Stilles Gedenken und lautstarke Siegesfeiern in Hiroshima

JP Updated 30 Oktober 2013
hiroshima

HiroshimaNachdem ich bereits knapp zwei Wochen in Japan weilte, sollten nun zwei Tage folgen, denen ich mit höchst gemischten Gefühlen entgegen blickte. Sicherlich, das Fußballspiel Sanfrecce Hiroshima gegen Vegalta Sendai versprach eine gute Kulisse und ein hohe sportliches Niveau, würden hier doch der amtierende Meister und Vizemeister aufeinander treffen. Allerdings kommt man bei einem Besuch vor Ort natürlich nicht darum herum, ein paar Worte zur Geschichte der Stadt Hiroshima zu verlieren. Die südwestjapanische Millionenstadt wurde am 6. August 1945 Ziel des ersten Atombombenangriffs der Menschheitsgeschichte. Hiroshima wurde durch die US-amerikanische Regierung um Präsident Truman gezielt für den Abwurf ausgewählt, weil es vorher noch nicht durch konventionelle Bomben zerstört worden war und man somit anschließend die genauen Folgen der nuklearen Bombe auf Menschen, Tiere, Pflanzen und die Umgebung untersuchen können würde. 

HiroshimaAb 08:15 Uhr, als die aus dem Kampfflugzeug Enola Gay abgeworfene Bombe 600 Meter über der Stadt explodierte, änderte sich das Leben der Einwohner von Hiroshima, wie es krasser nicht hätte sein können. 90.000 Menschen fanden den sofortigen Tod, 210.000 starben an den Folgeschäden, Millionen hatten mit späteren Erkrankungen zu kämpfen. Alles im Umkreis von mehr als zwei Kilometern war dem Erdboden gleichgemacht. Es standen nur noch die Grundmauern weniger Gebäude und zwei Brücken. Doch was an jenem 8. August 1945 niemand zu glauben gewagt hätte, geschah. Die Bürger bauten Hiroshima wieder auf und heute erstrahlt die Stadt in alter, neuer Schönheit.

HiroshimaAls ich am Mittag des 25. Oktober in Hiroshima eintreffe, regnet es in Strömen. Doch sofort, nachdem ich mein Gepäck im Hotel abgestellt hatte, machte ich mich auf den Weg in den nur wenige hundert Meter entfernten Peace Park. Meine Jacke ist schnell durchnässt und meine Schuhe triefen bald vor Wasser. Aber Hiroshima ist nicht der Ort, an dem ich mich traue, mein persönliches Wohlbefinden höher zu priorisieren als den Besuch dieser Erinnerungsstätten. Als ich dem weltberühmten Xenotaphen, dem Mahnmal der Stadt Hiroshima für die Opfer der Atombombe, erstmals direkt gegenüberstehe, erreicht mich die erste Gänsehaut des Tages. Mein Hals ist trocken und meine Augen werden feucht. Hinter dem Rundbogen brennt die Friedensflamme, die 1952 entzündet wurde und so lange lodern wird, bis es auf der Welt keinerlei nukleare Waffen mehr gibt. Unmittelbar dahinter sieht man das Gerippe des Atombombendoms, dem ehemaligen Bauamt, in dessen Richtung ich mich bewege.

HiroshimaAuf dem Weg dorthin passiere ich das Denkmal für das Mädchen Sadako, dessen bewegende Geschichte um die Welt ging. Vom Krebs gezeichnet, wollte sie bis zu ihrem Tod eintausend Papierkraniche falten. Sie starb vorher, allerdings senden seitdem Millionen Menschen aus aller Welt ihre Papierkraniche nach Hiroshima. Tausende sind rund um das Denkmal in Vitrinen ausgestellt, angeordnet zu schönen Friedensmustern. Anschließend komme ich an der ebenfalls weltbekannten Friedensglocke vorbei, die ich einmal läute, trotz des nach wie vor starken Regens nehme ich meine Mütze dafür ab.

