Es gibt immer das erste Mal. Der erste Kuss. Der erste Sex. Die erste Bambule-Tour. Das erste Schleimkeim-Konzert im SO36. Das erste Fußballspiel. Das erste Mal in einer Gästekurve im Stadion XY stehen. Das erste Mal sein Kind zu einem Spiel mitnehmen. Und, und, und. Das zurückliegende Wochenende war verdammt lang und bot einige solcher Momente. So fand ich mich arbeitstechnisch am Samstagabend in Kreuzberg im SO36 wieder, lauschte der Lesung von Frank Willmann und im Anschluss den Klängen einer Band namens „Bloody Marys“ und der neu ins Leben gerufenen Punk-Band Schleim-Keim, die einst im Jahre 1980 in Stotternheim bei Erfurt von den Brüdern Dieter „Otze“ und Klaus Ehrlich mit Andreas „Dippel“ Deubach gegründet wurde. „Otze“ hatte 1999 - drei Jahre nach der eigentlichen Auflösung der Band - seinen Vater mit einer Axt umgebracht und verbrachte den Rest seines Lebens (bis 2005) in einer psychiatrischen Klinik.
BFC Dynamo vs. Hansa Rostock II: Erinnerungen an Schnee, Schleimkeim und Baufressen
Mario „Isegrim“ „Lippe“ Lippmann und Hagen Schröder nahmen sich in jüngerer Vergangenheit der Sache an und geben nun wieder punktuell Konzerte. So auch am vergangenen Samstag im SO36. Die Bude war mit über 700 Gästen restlos ausverkauft - und man hätte bei der markanten Stimme des Sängers denken können, „Otze“ persönlich sei aus der Gruft gestiegen. Apropos Gruft. Ich musste sofort an die frühen 90er denken, als es Woche für Woche in die schärfsten abrissreifen Clubs im Ostteil der Stadt ging, um Konzerte zu besuchen und das Flaschenbier literweise den Rachen runter rinnen zu lassen. Für mich persönlich war der legendäre „Eimer“ in Berlin-Mitte das Highlight schlechthin. Eine Szenerie wie aus dem geilen Film „From dusk till dawn“.
Was für geile Zeiten! Bekanntlich ging es auch beim Ost-Fußball kurz nach der Wende äußerst turbulent zu. Stolz präsentierten ein paar Kumpels aus der Ausbildungsklasse nach den Wochenenden ihre schnieken neuen Jacken und Turnschuhe. Zu Hause stehe auch ne neue Stereo-Anlage. „Musste mal mit, Marco! Fetzt urst! Auswärts mit dem BFC! Kannste dann alles gratis besorgen!" Heilige Scheiße, ich dachte ich hörte nicht richtig, was die mir im Herbst 1990 alles erzählten. Ich überlegte kurz, ob ich mal mit Hertha oder dem damaligen FC Berlin mitfahren soll, doch nachdem am 03. November 1990 Mike Polley in Leipzig-Leutzsch durch Polizeikugeln ums Leben kam und weitere Berliner schwer verletzt wurden, verwarf ich den Plan und ging vorerst nur auf Partys und Konzerte.
So richtig zum Fußball kam ich dann erst im Herbst 1991, als ich meine Elektroniker-Fortbildung im Rheinland fortsetzte und dort bis zum Juli 1994 blieb. Es gab die ganze Palette in Ost (während meiner Touren in die Heimat) und in West. Im Februar 1992 sah ich Hansa Rostock das erste Mal auswärts in Leverkusen, am 02. Mai 1992 folgte der legendäre Auftritt der Rostocker Fans im alten Müngersdorfer Stadion in Köln. Bis zum Aufbruch mit dem Segelboot gen Sydney im Herbst 1999 sollten hunderte Fußballspiele folgen - nach dem Schiffbruch auf der Nordsee war das Oberliga-Duell BFC Dynamo vs. F.C. Hansa Rostock II am 04. März 2001 eines der ersten Spiele, nachdem ich im Jahr 2000 erstmal wieder einen Weg zurück ins „normale“ Leben finden wollte bzw. musste.
