Das Millerntor Stadion wurde zum Tollhaus - und das ist keine Übertreibung! Welch eine Erleichterung, als kurz vor halb vier Schiedsrichter Benjamin Brand die hart umkämpfte Partie abpfiff. Kurz zuvor hatte Yordy Reyna, begleitet von einem gellenden Pfeifkonzert, von schräg rechts noch einmal ein volles Pfund in Richtung St. Pauli-Gehäuse abgegeben, doch Keeper Robin Himmelmann konnte mit Bravour zur Ecke klären. Augenblicke später war es geschafft. Der FC St. Pauli konnte das mit Hochspannung erwartete Duell gegen die RasenBaller aus der Messestadt mit 1:0 gewinnen. Gen Himmel gereckte Fäuste, feuchte Augen, strahlende Gesichter. Das ließ selbst den neutralen Beobachter nicht kalt. Der Sprung auf Rang 15 war gelungen. Völlig erschöpft, aber glücklich ließen sich die Spieler feiern. Sichtlich gerührt drehte Trainer Ewald Lienen ebenfalls eine Runde. Als ein Fan auf der Südtribüne von ihm ein Autogramm haben wollte, lächelte er kurz gequält. Seine rechte Hand ist derzeit komplett verbunden.
FC St. Pauli vs. RasenBallsport Leipzig: Hamburger Freudentaumel im südländischen Konfettiregen
HotKeine Frage, dieser Sieg schmeckte den Sankt Paulianern ganz besonders gut. Schließlich war es nicht nur ein Sieg gegen den drohenden Abstieg in die Drittklassigkeit, sondern auch ein Sieg gegen den ambitionierten Klub aus Leipzig. So weit es möglich war vermied man beim FC St. Pauli den Zusatz „RB“ bzw. „RasenBallsport“. Auf der Webseite wurde im Vorfeld der Partie kein Logo des aufstrebenden Klubs aus dem Hause Red Bull gesetzt. Und selbst auf dem abschließenden Spieltagsinformations-Zettel stand ganz oben geschrieben: „FC St. Pauli - Leipzig“. Nicht mehr, nicht weniger. Allein bei den Arbeitskarten ließ es sich nicht vermeiden, das Logo von RasenBallsport aufzudrucken.
Es war ein Aufeinandertreffen komplett verschiedener Welten. Ein Duell zweier Vereine, welche die Sache völlig unterschiedlich angehen. Auf der einen Seite ein klassischer eingetragener Verein, der seit zig Jahrzehnten extrem fest im Herzen Hamburgs verwurzelt ist. Auf der anderen Seite ein Klub, der komplett in der Hand eines Konzerns ist. Ein Klub, der quasi austauschbar ist und theoretisch auch an jedem anderen Standort gegründet hätte werden können. Als RasenBallsport Nordost, mit einem 70.000-Mann-Stadion mit Autobahnanschluss irgendwo auf einem Acker zwischen Halle und Dessau.
Die im Hamburger Kiez fest Verwurzelten in akuter Abstiegsgefahr, die Quasi-Austauschbaren auf Erstligakurs. Wenn nicht in dieser Saison, dann ziemlich sicher in der kommenden Spielzeit. Geld spielt bekanntlich keine Rolle - so lange die klebrig-süße Taurin-Limonade aus den Dosen sprudelt und die Verbraucher sich Wodka-Red Bull en masse reinkippen, statt wie in Polen einen guten Wodka pur mit einem leckeren Bissen eingelegtem Fisch genießen. Und ja, Fisch in jeglicher Form gab es an den Ständen des Millerntor Stadions reichlich. Es war angerichtet zum selbsternannten Klassenkampf. Die Anhängerschaft des FC St. Pauli hatte einiges vorbereitet.
Es sollte gezeigt werden, was es heißt, mit echter Leidenschaft seinen Verein, den man seit frühesten Kindertagen liebt, zu unterstützen. Was es heißt, Fankultur mit all seinen Facetten auszuleben. Säckeweise wurden die Materialien auf die Südtribüne und Gegengerade geschleppt. Trotz des verhassten Gegners und der bedrohlichen sportlichen Situation wirkten indes die Anhänger des FC St. Pauli erstaunlich entspannt. Keine Spur von einer hasserfüllten Drohkulisse. Bei aller Kritik am künstlich erschaffenen Klub aus Leipzig - wichtig waren vor allen Dingen die Punkte. Gegen Leipzig sollte ein Dreier her, denn leichter wird es auch an den restlichen drei Spieltagen nicht!
