Mit Sonnengott und Wunderfiguren - Zu Gast in Czempiń

Mit Sonnengott und Wunderfiguren - Zu Gast in Czempiń

Manchmal muss es einfach passen! Südlich der Peripherie von Poznań liegt der kleine Ort Czempiń mit seinen ca. 5000 Einwohnern, welcher mir in meiner Anfangszeit hier nur durch sein Stadion auffiel. Wenn man in die Peripherie von Kosćian möchte, die auch einige historisch äußerst spannende Orte aufweist, dann kommt durch Czempiń. „Da gibt es was, da muss ich hin!“, dachte ich mir schon lange. Nun kommt der ganz große Bogen im Text, denn der Text muss ja rund werden.

Jedes Jahr im Januar stellt sich der Pfarrer zum jährlichen Besuch vor und klopft an die Haustür. Es mag jeder seine Religion haben. Ich gucke mir dieses Treffen an, versuche aber im Nachgang, wenn er die Hausnummer in seinem Buch abgehakt hat, dem Vertreter Gottes ein paar Insider-Infos zu entlocken. Im letzten Jahr stand eine besondere Kirche im Fokus, in diesem Jahr hakte ich bei wundersamen Erscheinungen an Bildern und Figuren nach. Wo gibt es welche hier in der direkten und weiteren Umgebung? Darauf war er nicht vorbereitet, dass der nicht christliche „Barbar“ vor der Verabschiedung noch mit solcher Aufgabe kommt! Ganz cool holt er Luft, man merkt, dass es intensiv im Kopf arbeitet, und dann stellt er einen Ort vor.

„Ansonsten müsste man Gemeinde für Gemeinde durchgehen.“, meinte er noch. Die Suche im Archiv war effektiver. In einer 120 Jahre alten Abhandlung fand ich eine ausführliche Aufzählung von Gemälden und Figuren. Es geht um Tränen, es geht um plötzlich fliegende Objekte und Wunderheilungen. Nun bin ich wieder beim Thema Czempiń. Hier gibt es eine Figur, der man letztere Eigenschaft aufgrund von mündlichen Überlieferungen zuschreibt. Mit etwas Recherche konnte ich auch in etwa herausfinden, wo sich das heilige Objekt in der Kirche befindet. Der Ball sollte um 14:00 Rollen, Gottesdienste waren über den Vormittag und Abend verteilt. Es bestand Hoffnung auf eine erfolgreiche Mission.

Die Regionalbahn brachte mich zum Hauptbahnhof Poznań Główny, wo man merkte, dass die Schulferien 2024 bereits Geschichte waren. Schon lange nicht mehr habe ich ein so starkes Gewusel dort erlebt. Der letzte Sitzplatz im Zug nach Wrocław war meiner. Überraschenderweise stark leerte sich der Zug dann schon nach den Orten Luboń, Puszczykowo und Mosina. Es war übrigens ein Zug, in welchem es keine akustische oder visuelle Info zur nächsten Haltestelle gab! Oder vielleicht ein Mittel gegen Smartphone-Spielerei. Egal, wo man heute in öffentlichen Leben hinschaut, es klebt doch schon mehr als die Hälfte am flimmernden Bildschirm!

Czempiń empfing mich mit warmen Sonnenstrahlen und einem sehr sauberen Bahnhof. 54 Minuten bis zum Spielbeginn blieben mir für Teil 1 meiner heutigen Operation. Im Augenwinkel ein paar nette alte Häuser habend, aber schon aus der Ferne die geöffnete Tür sehend eilte ich durch den äußerst charmanten Ort. Halt! Für diese Charakterzuschreibung ist es noch zu früh. Das berüchtigte Gitter war geschlossen. „Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.“, heißt es doch immer. Obwohl auch diese Kirche, die übrigens dem Erzengel Michael gewidmet wurde, mit einigen Kameras ausgestattet ist, gibt es dennoch diese Sicherheitsmaßnahme.

Nichts zu machen! Den ganzen Weg zurück und noch weiter: Dann war das Stadion vor mir. Zwei Mannschaften machten sich warm. Perfekt! Hier sollte am sonntäglichen Nachmittag zur besten NOFV-Oberliga-Zeit Helios Czempiń den Konkurrenten Oldboy Wolsztyn herausfordern. Die Liga wird C-Klasa genannt, ist aber im Prinzip eine eigenständige Altherren-Liga. Es ist die einzige in Wielkopolska. In Polen spielen Männer erfahrungsgemäß ziemlich lange im normalen Ligageschäft mit.

