Fans nach und füllten diese so richtig. Fackeln brannten, Rauch erhob sich, hinter dem Stadion wurden ganze Batterien zum Einsatz gebracht. Unten auf dem Rasen feierten die Spieler frenetisch den Aufstieg, auf den Rängen durften die glücklichen Gesichter bewundert werden. Der eine oder andere umarmte sich, (noch) genoss ich weiterhin still diesen Moment und fertigte Fotos und Videos an.
Noch einmal hallten das „Hansa forever“, das brachiale „Ahu!“ und die Klänge der 1995er Puhdys-Hymne durch das Ostseestadion. Danach ertönte der Onkelz-Klassiker „Auf gute Freunde“, und wie vor zwei Jahren beim DFB-Pokalspiel gegen den VfB Stuttgart zeigten sich die Fans wieder äußerst textsicher. Endlich löste sich die innere Anspannung, und es konnte draußen vor den Toren weitergehen. Auf Anhieb wurden ein paar Freunde getroffen, und das erste Bierchen konnte geöffnet werden. Neben uns zündelten auf dem alten Kassenhäuschen ein paar Fans vor den Augen der Polizei als sei es das Normalste der Welt. Anders als in Dresden hielt sich die Polizei angenehm zurück.
Während tausende Hansa-Fans nach und nach zum Rathaus zogen und dort weiterhin Feuer und Flamme den Aufstieg in Liga zwei feierten, suchten sich einige Rostocker das eine oder andere lauschige Plätzchen auf, um dort gepflegt das Ganze feuchtfröhlich zu feiern. Mit mitgebrachten Getränken wurde am Rande des Sportplatzes Rote Erde angestoßen und von alten Zeiten geschwärmt. Gejubelt wurde, als in der Ferne die Kölner gegen Schalke das 1:0 schossen und der SV Werder Bremen somit direkt abstieg. Was für eine kommende Zweitligasaison! Irre, einfach irre! Schalke, HSV, Nürnberg, St. Pauli, Bremen, Karlsruhe, Dresden, Darmstadt, Düsseldorf und Hannover. Und womöglich auch noch Köln. Manch einer kündigte seiner Liebsten schon mal an, dass es ab Sommer mal wieder etwas häufiger auf Reise geht. Klar doch, dass auch die Alten richtig Lust und Laune verspüren, mal wieder öfter auswärts zu fahren. Hoch die Tassen! An die Fackel! „Nie mehr dritte Liga, nie mehr, mehr!“
Als wir zu zweit abends im letzten Regionalexpress nach Berlin saßen, löste sich auch das letzte Quäntchen Anspannung. Die drei Stunden vergingen wie im Fluge. Ich ging ganz einfach meine Freundesliste durch und beglückte nicht wenige mit ein paar bierseeligen Sprachnachrichten. Diese durfte ich heute morgen, um sicher zu gehen und up to date zu sein, alle noch einmal anhören. Ich lachte Tränen und ballte noch einmal die Fäuste. Zweite Liga - wir kommen! Das wird ein Spaß!
Aufgepasst! Der 512-seitige Wälzer „Kaperfahrten - Mit der Kogge durch stürmische See“ ist noch verfügbar. Jeder bekommt auf Wunsch eine zum Aufstieg passende persönliche Widmung. Mit dem Kauf dieses Buches unterstützt Ihr auf direktem Wege unsere Arbeit. Band II wird es dann voraussichtlich Mitte 2022 geben. Inklusive dem gestrigen Aufstieg in die 2. Bundesliga und der kommenden Saison 2021/22 sowie noch älteren Geschichten aus den 1980ern (inkl. die P18-Versionen von Udopia). :-)
Das Buch, an dem rund 20 Hansa-Fans (Mia, Anika, Heiko Neubert, Chelsea, Aumi, Klischi, VS-Martin, NB-Frank, Baldi ...) mitgerabeitet haben, ist direkt beim Herausgeber / Autor Marco Bertram bestellbar: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!
Weitere Infos zum Buch gibt es auch auf der privaten Webseite: www.marco-bertram.de
Fotos: Marco Bertram, Tobi, Altona-Christian, Heiko B.
Ligen
Benutzer-Kommentare
Feiert schön!
Vor 9 Jahren... Ja, da begleitete ich auch den Rostocker Fanmarsch durch Hamburg-Altona (Auswärtsspiel bei St. Pauli). Vor 9 Jahren war mein größerer Sohn gerade mal 2 Jahre alt und wir gingen meist nur in Berlin zum Fußball. Mit Kind und Kegel quasi. Zu Tasmania, BFC und Eintracht Mahlsdorf.
Vor 26 Jahren heulte ich Rotz und Wasser vor Freude, als Rostock gegen Frankfurt in Berlin den Ausgleichstreffer erzielte. Vor 29 Jahren stand ich in Köln das erste Mal mit im Hansa-Block. Hansa war immer eine Liebe, die jedoch über die Jahre stetig wuchs.
Dass es zuletzt vor allem emotionale Hansa-Berichte gab, liegt vor allem daran, dass Hansa nach 9 Jahren endlich aufstieg und die Regionalliga Nordost sowie die unteren Ligen ruhten. Ich widme mich mit gleichem Herzblut dem BFC, der SpVgg Blau-Weiß 90 Berlin, der SG Dynamo Schwerin, dem FC Stahl Brandenburg, dem FC Polonia Berlin.. Meine Leidenschaft ist der Fußball - und das wird immer so bleiben.
Ich will auch gar nicht weiter herum labern, aber ne kurze Antwort musste sein.
Der BFC wird bei mir immer emotional verankert bleiben, das ist doch klar. Und die Liebe zu Hansa und der ganzen dortigen Region wird niemals enden.
Sport frei!
Marco
PS: Ich hätte die Antwort auch ohne Sternchen gegeben, doch ist die Bewertung Pflicht...
Sport frei! Robert