Bei strahlendem Sonnenschein, der angekündigte Regen erreichte glücklicherweise erst abends die Hansestadt, wurde 13:20 Uhr die braun-weiße Blockfahne in der Mitte der Südtribüne hochgezogen. Das „Herz von Sankt Pauli“ ertönte und beim Einlaufen der Mannschaften bot sich dem Betrachter ein beeindruckendes Bild. Während auf der Gegengerade ein Fahnenmeer gebildet wurde, ließ man es auf der Südtribüne richtig krachen. Konfetti und Papierschlangen en masse, Rauch in verschiedenen Farben, dazu einige Bengalos. Das Millerntor als Bombonera. Zu lesen waren zudem auf der Gegenseite die wichtigsten Eckdaten der Historie des FC St. Pauli. 1910 Gründung, 1915 Aufstieg in die zweithöchste Spielklasse, 1930 erster Derbysieg … Auf- und Abstiege … 16. Februar 2011 die Nummer 1 der Stadt.
Die Botschaft ist eindeutig. „Glaube, Liebe, Hoffnung“, das auf einem Banner zu lesen war, machen den Fußball aus. Und das von Generation zu Generation. Von Vater zu Sohn. Von Mutter zu Tochter. Ob das bei einem komplett konzerngesteuerten Klub möglich ist, muss das Leipziger Publikum ganz klar mit sich selber ausmachen. Und auch wenn die Begriffe Tradition und Fankultur zuletzt inflationär genutzt wurden und abgedroschen wirken, wer gestern im Millerntor Stadion stand, hat ganz klar gespürt, wovon die Rede ist. Und auch der moderne Neubau hat diesen Geist mit Sicherheit nicht weggeblasen.
Doch jetzt zum gestrigen Spiel! Die Gasteber legten los wie die Feuerwehr. Bereits nach 30 Sekunden landete der Ball ans Außennetz der RasenBaller. Logisch, dass es nun richtig laut wurde. Die knapp 2.000 angereisten Leipziger Anhänger waren zwar bemüht, ebenfalls für Stimmung zu sorgen, doch kamen diese kaum gegen das Heimpublikum an. Zumal die Gästefans in zwei verschiedenen Blöcken standen. Zum einen in einem seitlichen Bereich der Haupttribüne, zum anderen in einem provisorischen Gerüst-Block auf der Baustelle der Nordtribüne auf Seiten des markanten Bunkers. Für hervorstechende Aktionen konnte die Leipziger Anhängerschaft nicht sorgen, allerdings gab es in der ersten Halbzeit dann doch einen Hingucker. Am Rand der Haupttribüne rollten ein paar RB-Fans ein Spruchband mit der Aufschrift „All Connewitzer are beautiful“ aus. Oha! Aufgrund solch eines Spruchbandes kam es 2011 bei Roter Stern Leipzig zu einem Polizeieinsatz. Dieser blieb jedoch in Hamburg aus.
Auf dem Rasen konnten sich die Leipziger nach der anfänglichen Druckphase der St. Paulianer nach 20 Minuten etwas befreien und konnten selber erste Akzente setzen. Nach einer halben Stunde erhöhten dann wieder die Hausherren den Druck und kamen zu Möglichkeiten. Keine Frage, das machte den Fans Mut. Die Einstellung passte zu 100 Prozent - die favorisierten Gäste, die noch eine minimale Chance hatten, beim Aufstieg noch ein Wörtchen mitzureden, waren an diesem Nachmittag bezwingbar. Und richtig! Während auf der Gegengerade das Spruchband „Unfairkäufliche Liebe“ hochgehalten wurde, setzte direkt vor dem Pausentee der FC St. Pauli nochmals zur Offensive an. Jan-Philipp Kalla spielte den Ball nach vorn zu Lennart Thy und diesem gelang es allein vor RB-Keeper Fabio Coltorti das Spielgerät im Kasten unterzubringen. 1:0 in der Nachspielzeit des ersten Spielabschnittes. Welch ein Jubel! Wahre Dämme brachen. Das Millerntor Stadion stand Kopf.
