Im Berliner Raum gibt es das bekannte „JWD“, welches nichts anderes als „Jaaaanz weit draußen“ bedeutet. Sprich: Für manche Mitte-Berliner ist auch Köpenick schon janz weit draußen. Und bei den Eisernen in der Alten Försterei gibt es auch ein „JWO“. Jaaanz weit oben. Gemeint ist nicht der aktuelle Tabellenstand, sondern der Blick vom oberen Rang der Haupttribüne. Bekanntlich befand sich an der Stelle der neuen Haupttribüne vorher ein äußerst flacher Bau, der in den 1990ern noch ohne Dach und mit alten Bänken daherkam. Unvergessen für mich war einer meiner ersten Besuche im Pressebereich der kleinen maroden Tribüne am 20. Dezember 2000, als im Viertelfinale des DFB-Pokals der VfL Bochum mit einem Last-Minute-Treffer aus dem Wettbewerb gekegelt wurde. Selbst im Pressebereich ließen lokale Journalisten ihren Emotionen freien Lauf und warfen wild jubelnd die Sitzkissen gen Abendhimmel. Neun Jahre später - unser Magazin war noch recht jungfräulich - fand ich auf der inzwischen überdachten kleinen Haupttribüne einen Stammplatz. Oben in der Ecke am Geländer, von dort aus hatte man einen prima Blick auf das Geschehen im Gästebereich. Zwar standen auch die szenekundigen Beamten stets an dieser Stelle, doch mein Plätzchen konnte ich mir immer sichern.
Union Berlin vs. MSV Duisburg: Kieken und quatschen „JWO“ und in der Altstadt
Nach dem Bau der neuen Haupttribüne bleibt nur noch der Innenraum zum professionellen Fotografieren. Das Herumturnen mit großer Kamera ist - und das ist verständlich - auf den Rängen der Haupttribüne nicht erlaubt, wenngleich sich dort schmucke Perspektiven ergeben würden. Immerhin ergab sich am Samstag die Möglichkeit, eine Partie mal von „JWO“ anzuschauen. Während unten Felix seiner Arbeit nachging und sein Tageswerk verrichtete, konnte ich von ganz, ganz oben neue Eindrücke sammeln und die Stimmung auf den Rängen recht gut einschätzen. Und nun denn, an der Tagesordnung stand ja kein 0815-Spiel. Derzeit befindet sich die halbe 2. Bundesliga in Abstiegsgefahr, und deshalb kommt bei zahlreichen Partien alles andere als Langeweile auf. Die Karten werden Woche für Woche neu gemischt. Wer am Tag X noch ganz unten drin stand, kann sich mit zwei Siegen in Folge plötzlich auf Rang acht wiederfinden. Der FC Erzgebirge Aue ist solch ein Paradebeispiel. Nach dem Sieg gegen den FC St. Pauli sind es nun sogar drei Siege in Folge. Durch ist man „im Schacht“ noch lange nicht, denn die berühmten 40 Punkte werden wohl in diesem Jahr nicht reichen, um die Klasse zu halten, doch die Vorzeichen sehen sicherlich recht gut aus.
Und bei Union und Duisburg? Beide schnupperten zwischenzeitlich ganz oben an den Aufstiegsrängen, nun müssen beide höllisch aufpassen, damit diese Saison kein Fiasko wird. Wobei das bei den Eisernen in der Tat noch krasser wäre, wenn der Abstieg in die 3. Liga erfolgen würde. Die letzten Jahre immer oben dran - und mit einem Mal statt Fußballoberhaus nur Liga drei. Und das zu einem Zeitpunkt, in der die 3. Liga aus Sicht der Region Nordost nicht mehr sooo attraktiv sein wird. Erfurt geht runter, der Chemnitzer FC hängt auch mit einem Bein in der Regionalliga, und nach dem 2:0-Sieg gegen den Karlsruher SC dürfte der 1. FC Magdeburg tatsächlich den Sprung in die 2. Bundesliga packen. Allein die Duelle gegen den 1. FCM - na Mensch -, da müssen die Eisernen einfach die Klasse halten.
Alles auf eine Karte gesetzt wurde bei der Partie am Samstagnachmittag jedoch von beiden Seiten nicht. Und so blieb es auch auf den Rängen - zumindest in der ersten Halbzeit - relativ leise. Ganz klassisch wurden in beiden Fanblöcken jeweils die Klassiker „Olé, Olé, Meidericher SV…“ und „1. FC Union Berlin…“ angestimmt. Die erste gute Möglichkeit hatten die Gastgeber in Form eines Distanzschusses von Kroos in der neunten Spielminute. In Folge dessen wurde das „Wir sind Unioner…“ angestimmt. Im Gästeblock hatten derweil die Jungs von der „Proud Generation“ schon mal ihre Oberkleidung abgelegt. Sorgsam wurden Shirts und Jacken auf die freien Stufen vor dem Banner gelegt, mit freier Brust ließ es sich gleich noch besser singen. Und siehe da, auch auf dem Rasen ließ Duisburg plötzlich was gucken. Nach einer Viertelstunde spielte Schnellhardt den Ball zu Tashchy, doch dieser konnte das Spielgerät nicht im Kasten unterbringen. Knapp zischte der Ball am linken Pfosten vorbei.
