Zehn vor vier im Berliner Olympiastadion. Ein Urschrei ertönte. Der Bär steppte. Innere Lasten lösten sich. Endlich, endlich, endlich durfte die Anhängerschaft des BFC Dynamo im DFB-Pokal einen Treffer bejubeln. Patrik Twardzik hatte das gestrige Tor geschossen und rund 10.000 BFC-Fans waren völlig aus dem Häuschen. Es war nicht etwa ein wertloser oller Anschlusstreffer zum 1:6, bei dem die favorisierte Mannschaft schon die Zügel etwas lockerer hielt. Nein, es war der 1:0-Führungstreffer. Der Führungstreffer gegen den 1. FC Köln in der 19. Spielminute! Mensch ja, was Hansa Rostock als Drittligist gegen den Erstligisten VfB Stuttgart packte, könnte doch auch der Regionalligist aus Berlin-Hohenschönhausen gegen den Zweitligisten vom Rhein schaffen. Mauern, beißen, treten, fighten, kratzen, pflügen, rennen - und irgendwie die Führung über die Zeit bringen! Als am gestrigen Nachmittag der Ball im Kölner Gehäuse zappelte, flog der Notizblock vor Freude auf die Tartanbahn. Zuerst die Spieler oder die Fans? Im Bruchteil einer Sekunde folgte die Entscheidung. Erst die Bilder von der jubelnden Spielertraube, dann die Bilder von den hoch erfreuten Fans. Der erste weinrote Treffer im DFB-Pokalwettbewerb. Noch einmal die Faust geballt, während das „Ost-, Ost-, Ostberlin!“ im weiten Rund hallte. Viel Zeit zum Schwelgen, Träumen und Nachdenken blieb jedoch nicht. Nur zwei Minuten später fiel bereits der Ausgleich. Simon Terodde machte das 1:1. Ausgerechnet Terodde, der von 2011 bis 2014 bei den Eisernen in Berlin-Köpenick gespielt hatte! Es war das Anfang vom Ende. Er ließ wenig später zwei Tore folge. Hinzu kam ein Treffer von Drexler. 1:4 zur Pause - das Spiel war quasi gelaufen…
BFC Dynamo vs. 1. FC Köln: Für zwei Minuten im siebten Himmel
HotUnd dabei fing alles so dufte an! Die Uhr gedanklich noch einmal um vier Stunden zurückgedreht. Gegen 12 erfolgte das Stelldichein am Lenbachplatz am Ostkreuz. Die langen Bänke und die zahlreichen Spätis laden gerade dazu ein, Flaschenbier in guter Gemeinschaft zu konsumieren. Dazu ein Pfeffi und eine Luft - gute Laune bei den Eintreffenden. Während eine umherschleichende Gestalt - bestückt mit einem Schuh an dem einen und einer Socke am anderen Fuß - die Reste aus diversen Flaschen in seinen Mund fließen ließ, wurden bei der bunt gemischten Truppe, die später in Richtung Alex und Olympiastadion startete, die Neuigkeiten ausgetauscht. Gutes Wetter, gute Laune, guter Gegner - Fußballherz, was willst du mehr?
Weitere Getränke gab es dann auf dem Alexanderplatz an der Weltzeituhr, wo sich - wie zu ganz alten Zeiten - einige hundert BFC-Fans sammelten. Ohne Tamtam, ohne Gesang. Einfach nur treffen, quatschen und trinken. Keine Gruppierung leitete das Ganze, niemand stimmte etwas an, kein Fan mit Megafon gab Anweisungen. Als die ersten in Richtung S-Bahn strömten, folgte einfach der Rest. Die U2 wollte vom Alexanderplatz aus so gut wie niemand nutzen. Eine Fahrt mit der S-Bahn quer durch die Stadt erschien verlockender. Hineingequetscht in die S-Bahnwaggons und die Touristen erschreckt. Was für eine Demse! Auch das Öffnen der Fenster nutzte nicht viel. Erstaunlich wie eine japanische Touristin inmitten der weinroten Masse in aller Seelenruhe auf ihrem Smartphone die neuesten medizinischen Erkenntnisse in Sachen Akupunktur studierte. Gedränge in öffentlichen Verkehrsmitteln? Na und! Auch diese Zeit kann sinnvoll genutzt werden. Entweder mit einem Onlinestudium oder halt mit Chips knabbern, Bier trinken und ein wenig blöde quatschen.
