Der Rekordmeister kommt nach Hannover. Mit tausenden Fans, die für Stimmung sorgen werden. Lutz und Klaus (Namen v. d. Redaktion geändert) werden in den VIP-Logen sitzen und beim Lachs knabbern sich fragen, weshalb um Himmels Willen auf der Heimseite wieder einmal tote Hose herrscht. „Sag mal, Lutz, gab es da nicht mal diese … wie heißen diese Verrückten doch gleich? Ach ja, diese Ultras?“ „Ich weiß nicht, aber ich habe gehört, die haben die Biege gemacht …“ „Biege gemacht? Der Klub muss was tun! Ich möchte Unterhaltung! Wozu zahle ich denn hier ein Heidengeld?! Soll er doch neue Leute anheuern. Das muss doch möglich sein!“ Tja, Lutz und Klaus, da müssen wohl neue „Verrückte“ her, die in der Kurve ach so schön für Unterhaltung sorgen. So eine Choreo wie zuletzt beim Spiel Eintracht Frankfurt vs. FC Schalke 04 wäre schon hübsch anzusehen, oder? Hm, wie anstellen? Aber halt, die Klubführung hat eine prima Idee, die glatt von extra3 oder aus der Sendung mit der Maus entsprungen sein könnte: Neue Gruppen werden sich finden lassen, die andere Fans in der HDI Arena mitreißen!
Grotesker offener Brief von Hannover 96: Neue Gruppen werden sich finden lassen?!
HotParodie-Knopf aus. Jetzt mal ganz im Ernst! Die Klubführung des Bundesligisten Hannover 96 hat am Donnerstagnachmittag auf der offiziellen Facebook-Seite einen offenen Brief veröffentlicht. „Liebe Fans und Freunde von Hannover 96, wir haben verstanden!“ Da lockt doch ein Klick auf „Mehr anzeigen“. Zumal 877 Kommentare (Stand 23:10 Uhr) eine Sprache für sich sprechen. Die ersten drei Absätze lesen sich durchaus vernünftig - und das sehen auch die meisten FB-User / Fans so. Man hätte sich früher zu Wort melden müssen und die Situation sei unterschätzt worden. So weit, so gut. Doch dann! Es solle jetzt nicht mehr um Versäumnisse der Vergangenheit gehen und auch nicht um die Interessen Einzelner? Wer ist mit „Einzelner“ gemeint? Der für seine Rechte kämpfende Fan in der Roten Kurve oder gar der Herr Präsident persönlich?
Egal, weiter im Text! Man sei nicht blauäugig, heißt es im offenen Brief. Ohne die eine oder andere Fangruppierung werde sich die Stimmung nicht kurzfristig ändern. Immerhin scheint man endgültig realisiert zu haben, dass es ohne eine pralle Fankurve gar nicht mehr so unterhaltsam ist. Und nun der Knaller. Wortwörtlich heißt es: „Wir sind sicher, dass dieser Klub, diese Stadt, diese Mannschaft so viel wert sind, dass sich neue Gruppen finden werden, die andere Fans in der HDI Arena mitreißen.“ Was denn für Gruppen? Kann man das Kind nicht beim Namen nennen? Möchte der Verein neue Ultrà-Gruppierungen, die mal wieder das Zepter übernehmen und die Stimmung anheizen? Die aus Frust und tiefer Enttäuschung gegangenen Ultras / Fans möchte man scheinbar nicht mehr zurückhaben. Kein Wort davon, dass man sich noch einmal zusammen setzen könnte. Die Rede ist allein von „neuen Gruppen, die andere Fans mitreißen.“ Wer um Himmelswillen soll das sein? Animateure, die den Hampelmann spielen? Mal eben auf Knopfdruck was hinbasteln? Hauptsache, die Stimmung wird wieder besser? Ist ja auch peinlich, wenn der Gästeblock in der Regel mehr rockt als das ganze restliche Stadion zusammen.
Wie genau sollen denn „die neuen Gruppen“ die anderen Fans mitreißen? Mit Klatschpappen oder abgestimmtem Gesang? Bewusst wurde ja der Begriff „Ultras“ im offenen Brief vermieden. Also bitte keine ultrà-ähnlichen Stilelemente mehr, ansonsten fängt das ganze Dilemma wieder hübsch von vorne an. Vorschlag: Machen wir doch wieder Stimmung wie Anfang der 90er. Einfach laufen lassen. Und das teilweise im wahrsten Sinne des Wortes. Bezahlbares Bier, Pöbelfreiheit, kutten-freundliches Ambiente. Hm, auch wieder blöd. Das könnte nach hinten losgehen. Nur kein Schmuddel-Image mehr. Wie wäre es mit guter alter Stimmung im englischen Stil? Geht auch nicht, da würde sich ja phasenweise das ganze Stadion zum Gesang erheben - und das könnte manch einem Event-Besucher die Sicht versperren.