Es gab kein klasse Spiel auf dem Rasen zu sehen, doch die eine oder andere Möglichkeit - vor allem auf Heimseite - war dann doch zu sehen. Zuerst vergab Skrzybski in der 23. Minute, dann hatte Hosiner eine richtig fette Chance, die Führung der Eisernen klarzumachen. Szenenapplaus gab es in der 36. Minute, als sich Hosiner nach Hereingabe von der rechten Seite in Form eines sehenswerten Fallrückziehers versuchte. „Eisern Union!“, hallte es nun durch die Alte Försterei. In der jetzigen Situation müssen halt auch mal kleinere Brötchen gebacken werden. Auf die Sekunde pfiff der Schiedsrichter schließlich die erste Halbzeit ab und schickte die beiden Mannschaften in die Kabinen zum Pausengetränk.
Zu Beginn der zweiten Halbzeit war sogleich zu vernehmen: Die Atmosphäre auf den Rängen war nun besser. Gab es im ersten Spielabschnitt ein klares Remis, da Gästeblock und Waldseite etwa gleichlaut ihre Lieder sangen, stimmte nun endlich punktuell auch die Gegengerade mit ein. Und genau diese war es einst in der Vergangenheit, die die Alte Försterei mitunter zum Beben brachte. Wenn das ganze Fußballvolk der Gegengerade mit einem Mal scheppernd das „Eisern Union!!!“ ertönen ließ. Mal wütend, mal euphorisch, mal trotzig. Auf dem Platz ergab sich ein ähnlicher Anblick wie in der ersten Halbzeit. Beide Mannschaften spielten - wie es auch der Tabellenstand widerspiegelt - auf ähnlichen Niveau, allerdings taten die Eisernen etwas mehr und kamen demzufolge zu ein paar weiteren Möglichkeiten. In der 54. Minute probierte es Kroos mit einem Volleyschuss, zu einer Parade zwang Trimmel den MSV-Schlussmann Flekken in der 69. Minute.
„Wir singen Union, jawoll…“, wurde nun im Wechsel gesungen. Doch es half nichts, in der Schlussviertelstunde flachte die Partie noch weiter ab. Nun wollten die Berliner nicht alles auf eine Karte setzen. Zumindest moralisch würde ein Pünktchen ein stückweit helfen. Also nur keinen dummen Gegentreffer kurz vor Schluss fangen! Während der MSV im zweiten Spielabschnitt zu keiner echten Möglichkeit kam, gab es in der 88. Minute und in der Nachspielzeit noch einmal zwei Chancen für den 1. FC Union Berlin. Nicht genutzt, das Spiel war aus. Abpfiff. Plötzlich wurde es still im Stadion. Keine Pfiffe, kein Gesang. Nur ein leises dumpfes Gemurmel war zu vernehmen. Erfreulich: Keine sinnfreie, nervtötende Musik unterbrach diese Stille.
Nun hatten auch die letzten Zuschauer registriert, dass der 1. FC Heidenheim beim 1. FC Nürnberg mit 2:3 verloren hatte. Das war noch einmal gut gegangen. Beide Mannschaften kamen mit einem blauen Auge davon, am kommenden Wochenende dürfen die Karten neu gemischt werden. Nach dem Moment der Stille kamen dann auf beiden Seiten doch Schlachtrufe auf. Die Spieler gingen zu ihren Fans, auf der Waldseite war ein „Mit aller Gewalt - Klassenerhalt!“ zu lesen und zu hören.
Nach und nach leerten sich die Ränge, und als im VIP-Bereich um 15:45 Uhr Ausschank-Schluss war, verließen auch dort die letzten Zuschauer das Stadion. Herrliches Frühlingswetter?! Ab ans Wasser oder nichts wie hin zur nächsten Kneipe! An der Ecke Lindenstraße / Bahnhofstraße leerten zahlreiche MSV- und Union-Fans gemeinsam die ersten Gläser. Es herrschte die totale Entspannung. Ein Stromkasten vor der Kneipe wurde zum Tresen umfunktioniert. Der Gerstensaft floss in Strömen, redselig wurde diskutiert. Polizei oder gar stresssuchende Fußballfreunde schauten nicht vorbei.
Ein paar - im Vergleich zur Ultra-Generation - ältere MSV-Fans hatten sich in Köpenick ein Hotelzimmer genommen und zeigten sich überaus begeistert von der Altstadt. Einfach traumhaft, schwärmten sie. Und es dauerte nicht lange, bis jeder mit jedem ins Gespräch kam. Am späteren Abend verlagerte sich das Ganze in die Lokalitäten direkt im Zentrum der Altstadt. Schmausen, trinken, fachsimpeln und den milden Abend genießen - so kann Fußball sein, so muss Fußball sein. Und in anderen Berichten wurde es bereits mehrfach betont: Genau dies ist die Essenz des Fußballs. Wo sonst kommen wildfremde Menschen aus verschiedensten Ecken des Landes zusammen und so schnell ins Gespräch?
Nicht geklärt werden konnte in großer Runde allerdings eine im Raum stehende Frage: Was hätte im Fall eines Wiedersehens (in beiden Fällen in näherer Zukunft wohl eher im DFB-Pokal möglich) mehr Brisanz? 1. FC Union Berlin gegen BFC Dynamo oder Rot-Weiss Essen gegen FC Schalke 04? Noch interessanter waren indes ein paar Anekdoten, die einem nach dem zehnten Pils zu Ohren kamen. Jahrgang 1972. Vor der Wende mit den Weinroten stets auf Achse, um richtig provozieren und anecken zu können. Nach der Wende dann das Herz bei den Eisernen verloren. Na dann, Prost, auf einen gelungenen Fußballtag! Und ein weiteres Fazit des Tages: Die massivsten 2-Meter-Brocken sind manchmal die Allerliebsten! ;-)
Bericht: Marco Bertram
Fotos: Marco Bertram und Felix (https://football-wildlife-media.com)