Ein nächstes Bier? Am S-Bahnhof Olympiastadion, Ausgang Osttor. Erneutes Stelldichein und neugierige Blicke. Wen kennt man, wen kennt man nicht?! Für Interesse sorgte unter anderen der tätowierte „Stral“ auf der breiten Brust eines 2-Meter-Brockens, welcher im Stralsunder Stadtwappen zu finden ist. Kurzum: Es war einiges auf den Beinen. Während im Ligaalltag sich bereits über eine Zuschauerzahl über der Schwelle zur Vierstelligkeit gefreut werden darf, können im DFB-Pokal auf Heimseite rund 10.000 Fans, Sympathisanten, Freunde und Neugierige mobilisiert werden. Es galt den Zuschauerrekord vom Vorjahr zu knacken, als beim DFB-Pokalspiel im Jahn-Sportpark 14.117 Zuschauer begrüßt werden konnten. Insgeheim hoffte manch einer auf 20.000 Zuschauer, doch immerhin wurde tatsächlich mit 14.357 Zuschauern ein neuer Bestwert geschaffen.
Auf Gästeseite waren geschätzte 3.500 Fußballfreunde vor Ort. Eine gute Hausnummer, wenn man bedenkt, dass aus Sicht der Kölner das Berliner Olympiastadion alles andere als exotisch ist. Erste Runde im DFB-Pokal - das verspricht den Kleinen meist große Namen und den großen mitunter spannende Touren. Frankfurt ins altehrwürdige Donaustadion in Ulm, Bielefeld ins Hölzchen von Altmark Stendal, Regensburg in den AKS in Leipzig-Leutzsch. Alles richtig Old School. Aber das Berliner Olympiastadion? Nun denn, auch die Kölner hätten sicherlich gern im Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark im Prenzelberg vorbeigeschaut, doch stand dieser bekanntlich nicht zur Verfügung. Allerdings nicht, wie in einem Kölner Boulevardblatt behauptet aufgrund der extrem hohen Gefahrenlage, sondern wegen der Vorbereitungen für die Para Leichtathletik-EM 2018.
Zu Beginn der Partie gab es im unteren Bereich des Gästeblocks die vereinfachte Kölner Stadtsilhouette zu sehen. Dom und Rheinbrücke. Dazu in Schreibschrift: „Chicago am Rhein.“ Zuhälter und Zocker, Rotlichszene und Kölsches Milieu. In den 60ern und 70ern erhielt Köln diesen Namen. Rund 50.000 Straftaten soll es jährlich gegeben haben, nur ein Drittel jener konnte aufgeklärt werden. Zuletzt machte jedoch weniger das Rotlichtmilieu, sondern vielmehr das Fußballmilieu von sich reden. Ein Angriff auf einen Fanbus der Eisernen - und das trotz Polizeibegleitung. Wilde Szenen am Rhein. Und aufgrund des anstehenden Pokalspiels beim berühmt berüchtigten BFC Dynamo drehte die Boulevardpresse an Rhein und Spree richtig durch. Es könnte richtig knallen, es könnte ein echter Hooligan-Gipfel werden, "Szene-Insider" packten aus. Den Lesern wurde die gesamte Palette geboten. Heiß her ging es auch mitunter in den FC-Foren. BFC Dynamo? Sei genauso scheiße wie Dynamo Dresden! Scheiß Ossis! Alles Nazischweine!
Und wo war es nicht verwunderlich, dass bereits vor Anpfiff ein lautes „Scheiß Dynamo!“ aus der Gästekurve ertönte. Gleich hinterher ein „Berlin, Berlin, wir scheißen auf Berlin!“ Auf Heimseite wurde indes Stellung auf der langen Gegengerade bezogen. Beim Einlaufen der Mannschaften kamen schließlich die weinroten und weißen Plastikfähnchen zum Einsatz. In erster Reihe gab es wieder den Bären mit dem aufgerissenen Maul zu sehen. Zähne zeigen! Passend dazu hatte sich ein Fan mit einer Bärenmaske positioniert. Das fing schon mal gar nicht so schlecht an.