Das damalige Duell BFC vs. Hansa Amateure blieb hängen, da es noch einmal richtig geschneit hatte und somit mit einem roten Ball gespielt wurde. Bei winterlicher Kulisse verharrten die Zuschauer auf den verschneiten Traversen, auf dem ebenso verschneiten Platz konnte der BFC Dynamo das Spitzenspiel mit 3:1 für sich entscheiden. In der Gästekurve hingen unter anderen die Banner der „Plattföts“, der „Märtyrer“ und der Jungs aus Rügen, auf Heimseite hieß es am Zaun unterhalb des Nordwalls: „Wir wollen keine, woll’n wir nicht!!! Zerstört nicht unsere Fußballträume!“ Der BFC Dynamo war zu jenem Zeitpunkt auf Aufstiegskurs (im Fokus war die Relegation gegen den 1. FC Magdeburg), musste jedoch am Spieltag zuvor eine Punkteteilung bei Optik Rathenow hinnehmen. Es kam dort zu Tumulten und im Nachgang zu einigen hitzigen Diskussionen.
In der Folgezeit sah ich noch einige Duelle zwischen dem BFC Dynamo und den Amateuren des F.C. Hansa Rostock. Zu einer Premiere kam es am 8. Dezember 2007, als mich mein 13 Jahre jüngerer Bruder bat, sich und seine Kumpels nach Rostock zu begleiten. Vor 1.750 Zuschauern trennten sich Hansa II und der BFC im Ostseestadion (damals offiziell DKB-Arena) - und es war das einzige Mal, dass ich dort im Gästeblock stand. Eine weitere Premiere folgte im März 2014, als mein damaliger vierjähriger Sohn sein erstes Spiel mit Hansa-Beteiligung sah. „Wer sind die Roten? Wer sind die Blauen? Wer sind die Gelben? Wer sind die Weißen?“, fragte er immer wieder. Nun denn, BFC, Rostock, Schiedsrichter und Torwart. Immer wieder kletterte er über die Sitze der Haupttribüne und versuchte den Zaun zu erklimmen. Für ihn sollten später noch etliche Partien der Hansa Amateure folgen - allerdings nicht im Sportforum Hohenschönhausen, denn im Frühjahr 2014 trennten sich nach dem Aufstieg des BFC Dynamo in die Regionalliga Nordost die Wege.
Neuneinhalb Jahre später gab es nun am vergangenen Sonntag ein Wiedersehen. Nach fünf Stunden Schlaf - das Konzert steckte noch in den Knochen - pellte ich mich aus dem Bett und fuhr mit der Straßenbahn gen Hohenschönhausen. Ich holte meine Karte ab und ließ mir von einem Ordner den Zugang zum Gästeblock aufschließen. Premiere im Gästeblock des Sportforums. Ein interessanter Perspektivwechsel. Es ist erstaunlich, wie anders eine Sportstätte wirken kann, wenn man diese aus einem anderen Winkel betrachtet. Tip top in Ordnung waren die sanitären Einrichtungen des Gästebereichs. Und dies sollte an diesem Nachmittag auch so bleiben. Etwaige Tapezier- und „Renovierungs“-Arbeiten fanden nur ein paar Kilometer weiter westlich in Magdeburg statt, wo die Rostocker Handwerker fleißig Hand anlegten und sich sogar einen Plastikvorhang, einen Campingtisch und einen Sessel mitgebracht hatten.
In der eher karg gefüllten Gästekurve - aufgrund des Parallelspiels der Profis waren nur rund 100 Hansa-Fans vor Ort (plus Einzelne im Heimbereich) - hatte man jedoch Klebeband dabei, um das Smartphone auf einem Wellenbrecher zu befestigen. Andere waren mutig und legten es ganz behutsam ohne Befestigung aufs Gestänge, um mit einem Auge live das leicht versetzte Spiel der Hansa-Profis beim 1. FC Magdeburg zu verfolgen. Immerhin gab es - im Gegensatz zum Spiel im März 2014 - dieses Mal im Gästebereich einen eigenen Catering-Stand, an dem es Bier für vier Euro und ne Bratwurst für 3,50 Euro zu erwerben gab.