Wie heißt es weiter: „Und für diese Anhänger werden wir werben und werden diese unterstützen. Hand drauf!“ Ich habe lange drüber nachgedacht, doch ich verstehe diesen Satz nicht. Werben? Was oder wen werben? Wird eine Ausschreibung gemacht: „Suchen neue Gruppen / Fans, die in der Kurve die anderen Zuschauer in der Arena mitreißen! Wer Lust verspürt und neugierig ist und schon immer mal was anderes erleben wollte, einfach melden und zum Probe-Singen kommen!“ Mag jetzt alles arg polemisch klingen, aber ich verstehe dieses Kindertheater einfach nicht. Es scheint Druck da zu sein. Ganz klar, in kommender Zeit muss sich in Hannover was tun. Mag die Bude auch noch so voll sein, manch ein Zuschauer mit der Wurst in der Hand wird sich schon fragen, weshalb in Hannover derzeit alles anders bzw. öder ist als in Frankfurt, Dortmund oder sogar in manch einem Drittligastadion im tiefen Osten.
Aber wie heißt es weiter? „Zudem freuen wir uns tatsächlich auf das Spiel gegen Bayern München.“ Muss man das verstehen? Weshalb sollte man sich auch nicht freuen? Rein sportlich betrachtet. „Wir wissen auch, dass viele unserer Fans in Sorge sind, was das Ergebnis am Samstag angeht – aber es gibt wirklich Schlimmeres, als sich mit dem besten Verein der Welt vor ausverkauftem Haus in einem Punktspiel messen zu dürfen.“ Auch hier musste ich lange grübeln. Noch ein Abendbrot eingeschoben, um dann diese Zeilen zu schreiben. Fans, die in Sorge sind, weil Bayern die 96er mit 6:0 abschießen könnte? Wer auch nur ein wenig von Fußball versteht, weiß wohl einzuschätzen, dass eine Niederlage gegen den FC Bayern durchaus einzuplanen ist. Die Sorge scheint beim Klub immens groß zu sein, dass neben der relativen Stille in den Heimbereichen auch noch im Falle einer deutlichen Niederlage der Frust des Publikums wachsen könnte. Worst case. Das Publikum, das ordentlich was abdrückt für das Spektakel Bundesligafußball, könnte letztendlich völlig enttäuscht sein. Maue Atmosphäre und dann auch noch auf dem grünen Rasen verloren. Da schmeckt die Wurst nicht mehr. Und das teure Bier im Plastikbecher schon mal gar nicht.
Es scheinen harte Zeiten zu sein, denn Aufmunterung tut Not: „Viele Traditionsvereine, die in den unteren Ligen spielen, würden gerne mit uns tauschen. Die würden gerne in der Bundesliga spielen. Aber wir sind dabei. Und wir bleiben dabei.“ Solch eine Aussage vor einem Spiel gegen die Bayern?! Logisch, dass jeder Verein der Welt möglichst weit oben spielen möchte. Wem muss man denn das erklären? Aber tauschen - zu den Konditionen, die man als Ultrà zuletzt in Hannover hatte? Kein Fan, der irgendwo in der 3. Liga oder der Regionalliga seine tief sitzende Begeisterung aktiv ausleben kann, würde da tauschen wollen. Was nutzt der beste Fußball auf dem Rasen, wenn jahrelang das Treiben in der heimischen Kurve massiv unterdrückt wurde? Wir sprechen nicht von Stadionverboten und einzelnen gezielten Aktionen. Die gibt es in Dresden, Rostock, Köln, Karlsruhe und sonstewo auch - wir sprechen davon, dass über Jahre hinweg dermaßen repressiv agiert wurde, dass selbst die eingefleischtesten Fans / Ultras dem innig geliebten Verein im Oberhaus den Rücken kehren.
„Niemals allein. Wir gehen Hand in Hand! Los jetzt – packen wir es alle gemeinsam an!“ heißt es am Ende des Offenen Briefs. Derjenige, der das in der PR-Abteilung verfasst hatte, mag es sogar aus Herzen lieb gemeint haben. Doch die Frage ist, welche Angebote werden denn in diesem Offenen Brief gemacht? Was wurde denn verstanden? Die Belange der Ultras / Fans / Weggegangenen? Oder wurde nur verstanden, dass sich die derzeitige Atmosphäre im weiten Rund verdammt schlecht vermarkten lässt? Was ist schöner, als im nächsten Programmheft die schmucke Choreo vom letzten Heimspiel zu präsentieren.
Nein, so was lässt sich nicht mal eben herbeizaubern. In all den Kommentaren unter diesem Offenen Brief drücken hunderte Fans aus, wie enttäuscht sie sind. Fans, die seit Jahrzehnten dem Klub die Treue geschworen haben. Manch einem Haupttribünen-Besucher, der sich nur allein für das Geschehen auf dem Rasen interessiert, mag das alles befremdlich vorkommen und auf gut Deutsch gesagt „am Arsch vorbeigehen“. Andererseits wünscht sich auch dieser insgeheim, dass die Kurve mal richtig kocht und die restlichen Zuschauer zum Mitmachen animiert. Man kann es drehen wie man will. Es wird schwer werden in Hannover. Das Kind scheint wahrlich in den Brunnen gefallen zu sein. Und das tut selbst einem völlig Außenstehenden richtig weh!
Anmerkung: Dieser Text spiegelt allein die Meinung des Autors wider!
Fotos: Lukas Lindemann, Chris Wode, Frank Langkabel, UC-Tobi
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Soviel dazu Herr Kind...
KMW