Auf dem Rasen nahm indes der Zweitligist das Heft in die Hand. Auf Heimseite fehlten mal eben fünf Spieler verletzungsbedingt, zudem konnte der Verlust von Leistungsträgern - allen voran Dadashov - noch nicht kompensiert werden. Sportlich durfte nicht allzu viel erwartet werden, nachdem in der Regionalliga daheim mit 0:5 gegen Halberstadt und 0:3 gegen den Berliner AK verloren wurden. Aber okay, man weiß ja nie! Der BFC hielt gut mit und siehe da, nach einer Viertelstunde hieß es noch 0:0. Laut wurde es auf den Rängen, als der BFC in der 18. Minute eine Möglichkeit hatte. Noch viel lauter wurde es, als eine Minute später nach einem langen Einwurf Twardzik den Treffer zum 1:0 erzielen konnte.
1991 - 0:2 gegen den SC Freiburg. 1999 - 0:2 gegen Arminia Bielefeld. 2011 - 0:3 gegen den 1. FC Kaiserslautern. 2013 - 0:2 gegen den VfB Stuttgart. 2015 - 0:2 gegen den FSV Frankfurt. 2017 - 0:2 gegen den FC Schalke 04. Es war zum Mäusemelken. Immer konnte der BFC Dynamo recht ordentlich mitspielen und kam zu guten Möglichkeiten, doch in sechs Anläufen wollte einfach kein Treffer gelingen. Nun im siebten Anlauf hieß es: Siebter Himmel nach der 1:0-Führung gegen den Effzeh!
Adrenalin und Glückshormone. Ein gefühlter Orgasmus gegen die Jungs aus Chicago am Rhein. Doch aus einer möglichen Sexorgie wurde nur ein Quickie. Nur zwei Minuten nach der weinroten Jubelorgie machte Terodde für den 1. FC Köln den Ausgleich klar. Und fortan war ersichtlich: Das würde richtig schwer werden! Schaub und Drexler hatten in der 28. Minute die Möglichkeit zum 2:1 für die Gäste. Sechs Minuten später war dann nochmals Terodde zur Stelle und machte dann seine zweite Bude. Kurz vor der Pause folgte dann das 3:1 von Terodde - allerdings aus klarer Abseitssituation. Als dann in der 44. Minute auch noch Drexler den Ball ins lange Eck zum 4:1 schlenzte, war der Drops quasi gelutscht.
Was für eine Ernüchterung auf Heimseite. Stille kehrte ein auf der Gegengerade, zu hören war in der zweiten Halbzeit nur noch der singende Gästeblock. „Mer stonn zo dir FC Kölle…“, ertönte es Mitte der zweiten Halbzeit und ich musste an meine Zeit im Rheinland zu Beginn der 90er Jahre denken. Auweia, ist das alles schon lange her! Das alte Müngersdorfer Stadion. Der Block 38 mit den sportlichen Jungs. Die Boxwiese. Mensch, hätte ich damals gewusst, dass ein Vierteljahrhundert später der Effzeh in Berlin den BFC Dynamo auf dem Rasen mit 9:1 verhaut, dann wäre ein fliegender Senfeimer in Richtung Südkurve fällig gewesen. Aber so ist das nun mal, das Lebbe geht weider, erklärte einst Steppi zu jener Zeit.
Die zweite Halbzeit schmerzte im (Ost-)Berliner Herzen. 1:5, 1:6, 1:7, 1:8 (ooooh Mann!) und dann noch das 1:9. Am Ende konnte man beim BFC froh sein, dass es nicht zweistellig wurde. Untergangsstimmung bei vielen Fans. Wie wird es weitergehen? Wieder 700 Zuschauer bei einem RL-Heimspiel im Jahn-Sportpark? Eine gelaufene Saison? Zurecht fordert BFC-Trainer Rydlewicz weitere Verstärkungen. Es reiche einfach nicht. Und das Geld für neue Spieler zaubert sich nun mal nicht einfach so daher. Die Lösung: Würde jeder zweite Heimzuschauer vom gestrigen Pokalspiel zum kommenden Heimspiel gegen den 1. FC Lokomotive Leipzig in den Jahn-Sportpark kommen, wäre das ein Anfang. Ein Zeichen. Arsch hoch und nicht nur meckern und jammern! Sonst denken die dort im „Chicago am Rhein“ beim BFC gebe es wirklich Jammer-Ossis! Also dann, man sieht sich beim Spiel gegen die Loksche!
Fotos: Marco Bertram, Patrick Skrzipek