Während zu Beginn der zweiten Halbzeit einige Spruchbänder präsentiert wurden - u.a. „Für die einen 90 Minuten Leidenschaft, für die anderen die längste Werbung der Welt“ -, legte auf dem Platz RasenBallsport Leipzig einen Zahn zu und blies zur Attacke. Allerdings konnte sich St. Pauli immer wieder befreien und kam selbst punktuell zu Möglichkeiten, die Führung auszubauen. So zum Beispiel in der 61. Minute, als über die rechte Seite kommend durchaus was drin gewesen wäre. Hitzig wurde es in der 64. Minute, als Reyna seinen Gegenspieler Jan-Philipp Kalla bei einer Rettungstat an den Pfosten schubste. Wütende Proteste von den Rängen. Reyna, der früher auch bereits bei Red Bull Salzburg gespielt hatte, bekam nun einiges zu hören und wurde ab nun bei jedem Ballkontakt gnadenlos ausgepfiffen.
Die Partie wurde nun zerfahrener. Je weiter die Uhr runterlief, desto mehr beschränkte sich St. Pauli darauf, die knappe Führung mit Mann und Maus zu verteidigen. Und das mitunter mit akrobatischen Aktionen. Die vom Publikum gereichte Extra-Portion Adrenalin vermochte es, über die Schmerzgrenze hinaus den Ball aus der Gefahrenzone hinauszubefördern. Jede Rettungstat wurde mit Applaus bedacht. Und auch eine Ordnerin bekam vor der Haupttribüne einen Querschläger an den Hinterkopf. Dafür erntete sie jedoch aufmunterndes Klatschen von den umsitzenden Fans.
Leipzig drückte nun und für das Heimpublikum gab es noch einige Schrecksekunden zu überstehen. Manch einem stockte der Atem, als der besagte Reyna per Volleyschuss in fast allerletzter Sekunde den Ball auf das Gehäuse zimmerte. Das Glück war jedoch an diesem Nachmittag auf Seiten der Hamburger. Es blieb beim 1:0 und die Party konnte beginnen. Bei einem You´ll never walk alone musste sich die Mannschaft erst einmal sammeln. Tiefes durchatmen und dann ab zu den Fans. Im Gästeblock versuchten die Leipziger ebenso abzufeiern. Dieses Jahr wird es nichts mit dem erhofften Aufstieg in das Fußballoberhaus, doch im kommenden Jahr wird man RasenBallsport ganz gewiss oben in der Zweitligatabelle finden. All den Vodka-Red-Bull-Trinkern sei Dank. Aber wie gesagt: Vodka pur tut es ja auch! Dazu eingelegtes Fleisch oder einen Happen Fisch. Diesen gibt es ja an der Küste bekanntlich reichlich genug …
Fotos: Marco Bertram
Ligen
Benutzer-Kommentare
3 Punkte:
Viele RBL-Fans haben Sympathien für St. Pauli und positionieren sich z.B. klar gegen Rassismus. St. Pauli und RBL haben Alleinstellungsmerkmale (auch wenn diese nicht unterschiedlich sein können) und supporten IHR Team, anstelle sich primär mit dem Gegner zu beschäftigen.Das solltet Ihr Heuchler auch tun.Freundlicher Empfang und freundliche Kontakte. Aktion und Reaktion. Kein Vergleich zu den Hohlbirnen in Bochum, die Steine auf Busse werfen (Autobahnbrücke). Sonst hat Herr Bertram wohltuend von RasenBallsport gesprochen. Übrigens trinke ich Wodka und Red Bull getrennt. Zu empfehlen wäre der Nemiroff mit Birkenextrakt und dazu Fisch (in der Ukraine z.B. Dneprbarsch). (Guten) Wodka und Red Bull zu mixen ist ein Sakrileg wie Biermixgetränke!
Lieber Lopesen, wirklich aus Hamburg? Laut unserer Statistik statt Mündung der Elbe eher Saale-Land.
Das nur am Rande.
Richtig wohl, die Leipziger Fans machten keine Probleme. Klatschten einfach durch. Fans wie aus der Retorte halt. Irgendwie eigenartig.
Grüße aus Hamburg von einem Pauli-Fan.