In der C-Klasa werden 2x 40 Minuten gespielt und Wechsel sind unbegrenzt erlaubt. Auf jeder Hälfte war ein Schiedsrichter tätig. Das war aber heute eine Ausnahme. Eigentlich erfolgte schon die Umstellung auf das System „ein Schiedsrichter – zwei Assistenten“. Interessant. Das kennt man eigentlich nur aus anderen Sportarten. Ansonsten war es so, wie echter Altherren-Fußball sein muss! Eine ruhige Kugel wird selten geschoben. In den Mannschaften hast du einige Ehrgeizige, die auf die Gemütlichen treffen. Diskussionen sind somit vorprogrammiert. So war das hier auch. Oldboy Wolsztyn, ein scheinbar eigenständiger Altherren-Verein, ging nach einer knappen halben Stunde von 25 Zuschauern durch eine vollendete Hereingabe in Führung. Mit dem nächsten Angriff glich Helios aus. Heimatgefühle wurden bei der Toreinspielung in mir wach: Für Freunde der Klassik ist es der Cancan vom Komponisten Offenbach.

Für den Fußballpöbel ist es die Tormusik des FC Bayern München. Aber geil! In der Halbzeitpause kam ich mit einem Vertreter von Helios ins Gespräch, der gemessen an seinen vielen heutigen Aufgaben wohl fast den ganzen Verein allein organisiert. Das ist ja bei vielen Amateurvereinen Deutschland nicht anders. Gewürdigt wird das zu schwach, egal wo. Wir verabredeten uns für nach dem Spiel. In Hälfte II drehte Helios wirklich noch das Spiel ca. 10 Minuten vor dem Ende.

Schön hitzig wurde es. Damit meine ich nicht die Sonne. Übrigens zum Thema Sonne: Vor dem Spiel saß ich auf der unüberdachten Tribüne neben dem Gästesektor. Schon dort wurde ich vom Vertreter angesprochen und in den Schatten der Tribüne gebeten! Es ist eine scheinbar kleine Geste, aber in den ganzen Fußballjahren war es das erste Mal. Nach dem Spiel hatten sich alle wieder und spätestens bei leckerem Letscho, würziger Wurst und kalten Getränken war so mancher Zank wieder vergessen. Die Einladung zu Speis nahm ich dankend an.

Darüber hinaus gab es obendrauf noch ein Shirt! Sie sind hier sehr stolz auf den Namen Helios, dessen Hintergrund mich brennend interessierte, da der Verein den Namen in seiner 102-jährigen Geschichte nie gewechselt hat. Das muss man auch erst mal schaffen! Warum der Verein nach dem griechischen Sonnengott benannt wurde, bleibt leider ein Geheimnis, da die Gründer das Wissen mit ins Grab nahmen. Aber nicht nur die Gründer von Helios Czempiń. Griechische und römische Gottheiten und Begriffe kommen im polnischen Fußball immer wieder mal vor. Helios haben wir in Polen dreimal – in Białystok, Bucz (bei Leszno) und hier in Czempin. Wissend, dass ich eine Rarität in meinem Beutel trug, verabschiedete ich mich und bedankte mich vorher noch einige Male für die Gabe und im Allgemeinen für die große Gastfreundschaft. Das war erste Klasse!

Aber die Mission war ja noch nicht beendet, wenn ihr euch erinnern könnt. Leider war der Zugang wieder versperrt. Natürlich sieht man so den Hauptaltar und es gibt auch Bänke zum Beten, aber das hilft mir als historisch Interessierten nun gar nicht. Abwarten und Tee trinken. Letzterer wäre in eisgekühlter Form dringend nötig gewesen. Aber: Der Ort hat noch andere Highlights. Das Schloss aus dem 17. Jahrhundert hat eine detailreiche Fassade mit Ornamenten und Figuren. Der aufgegebene evangelische Friedhof mit seiner Grabkapelle ist auch versperrt, aber von der Mauer aus hat man von vielen Punkten aus einen guten Blick auf die Reste, welche noch teilweise gepflegt werden.

Was mir hier und auch in vielen anderen Orten um Poznań gefällt, sind die aus dem Boden gestampften Gradierwerke, wovon Czempiń auch eins besitzt. Hätte ich nicht meinen straffen Zeitplan nach dem Spiel gehabt, hätte ich es hier gut einige Zeit aushalten können.

Wieder an der Kirche wartend bin ich mit einer Oma ins Gespräch gekommen, die sichtlich überrascht war, das ein deutscher Tourist von dieser aus dem 14. Jahrhundert stammenden Holzfigur weiß. Noch eine knappe Stunde bis zur Messe und knapp 30 Minuten bis zum Zug. „Das kann eng werden! Wie unterschiedlich doch die Zeitwahrnehmung sein kann!“ An der Kasse im Supermarkt werden aus Sekunden Minuten, und in dieser Situation rast die Zeit wie einst Robert Kubica über den Asphalt. Dann taucht doch tatsächlich noch der Schlüsselmeister auf und schaltet mir noch das blaue Hintergrundlicht hinter dem Nebenaltar ein! Natürlich habe ich dann auch eine Geldspende dort gelassen, bevor ich geschwind gen Bahnhof aufbrach. Czempiń – Das bedeutet Gastfreundschaft an jeder Ecke! Damit hätte ich nie gerechnet, zumal wir heute den 1. September haben.

Bericht & Fotos: Michael

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