„Fast wie zu alten Zeiten …“ schwärmten zahlreiche Fußballfreunde beim Besuch des Traditionsspiels BSG Chemie Leipzig - 1. FC Union Berlin, das vor ordentlicher Kulisse am vergangenen Sonntag im altehrwürdigen Alfred-Kunze-Sportpark über die Bühne ging. 4.287 Zuschauer auf den Rängen. Ein proppenvoller Gästeblock, der vor der Zweitligapartie der Eisernen bei RasenBallsport Leipzig ein klares Zeichen setzen konnte. „Gestern, heute, morgen: Zeichen setzen für den Fußball, den wir lieben!“ war weiß auf rot auf dem langen Banner zu lesen. Dazu hunderte hochgehaltene Ausrufezeichen und auf beiden Seiten eine ordentliche Portion Pyro. Wie war es eigentlich „gestern“, als beide Vereine vor längerer Zeit im Ligabetrieb an gleicher Stelle aufeinander trafen? Die Erinnerungen (und auch die damals angefertigten Papierfotos) verblassen, doch hier mal ein Versuch, die Bilder und Erinnerungsfetzen aufleben zu lassen. Mehr als eine persönliche Sicht ist natürlich kaum möglich. Also los - zurück ins Jahr 1995!
Zeitreise 1995: Mächtiges chemisch-eisernes Knistern bei Sachsen Leipzig vs. Union Berlin
„Hey Marco, Bock auf Sachsen Leipzig gegen Union Berlin?“, wurde ich Ende Januar 1995 von einem guten Kumpel gefragt. Bock schon, doch ich hatte echten Bammel. Im Leutzscher Holz herrschten harte Sitten. Zwei Monate zuvor wurde ich bei der Regionalliga-Partie FC Sachsen Leipzig vs. FC Berlin (BFC Dynamo) auf dem Dammsitz als Berliner enttarnt. Immer wieder wurde ich angeblökt, weil ich Fotos vom weinroten Gästeblock angefertigt hatte. Dazu die Schlachtrufe und Pöbeleien. „Nur ein Leutzscher ist ein Deutscher!“ Dieser Schlachtruf ging in Mark und Bein und wurde legendär. „Ihr scheiß Saupreußen!“ Was soll ich sagen? Nach dem Spiel wurde ich draußen von drei Sachsen aufgelauert und bekam mit den Worten „Du scheiß Berliner!“ mächtig paar gebrettert. Die späteren Tumulte am Leutzscher Bahnhof machten es auch nicht besser. Das „Schießt doch! Schießt doch!“ der BFCer in Richtung Polizisten werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Übel, angsteinflößend und faszinierend zugleich.
Also wieder nach Leutzsch? Wieder mit einem Berliner Verein? Okay, man munkelte von freundschaftlichen Banden zwischen einigen Eisernen und Chemikern, doch unter dem Strich waren auch die Unioner für die meisten Heimzuschauer einfach nur die „Saupreußen!“ Im Gegensatz zum Herbst 1994, als ich allein mit der Bahn nach Leipzig düste, fuhren wir am 05. Februar 1995 mit dem Auto nach Leutzsch und stellten dieses etwas abseits ab. Kurz geschaut am alten Bahnhof Leutzsch und dann den legendären schmalen Weg hinunter zum AKS. Wir wählten zwei Plätze auf dem Dammsitz gegenüber der alten hölzernen Haupttribüne. Guter Blick auf beide Seiten, ringsherum viele Fans im mittleren Alter.
8.853 Zuschauer hatten sich damals eingefunden, unter ihnen schätzungsweise rund 2.000 Fans in Rot-Weiß, die den gesamten Gästeblock hinter dem Tor füllten. Bis ran an den Dammsitz der Haupttribüne. „Eisern Union. Forever number one“ war auf einer der angebrachten Zaunfahnen zu lesen. Auf den alten Fotos erkennbar ist auch eine Ostberliner Fahne mit der Aufschrift „Banausen“. Hinter dem Tor war auf einem Stoff das lächelnde bärenartige Geschöpf mit dem klassischen Fußball als Bauch auszumachen. Der Rest verschwimmt im Pixel-Nirvana. Zu erkennen sind neben den anderen tot-weißen Zaunfahnen zwei weitere Berlin-Fahnen und zwei deutsche Fahnen. An der Nahtstelle zur Haupttribüne postierten sich behelmte Polizisten. Ganz klar, um ein Freundschaftsspiel hatte es sich nicht gehandelt.
Die Atmosphäre: Großartig! Auf der Gegenseite zündeten die Anhänger des FC Sachsen einige Bengalos. Der Wind trug die Schlachtrufe über den Platz. Als Schiedsrichter Bernd Heynemann um 13:30 Uhr die Partie anpfiff, brodelte es auf den Rängen. „Eisern Berlin! Eisern Berlin!“ ertönte es im Gästeblock. „Sachsen! Sachsen!“ und das eingangs erwähnte „Nur ein Leutzscher ist ein Deutscher!“ waren auf Heimseite die Klassiker. Dazwischen: Pöbeln ohne Ende. Das Publikum war äußerst emotional und ging mit dem ganzen Körper mit. Jedes Foul, jeder Spielzug wurde mit Handbewegungen quittiert. Als nach gut einer halben Stunde Goran Markov die Eisernen mit 1:0 in Front bringen konnte, flippten die Gästefans komplett aus. Zerren an den Netzen, nicht wenige standen auf dem Zaun. An der Ecke zwischen Gästekäfig und Haupttribüne wurde es hektisch. Weißer Rauch erhob sich, auf den unteren Sitzen kam Bewegung auf. Polizisten drängten heißblütige Sachsen zurück. Leutzscher Fußballambiente wie es im Buche steht.
Als nur neun Minuten nach der Berliner Führung der FC Sachsen Dank Steffen Hammermüller ausgleichen konnte, brodelte es im AKS. Leute lagen sich in den Armen, Fahnen wehten, die DDR-typischen Tröten ertönten. Da im zweiten Spielabschnitt keine weiteren Treffer fielen, verschwammen die Erinnerungen an den weiteren Spielverlauf. Fakt ist: Es war ein echtes Highlight und die Atmosphäre im AKS brannte sich fest ein. 20 Jahre später wurde an gleicher Stelle das Traditionsduell angepfiffen. In den jeweiligen Blöcken standen Fans, die zum Teil damals noch Babys oder zum Teil noch gar nicht geboren waren. Kinder, wie die Zeit vergeht!
Sowohl damals auch am vergangenen Sonntag im Tor bei den Eisernen stand Oskar Kosche. Und auch Torsten Boer war wieder mit dabei! Am vergangenen Sonntag mit aufs Spielfeld gingen zudem einstige Union-Spieler, die ebenfalls in den 90ern und Anfang der 2000er echte Größen im Stadion An der Alten Försterei waren. Ronny Nikol zum Beispiel, an den sich wohl fast jeder erinnern kann. Auf Seiten der Chemiker war es Hans-Jörg Leitzke aus der Traditionsmannschaft, der auch im Februar 1995 mit auf dem Rasen stand. Apropos: Das Spiel, das über 60 Minuten ging, endete friedlich 0:0. Gemeinsam konnte ein stimmungsvolles Fußballfest gefeiert werden, bei dem ohne Repressionen den Emotionen freien Lauf gelassen werden konnte.
Fotos: Marco Bertram, Felix, Los Misenas
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