HiroshimaNach dem Besuch des Atombombendoms führt mich mein Weg ans Hypozentrum der Atombombe, direkt über der chirurgischen Shima-Klinik explodierte der Sprengkopf damals und ließ den Atompilz wachsen. Heute steht hier ein unscheinbarer Gedenkstein, den man passieren würde, wenn man nicht darauf achtet. Ich treffe hier ein britisches Ehepaar, wir tauschen uns aus und wünschen uns, dass unser Besuch hier seinen Sinn macht, und dass wir unseren Freunden und Familien von Hiroshima berichten. Als ich den beiden sage, dass ich mich in diesem Moment schäme, weil mein Land jenen Krieg begonnen hat, der letztlich zum Abwurf dieser Bombe gefühlt hat, meinen sie zu mir, dass ich keine Verantwortung trage, aber wir alle dafür sorgen kann, dass so etwas nie wieder geschieht. Erleichtert nehme ich die Handschläge und besten Wünsche entgegen, aber ein schwerer Gang steht mir noch bevor. Nämlich der ins Friedensgedächtnismuseum.

HiroshimaHier sehe ich noch einmal alles über die Atombombe, ihre Entwicklung und das, was sie in Hiroshima angerichtet hat. Ich sehe die Ausstellungsstücke, deren Bilder seit Jahrzehnten um die Welt gehen. Das Gerüst eines Dreirads, Schuhe von Opfern oder Steine, die durch die Hitze zu Lava wurden. Den tiefsten Eindruck bei mir hinterließ der Schattenstein. Ein Mann hatte offenbar auf der Treppe vor dem Bauamt gesessen und auf dessen Öffnung gewartet, als die Bombe explodierte. Die atomare Strahlung brannte sich in das Gestein. Nur an der Stelle, als der Mann saß, blieb ein leichter Schatten. Wer der Mann war, konnte nie geklärt werden. Aber seine Geschichte ging um die Welt. Erstmals mit ihr konfrontiert wurde ich übrigens im Jahre 1986, als ich das Puhdys-Lied „Hiroshima“ hörte. Die Geschichte des Mannes vom Schattenstein bewegte mich seitdem tief. Heute an genau seinem Stein zu stehen, sorgte in mir für ein unglaubliches Gefühl der Demut.

UhrNach etwa zwei Stunden verlasse ich das Museum. An deren Ausgang befindet sich übrigens eine Uhr mit zwei Tageszahlen. Die oberste Zahl zeigt die Anzahl der Tage, die seit der Hiroshima-Bombe vergangen es sind. Heute, am 25. Oktober 2013, ist es der 24917. Tag. Darunter sieht der Besucher, wie viele Tage seit dem letzten Atomtest vergangen sind. Diese Uhr weist gerade einmal die Zahl 163 auf. Anschließend begebe ich mich ins Hotel. Nicht nur, um meinem durchnässten Körper ein Bad zu gönnen und meine Klamotten zu trocknen. Sondern, um das Gesehene zu verarbeiten. Ich verlasse das Hotel heute nicht mehr. Nach dem angesagten Nachtleben der Stadt steht mir nicht der Sinn, ebenso wenig wie nach einem Restaurantbesuch. Den sich einstellenden Hunger und Durst bekämpfe ich lediglich mit ein paar schnellen Einkäufen aus einem benachbarten Konbini-Markt.