Da der Regierende Bürgermeister zu Gast im vom Abriss gefährdeten Sportforum war, wurde auf der Gegengerade eine passende Choreo gezeigt. „HSH unsere Heimat - Sportforum unser Zuhause“, hieß es oberhalb und unterhalb der Farben Weinrot-Weiß. Vor insgesamt 2.099 Zuschauern entwickelte sich auf dem Rasen eine muntere Partie, in der die Hansa Amateure die Gastgeber vor einige Probleme stellten. Nach dem Spiel meinte ein BFC-Fan: „Wir hätten heute noch zehn Stunden spielen können, ohne ein Tor zu schießen.“ Die Rostocker spielten mit Courage, verteidigten mit Bravour und hielten den Kasten sauber. Ab und an gab es einen Nadelstich nach vorn, doch wäre ein Rostocker Auswärtssieg wohl des Guten zu viel gewesen. Aber hey, nach sechs Niederlagen war dies auswärts der erste Punktgewinn der laufenden Saison. Ein kleines Kind wusste dies wahrlich zu feiern - bereits die ganze zweite Halbzeit lang brüllte es sich fast heiser und fuhr das gesamte hanseatische Gesang-Repertoire herunter. Später hakten sich sein Papa und paar umstehende Fans sehr zur Freude des Kleinen mit ein.
Kurzzeitig wurde gemunkelt, dass im Laufe der zweiten Halbzeit noch weitere Hansa-Fans, die in Magdeburg keinen Zutritt ins Stadion bekommen hatten, im Sportforum eintreffen könnten. Allerdings wurde daraus nichts. Der 100 Hansa-Fans feierten gegen 14:35 Uhr den 1:1-Ausgleichstreffer in der Ferne und eine Viertelstunde später unten am Zaun die Spieler der Amateure. Beim Gang aus dem Stadion blieb der Blick auf dem Handy. News aus Magdeburg? Und tatsächlich! In der 86. Minute tat sich etwas! Doch was nun? Verwirrung. Der Ticker von fussball.de meldete ein 2:1 für den 1. FCM! Treffer von Connor Krempicki. Na so ein Mist! Ein Blick auf den Kicker: 2:1-Führung für Hansa! Beim Treffer von Connor Krempicki handelte es sich um ein Eigentor! Wenige Minuten später waren die drei Punkte in trockenen Tüchern.
Der nächste Programmpunkt des Tages: „Skinheads & Popper“ (Block H im Exil) präsentiert: Lesung der Autoren Andreas Gläser und Florian Ludwig bei „Suppe & Stulle“ in der Konrad-Wolf-Straße. Was soll man sagen? Herr Gläser („DJ Baufresse“ & „Der BFC war Schuld am Mauerbau“) und Herr Ludwig („Brandenburg muss brennen, damit wir grillen können“ & „Mit Fußfesseln bin ich nicht so flott“) legten vor voller Hütte wirklich einiges auf die Waagschale und brachten die Zuhörerinnen und Zuhörer mächtig zum Abfeiern. Wieder einmal wurden Erinnerungen an alte Zeiten wach. Tipp-Kick-Turniere in der „Bornholmer Hütte“ und legendäres Armdrücken mit Andreas „Baufresse“ Gläser.
Der Abend nach der Lesung wurde lang und länger. Fußball verbindet - schon bald stand eine leckere Flasche Rum auf dem Tisch, und zu später Stunde erzählte mir BFC-Pepe noch von einstigen wilden Schlachten mit der Volkspolizei auf der Friedrichsfelder Fußgängerbrücke. Diese Schlachten seien mal ein Thema für sich, wurde mir beim Bier nach Mitternacht erklärt. Wohl denn, ich bleibe da mal dran!
Fotos: Marco Bertram
- Stadion im Sportforum Hohenschönhausen