Um 5 Uhr morgens erfolgte am Samstag in Tokio die Landung, und nur zwölf Stunden später stand das erste Spiel der geplanten Asien-Tour auf dem Programm. Hinter mir lag ein zwölfstündiger Flug, davor ein zwölfstündiger Aufenthalt in London-Heathrow und davor ein regulärer Arbeitstag, nachdem ich am Donnerstagmorgen gegen 8 Uhr meine Berliner Wohnung verlassen hatte. Nachdem ich mir schon einen klitzekleinen Eindruck von der größten Stadt der Welt verschafft hatte und dieser bis dato überragend ausfiel, begab ich mich unmittelbar vom Dach des Mori Tower in Richtung Norden, wo im Saitama World Cup Stadium das Ligapokal-Halbfinale zwischen dem wohl größten Verein Japans, den Urawa Red Diamonds, und Kawasaki Frontale auf dem Programm stand.
Urawa Red Diamonds vs. Kawasaki Frontale: Stimmungsvoller 1:0-Heimsieg beschert Finaleinzug
Das Stadion wird dem einen oder anderen Leser sicherlich bekannt sein: Grob gesagt ähnelt es von der Form her der Leipziger Arena, ist aber eine Nummer größer. 63.700 Zuschauer finden hier Platz, und bei großen Spielen wird die Hütte auch voll. Dadurch, dass der Stellenwert des Ligapokals in Japan aber offensichtlich ähnlich groß ist wie in diversen europäischen Ländern, waren es heute nur 27.197 Besucher, darunter auch gut 3.000 Gäste aus der südwestlichen Vorstadt Kawasaki.
Bereits eine halbe Stunde vor dem Spielbeginn begannen beide Fanblöcke sich einzusingen. Obwohl sie von den aus der Heimat bekannten, nervigen Eurodance-Nummern beschallt wurden, waren sie akustisch sehr laut und ließen erahnen, dass hier stimmungstechnisch gleich die berühmte Post abgehen sollte. Und so war es dann auch: Nachdem zehn Minuten vor dem Spielbeginn die Musik abgeschaltet wurde, begann die große Show. Beide Fanblöcke lieferten sich Gesangduelle in einer enormen Lautstärke.
Das folgende Intro: Auf Urawa-Seite gab es eine etwa 50 Meter breite und 25 Meter hohe Blockfahne, welche die komplette Hintertortribüne bedeckte, untermalt von etlichen Schwenkfahnen. Die Blockfahne zeigte ein großes Herz mit der Nummer 12, welches den zwölften Mann von Urawa symbolisieren sollte. Auf Kawasaki-Seite gab es eine blockfüllende Papptafel-Choreografie in den Vereinsfarben Himmelblau und Schwarz, auf dem hellen Untergrund wurden in Schwarz japanische Schriftzeichen dargestellt, deren Bedeutung mir aber verborgen blieb.
Das Spiel an sich gestaltete sich sehr ausgeglichen. Wenn eine Mannschaft zunächst Vorteile hatte, dann Urawa. Kawasaki war aber ebenfalls stets gefährlich und konnte sich in der letzten Viertelstunde vor der Pause sogar Feldvorteile erspielen. Sportlich hatte dies hier durchaus Bundesliganiveau, was beweist, dass der Abstand zwischen den besseren Mannschaften der J League, zu denen beide heutigen Gegner gehören, und den großen Ligen der Welt zumindest nicht mehr so groß ist wie noch zu Zeiten des Neubeginns des japanischen Profifußballs vor gut zwanzig Jahren. Was die Partie aber erst richtig sehenswert machte, waren die Fans. Beide Anhängergruppen boten 90-minütigen Dauersupport. Urawa hatte dabei natürlich schon aufgrund der Mannstärke die akustischen Vorteile. Etwa 6.000 Leute bildeten den Fanblock, und außer einige wenige Hundert am Rande waren alle Leute auf der Hintertortribüne stets am Support beteiligt.
Einige der gesungenen Songs waren aus der Heimat bekannt, etliche andere zumindest youtube-Usern. Manche Lieder wurden minutenlang getragen, manche kamen kurz und laut auf den Punkt. Kurzum: Die Mischung stimmte, wenngleich ich über 90 Minuten das Gefühl hatte, dass hier eine Art Pflichtprogramm abgespult wurde, und bei ein paar Prozent mehr Leidenschaft hätte das hier den Sprung in die Top Ten meiner jemals gesehenen Spiele schaffen können. Während die Urawa-Fans ihr eigenes Ding durchzogen, orientierten sich die Leute aus Kawasaki dagegen sehr an Argentinien. Die von dort bekannten Bänder wurden durch den Block gezogen, ebenso gab es die typischen Trommeln und auch ein paar ebenfalls von youtube bekannte Nummern aus Südamerika wurden zum Besten geboten. Nur die Regenschirme und der Haschischgeruch in der Luft fehlten…
Während die Stimmung hier kurz vor und nach der Pause ihren Höhepunkt erreichte, war die Mitmachquote ansonsten bescheidener als auf der Gegenseite: Lediglich das untere Drittel beteiligte sich dauerhaft, der Rest stieg nur bei den bekanntesten Chants ein und bei im Dauersingsang zum Besten gegebenen Liedern, wenn sie vom Capo lange genug bepöbelt worden waren. Insgesamt zeigte sich aber auch bei Kawasaki das Bild, dass ich das Gefühl hatte, dass man das Pflichtprogramm zeigte, aber der letzte Funke Leidenschaft fehlte.
Aber wie ging die Partie eigentlich aus? Nachdem Kawasaki die Anfangsphase der zweiten Spielhälfte bestimmt hatte und die eine oder andere Großchance ausließ, besann sich Urawa ab der 70. Minute seiner Stärken. In Minute 76 dann die Erlösung, das 1:0 fiel und bei diesem Spielstand sollte es auch bleiben. Das Stadion feierte die Mannschaft in den Schlussminuten endlich mit so etwas wie echter Leidenschaft und bejubelte lautstark den Einzug ins Ligapokalfinale, wo man auf Kashiwa Reysol trifft. Beide Mannschaften verabschiedeten sich anschließend mit Verbeugungen von ihren Fans, und als ich beinahe das Stadion schon verlassen hatte, folgte dann doch noch ein emotionaler Höhepunkt. Der Fanblock stimmte ein Song nach der Melodie von Red Stewarts „Sailing“ an, den alle, wirklich alle noch gebliebenen Zuschauer aus vollster Kehle mitsangen. Die Mannschaft stand derweil Arm in Arm im Mittelkreis und lauschte ehrfürchtig. So wie mir wird es dabei sicherlich auch dem einen oder anderen Spieler gegangen sein: Ich hatte jetzt eine fette Gänsehaut.
Und dann? Begab ich mich zurück in Richtung Innenstadt und verbrachte die erste Nacht meines Lebens in einem typisch japanischen Kapselhotel. Welche aber sehr kurz war, denn bereits um 9 Uhr am nächsten Morgen musste ich das Haus verlassen, um zum nächsten Spiel zu fahren. Groundhopping muss eben manchmal wehtun…
Text & Fotos: Jörg Pochert