JapanAls ich am Samstag aufwachte, waren die Erlebnisse des Vortags zwar noch nicht vollständig verarbeitet, aber nach einem erneuten Gang durch den Peace Park besichtigte ich die Burg von Hiroshima, um anschließend mein Gepäck im Bahnhofsschließfach zu verstauen, in einem Restaurant zu Mittag zu essen und anschließend meinem Hobby zu frönen. Das J League-Spiel zwischen Sanfrecce Hiroshima und Vegalta Sendai stand auf dem Plan. Das 50.000 Zuschauer fassende Stadion „Big Arch“ liegt weiß außerhalb der Stadt. Zu erreichen ist es mittels Transferbus vom Bahnhof Yokogawa, anschließend sind es noch etwa zwanzig Minuten. Etwa zu einem Drittel war die gute und weitläufige Stube heute gefüllt, genau gesagt fanden sich 17.184 Besucher zum Spiel ein. Diese Zahl ist durchaus eine überdurchschnittliche in der höchsten japanischen Liga. Nur etwa 400 Fans aus Sendai waren dabei. Relativiert wird diese gering erscheinende Zahl allerdings durch den enttäuschenden Saisonverlauf von Vegalta (der amtierende Vizemeister steht aktuell nur auf Rang 8) und der großen Entfernung von mehr als 1.200 Kilometern.

HiroshimaDie Stimmung unter den Sanfrecce-Fans vor dem Spiel war euphorisch. Schließlich übernahmen die Lieblinge der Lila-Weißen am letzten Spieltag wieder die Tabellenführung. Und da die Saison im November endet, ist die Titelverteidigung in greifbarer Reichweite. Die Zuschauer läuteten das Spiel mit einer schönen Choreografie ein. In der Kurve und auf der Gegengerade wurden violette Papptafeln verteilt, die geschlossen in die Höhe gehalten wurden. Dazu gab es zwei Blockfahnen. Auf der Gegengerade wurde ein riesiges Sanfrecce-Trikot gezeigt. Im Fanblock gab es ein großes Banner mit einem weißen Stern zu sehen, darüber erschien noch eine weitere Fahne mit dem Clublogo. Nach dem Anstoß boten die Sanfrecce-Fans einen viertelstündigen, ununterbrochenen Dauersupport, bevor sich einige Lücken und Pausen in die Unterstützung einschlichen und sich die gesungenen Lieder fast nur noch wiederholten.

GästeNichtsdestotrotz war der Support ansprechend und deutlich mehr als das emotionslose Herunterspulen des Pflichtprogramms, was in mancher japanischen Kurve Alltag ist. Die 400 Fans aus Sendai, von denen sich etwa 100 zu einem Supportkern zusammengefunden hatten, waren akustisch natürlich chancenlos, so dass hier „nur“ spielbezogene Chants zu hören waren. Mit einigen Leuten mehr wäre es aber auch ein solider Auftritt geworden. Was auffiel, ist dass sich vom Erscheinungsbild her beide Kurven in Richtung Argentinien orientieren, wie so viele japanische Fangruppen. Zahlreiche Bänder in den Vereinsfarben wurden jeweils durch den Block gezogen, ebenso gab es immer wieder aus Südamerika bekannte Melodien zu hören. Ganz einig, welchen Stil man verfolgt, war man sich aber zumindest in der Sanfrecce-Fangemeinde nicht. Schließlich zierten auch einige englischsprachige Transparente den Zaun. Und sogar ein Banner mit der Aufschrift „Kampftrinker“ war hier zu finden. Spielerisch übrigens war die Veranstaltung genauso zäh wie – bis auf in der Anfangsviertelstunde – der Support.

KampftrinkerÜberraschenderweise hatte sogar der Außenseiter, der Gast aus Sendai, mehr vom Spiel. Jedoch gelang es den Gelb-Blau-Roten nicht, ihre optische Überlegenheit in Tore oder auch nur einhundertprozentige Tore umzumünzen. Im Gegenteil: Die beiden besten Chancen vor der Pause hatte Sanfrecce. Doch ein Freistoß ging hauchdünn am rechten Pfosten vorbei, und eine scharfe Flanke verpasste der einköpfbereite Stürmer nur um Zentimeter. Einige weitere im Ansatz gute Angriffe wurden vom Schiedsrichter unterbunden, der sich den Unmut der Zuschauer aufbürdete, insgesamt aber nicht schlecht oder gar parteiisch pfiff.

JapanNach der Pause übernahm Sanfrecce die Initiative. Der Druck, gewinnen zu müssen, war schließlich immens, denn bei einem Punktverlust konnten die Lila-Weißen bis auf Platz 3 zurückfallen, was im Meisterschaftsendspurt möglicherweise schon den entscheidenden Rückschlag bedeutet hätte. Vegalta ergab sich jedoch nicht kampflos. Weder auf dem Feld, noch auf den Rängen. Der akustischen Übermacht von Sanfrecce stellten sich die tapferen Krieger in Gelb immer wieder entgegen und zogen ihr Ding durch. Und es schien lange so, dass die Bemühungen der Gästefans und –spieler von Erfolg gekrönt sein würden, denn sie hielten das 0:0. Aber nur bis zur 84. Minute. Dann brach Naoki Ishihara rechts durch und schob in die lange Ecke zum 1:0 ein. Der Treffer wurde natürlich orkanartig bejubelt, und Sanfrecce ließ sich die Butter anschließend nicht mehr vom Brot nehmen und verteidigte die Tabellenführung. Anschließend feierten Mannschaft und Fans zusammen. Nach der Ehrenrunde des Teams verschwanden die Spieler in den Katakomben, bis einige von ihnen aber plötzlich unterhalb des Fanblocks wieder auftauchten – zum Teil in Helloween-Kostümen. Etliche Lieder wurden nun noch gemeinsam mit der Tribüne angestimmt, ebenso ging das Megaphon noch einmal im Spielerkreis herum, so dass jeder Kicker noch ein paar persönliche Worte an die Fans richten konnte, bevor es eine Polonaise zusammen mit den Maskottchen gab. Es gibt durchaus Methoden, eine Tabellenführung weniger zünftig zu feiern!

HiroshimaFür mich hieß es anschließend, Abschied von Hiroshima zu nehmen. Dank der Siegesfeiern, die ich aber unbedingt miterleben musste, eh schon verspätet, konnte ich mir meinen Zug nach Tokio schon vor den Stadiontoren abschminken, denn an der Warteschlange für die Shuttlebusse nach Yokogawa standen bestimmt 2.000 Menschen. Meinen Respekt erhielten die Veranstalter dafür, dass man dennoch nach etwa zwanzig Minuten an der Reihe war. Dank des nach einem Spiel dieser Größenordnung üblichen Staus erreichte ich Yokogawa allerdings erst um 19:08 Uhr, exakt zu dieser Zeit verließ mein Zug den Hauptbahnhof, zu dem ich aber erst noch gelangen musste. Also blieb mir nichts anderes übrig, als ein Taxi zu nehmen. Nach einem abermaligen Stau brach mein Fahrer sämtliche Tempolimits, um mich schnell ans Ziel zu bringen.

Nach dem Abholen meines Gepäcks stand ich schließlich um 19:30 Uhr am Bahnsteig, exakt zwei Minuten vor der Abfahrt des letzten Zuges des Tages in die Hauptstadt. Da dies ein Super-Express-Shinkansen sein würde, der für die 894 Kilometer von Hiroshima in die Hauptstadt nur 3:42h braucht, konnte ich diesen leider mit meinem Railpass nicht nutzen und wäre normalerweise um 17.540 Yen ärmer geworden, etwa 130 Euro. Aber während der gesamten Strecke wurde nicht ein einziges Mal kontrolliert, so dass sich meine Reisekasse über ein nicht erwartetes Plus freute und mich der komplette Hiroshima-Ausflug – inklusive Hotelübernachtung – nur etwa 11.000 Yen gekostet hatte. Was angesichts der Erlebnisse der letzten anderthalb Tage verdammt wenig ist…

Fotos: Jörg Pochert

> zur turus-Fotostrecke: Fußball in Japan

 

Artikel wurde veröffentlicht am
29 Oktober 2013
Spielergebnis:
1:0
Zuschauerzahl:
17.184
Gästefans
400

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